Jeder ist Chefredakteur
Weblogs sind in
Wenn handfeste Konservative öfter Weblogs läsen, wären sie bald ein Standardthema an den Stammtischen der Republik: So schlecht könne es den Leuten ja wohl kaum gehen, wenn sie den ganzen Tag Zeit hätten, im Internet öffentlich Tagebuch zu führen. Die ganzen Sozialschmarotzer wahrscheinlich. Unsereins muss jedenfalls arbeiten. Oder Bier trinken.
Es ist in der Tat erstaunlich, wie populär die Weblogs geworden sind. Was laut Christian Science Monitor um 1997 mit ein paar Dutzend Sites begann, hat sich in ein Massenphänomen verwandelt, in eine virtuelle Graswurzelbewegung, und bis jetzt scheint die große kommerzielle Verwertung des Trends ausgeblieben zu sein, obwohl sie kaum noch lange auf sich warten lassen kann.
Es wäre allzu einfach, den Weblog-Boom allein durch modische Nachahmungseffekte zu erklären. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Blog-Communities vergrößern - zusammen mit der durchaus beachtlichen Qualität mancher Blogs - legen eher die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine Idee handelt, deren Zeit gekommen ist. Was aber macht sie so attraktiv?
Zum einen stellen die Blogs eine aktualisierte Form der Internet-Utopie insgesamt dar. Jeder kann, jeder darf - und es kostet fast nichts. Natürlich befeuert auch die passende Software die Explosion des Mediums, die seine Nutzung (fast) zu einem Kinderspiel macht: Um ein Weblog bei den populären Communities (z.B. Blogger und Antville zu führen, muss man fast keine Ahnung von Webseitengestaltung, ftp-clients und all dem anderen Plunder haben, der zu der seltsamen Tatsache führt, dass so viele private Websites eigentlich keinen anderen Inhalt haben als "Das bin ich und das ist mein Dackel". Um ein Weblog zu pflegen, braucht man nichts weiter als einen Internetzugang und einen Browser. Erleichterte Echtzeitkommunikation ist eine der Trumpfkarten des Mediums.
Und Weblogs werden wahrgenommen. Nicht nur von den anderen Bloggern in der Nachbarschaft, sondern auch von Suchmaschinen wie Google, was zum Beispiel dazu führt, dass sich manche Blogger Wettbewerbe um das höchste Suchmaschinen-Ranking liefern.
Aber das ist natürlich nicht alles. Der Weblog-Journalismus gibt den Nutzern die Möglichkeit, ihre eigenen Chefredakteure beim täglichen Zusammenstellen ihrer eigenen Zeitung zu sein. Für viele, die sich ohnehin vom politischen, medialen, sozialen oder künstlerischen Diskurs ausgeschlossen fühlen, ist das eine unwiderstehliche Versuchung. Die ganze Welt beschäftigt sich mit der Frage, ob Gerhard Schröders Haare gefärbt sind oder nicht? Mir doch egal, ich erzähle der ganzen Welt von meinen surrealen Erlebnissen im Supermarkt an der Ecke, von meinen politischen Belangen oder auch meinem letzten Urlaub. Wer das nicht lesen will, soll es eben bleiben lassen. Und wer meine Stories kommentiert, kann das gerne tun, aber ich bestimme, welche Kommentare bleiben und welche nicht. "We media" oder "Journalism 3.0" nennt das Dan Gillmor von den San Jose Mercury News.
Erstaunlich viele wollen nicht nur lesen, sondern auch schreiben. Die Neuzusammenführung von Technologien, die bisher getrennt im Internet schon existierten, deren Synergiepotenzial aber kaum erkannt wurde, hat eine neue Form von Empowerment für aktive Medienbenutzer ermöglicht. In seinen besseren Momenten wirkt der vielstimmige Chor der Blogger wie ein Beispiel für das, was Negri und Hardt in "Empire" als "multitude" bezeichnen (Es rappelt im Emperium). Speakers's Corner in digital Hyde Park - mit dem Unterschied, dass man als Redner nicht von Zwischenrufern gestört oder gar niedergebrüllt werden kann. Weblogs bieten Geschwindigkeit und die Möglichkeit zur selbstverantworteten Souveränität, was sie zu einem mächtigen Mittel der privaten Meinungsäußerung im öffentlichen Raum machen kann.
Das musste neuerdings auch der Suhrkamp-Verlag erfahren, als seine Anwälte den Schockwellenreiter-Blog von Jörg Kantel kostenpflichtig abmahnen wollten, weil er einen Link zu dem im Netz kursierenden Text von Martin Walsers "Tod eines Kritikers" in seinem Weblog veröffentlicht hatte. Boykottaufrufe und eine Woge ätzenden Spotts in der Blogger-Szene waren die Folge, und die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Der Verlag zog die Abmahnung zurück.
Doch die Medien werden aufmerksam, die Kommerzialisierung ist nur noch ein Frage der Zeit, weil die wirklich werbefreien und kostenlosen Communities auf Selbstausbeutung beruhen, und die ersten Aktiven denken an den Abbruch der Zelte. Die Karawane wird also weiterziehen. Die nächste Oase lockt schon.