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"Je länger der Krieg, desto mehr muss Putins Umfeld Loyalität beweisen"

Bild: Дмитрий Осипенко auf Pixabay

Das System Putin ist am Ende, meint der russische Journalist Andrej Perzew. Aber anders als vom Westen erhofft: Putin entscheidet zunehmend allein. Warum er im Kreml unangefochten bleibt. Das Interview.

Der Journalist Andrej Perzew ist Sonderkorrespondent der exilrussischen Zeitung Meduza [1] und bekannt für seine direkten Kontakte in den russischen Machtapparat. Weiterhin ist er Gastexperte beim Carnegie Endowment for International Peace in Moskau. Hier spricht er über das System Putin.

Sie haben geschrieben, dass 2022 der "kollektive Putin" gestorben sei, weil nur noch er allein Entscheidungen treffe und sich nicht mehr vorher mit seinen inneren Zirkeln, auch nicht mit dem Geheimdienst FSB, abspreche. Heißt das auch, dass etwa direkte Kriegsentscheidungen, in deren Folge auch Wohnhäuser getroffen werden, von Putin selbst kommen?
Andrej Perzew
Andrej Perzew: Ich glaube, dass die Raketenangriffe auf Wohnhäuser schon mehr auf dem Gewissen der militärischen Führung lasten, angefangen bei General Sergej Surowikin, dem bisherigen Befehlshaber der sogenannten "Speziellen Militärischen Operationen". Das ist sein Stil der Kriegsführung und das war er auch in Syrien.
Von Putins engstem Kreis wissen wir, dass er ihn vor dem Krieg bei einer Reihe von Entscheidungen konsultiert hat. Auch bei Entscheidungen, die sich später als falsch herausstellten, wie Russlands Rückzug aus dem OPEC+-Abkommen im März 2020. Jetzt gibt es nichts Vergleichbares. Jetzt konsultiert er niemanden mehr, weshalb ich diese Situation als "Tod des kollektiven Putin" bezeichnet habe. Ich glaube, er hat seinem inneren Kreis vor Kriegsbeginn vertraut, als man ihm dort sagte, die russische Armee werde in der Ukraine mit Blumen begrüßt. Das passte einfach in sein Weltbild.
Jetzt sehen wir in Putin einen Mann, der sich nur noch auf sich selbst verlässt. Woher er unter anderem die Information hat, dass "99,9 Prozent der Russen bereit sind, alles im Interesse des Vaterlandes zu tun", wie er im Dezember 2022 sagte, ist unklar.
Gleichzeitig hat in den elf Monaten des Krieges niemand aus Putins Umgebung oder der russischen Elite ihn kritisiert, etwa wegen des in der Ukraine angezettelten Krieges. Warum ist das so?
Andrej Perzew: Putins Umgebung ist sehr heterogen. Es gibt mehrere Gruppen. Da sind zum einen die Leute aus den Sicherheitsdiensten, die ein eher geringes politisches Verständnis haben, der Propaganda ausgesetzt sind und unter den westlichen Sanktionen leiden. Die glauben wirklich, dass der russische Präsident alles richtig macht. Die zweite Gruppe sind Karrieristen, Leute, die den Krieg vielleicht nicht gutheißen, aber ohne Bekenntnis zum Krieg die Karriereleiter nicht erklimmen können. Deshalb greifen sie zu demonstrativer Loyalität. Die dritte Gruppe sind diejenigen, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind, die durch ihn persönliche Verluste erleiden. Aber auch sie schweigen, und der Hauptgrund ist hier meiner Meinung nach Angst.
Seit Beginn des Krieges hört und sieht man wenig von denen, die man in Putins Umfeld gemeinhin als Technokraten bezeichnet. Vor allem von Premierminister Michail Mischustin, eigentlich die Nummer 2 in Russland, oder Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. Bedeutet das, dass sie bereits von Hardlinern wie Jewgeni Prigoschin verdrängt wurden?
Andrej Perzew: Im Moment würde ich die Technokraten nicht vernachlässigen. Am Anfang haben sie versucht, alles zu vermeiden, was mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat. Je länger der Krieg dauert, desto weniger können sie schweigen, auch sie müssen Loyalität zeigen. Wir sehen zum Beispiel, dass derselbe Premierminister Mischustin und auch Bürgermeister Sobjanin kürzlich Journalisten der staatlichen Medien ausgezeichnet haben, die über den Krieg in der Ukraine berichtet haben. Sobjanin hat auch selbst im Dezember die Zone der "militärischen Sonderoperation" besucht.
Aber ich würde das alles eher als rituelle Handlungen sehen, als Loyalitätsbekundungen von Technokraten. Nicht als eine wirkliche Beteiligung oder Unterstützung des Einmarsches in die Ukraine.
Sie haben auch geschrieben, Putin habe mit dem Kriegsausbruch endgültig das Interesse an der Innenpolitik verloren. Andererseits gibt es Berichte, dass im Kreml bereits die Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen 2024 beginnen. Ist das für den Kremlchef nicht wichtig?
Andrej Perzew: Die Wahlvorbereitungen für 2024 in Putins Umfeld befinden sich derzeit noch in der Diskussionsphase, die etwa seit Herbst letzten Jahres läuft. Aber auch dieses Umfeld weiß nicht, welche Ideologie bis dahin vorherrschen und was bis dahin mit dem Land passieren wird. Soweit ich informiert bin, hat es in der Präsidialadministration noch keine Besprechungen zu diesem Thema gegeben.
Einerseits nimmt Putin gerne an Wahlen teil, wo er die Unterstützung der Bevölkerung erhält. Als er zum Beispiel 2020 die Verfassung reformierte, hätten alle Änderungen von der Staatsduma abgesegnet werden können. Dem Kremlchef war aber eine landesweite Abstimmung wichtig.

Massenproteste nicht ausgeschlossen

Besteht bei solchen Wahlen nicht ein Risiko für Putin? Ich denke da an die Protestwahl 2020 in Weißrussland, als es in den Städten eine Mehrheit gegen den langjährigen Diktator Alexander Lukaschenko gab?
Andrej Perzew: Da sehe ich kein ernsthaftes Risiko für Putin. Die elektronische Stimmabgabe ist in vielen Regionen sehr verbreitet. Da kann der Kreml einfach manipulieren. Erinnern wir uns an den September 2021, als die Oppositionskandidaten in vielen Wahllokalen gewannen, aber die Ergebnisse der elektronischen Stimmabgabe sie den Sieg kosteten. Gewonnen haben immer die Kandidaten der Kremlpartei "Einiges Russland". Bei der elektronischen Stimmabgabe kann sich Putin 90 Prozent aller Stimmen sichern.
Auch in Weißrussland gab es Manipulationen, die zu beispiellosen landesweiten Protesten führten. Ist Ähnliches nicht auch in Russland zu erwarten, wenn sich Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufbaut? Zum Beispiel wegen einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage?
Andrej Perzew: Ich schließe die Möglichkeit von Massenprotesten nicht aus. Wir erinnern uns an den Sommer 2020 in der Region Chabarowsk, als der beliebte Gouverneur Sergej Frugal verhaftet wurde und die Massen auf die Straße gingen.
Putin hat in den Grenzgebieten zur Ukraine viele Kompetenzen an die Regionen delegiert. Gewinnen die lokalen Behörden dadurch an Macht? Können sie sich gegen die Politik des Kreml durchsetzen?
Andrej Perzew: Bei dieser Stärkung geht es mehr um Verantwortung als um Rechte. Ich glaube nicht, dass das ihr politisches Gewicht erhöht hat. Es hat eher Probleme geschaffen. Und Gouverneure und andere Regionalpolitiker werden in den meisten Fällen von Moskau eingesetzt. Sie haben keinen wirklichen Rückhalt in der Bevölkerung.
Sie sagten als Resümee für 2022, es gebe noch Hoffnung auf einen Zusammenbruch des Systems Putin. Was könnte der Auslöser dafür sein? Interne Querelen oder eine militärische Niederlage von außen?
Andrej Perzew: Ich denke, primär durch eine interne Gegenbewegung. Es gibt weniger Geld, ein Verteilungskampf beginnt. Die Unzufriedenheit wächst und Konflikte innerhalb der Eliten können die Folge sein. Vor allem, wenn nach Schuldigen gesucht wird.
Russischsprachige Leser kennen Sie wegen Ihrer Exklusivberichte aus den inneren Kreisen des Kremls. Ist dieser Kreis seit Kriegsbeginn nicht sehr verschlossen? Oder gibt es nach wie vor viele undichte Stellen als Quellen für Sie?
Andrej Perzew: Mit Beginn des Krieges ist die Kommunikation sicherlich schwieriger geworden. Trotzdem gibt es aus dem Umfeld von Putin nach wie vor Initiatoren von Leaks, die es in die Medien schaffen. Das Problem ist, dass diese Leute oft ihre Meinung ändern. Am Anfang haben viele an den Krieg geglaubt und sich um Putin geschart. Aber als die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten, änderte sich die Stimmung dramatisch.
Negativ fällt diesen Leuten auch auf, wie unwissend Putin selbst über das Geschehen an der Front ist. Oder seine Überzeugung, dass in Europa ohne russisches Gas alle frieren und verhungern würden. Da sie die Situation aber nicht mehr beeinflussen können, teilen sie ihre verborgenen Gedanken verdeckt über die Medien mit.
Inwiefern ist es technisch schwieriger geworden, mit Vertretern aus Putins Umfeld zu kommunizieren? Nutzen sie keine Messenger wie WhatsApp oder Telegram mehr?
Andrej Perzew: Die Kommunikation ist wirklich schwieriger geworden. Sie weichen jetzt wirklich auf andere Kommunikationswege aus, auf alternative Messenger oder geheime Chats.

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