Jeffrey Sachs: "Ständige Kriegstreiberei muss beendet werden"
Jeffrey Sachs, 2019. Bild: WTO/Jay Louvion, CC BY-SA 2.0
US-Ökonom verweist auf Dominanz der USA. Probleme der Welt nicht hinreichend berücksichtigt, meint Sachs. Wie er seine Kritik beim Pre-COP28-Gipfel in Abu Dhabi begründete.
Der US-Ökonom Jeffrey Sachs hat sich wiederholt für eine politische Verhandlungslösung im Konflikt zwischen Israel und der Hamas [1] ausgesprochen. Am 6. November sprach er bei Pre-COP28-Gipfel in Abu Dhabi [2] vor Vertretern von Kirchen und religiösen Gruppen.
Das Treffen fand in Vorbereitung der 28. Weltklima-Konferenz (COP28) statt, die zwischen dem 30. November bis und dem 12. Dezember in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) ausgerichtet wird.
Jeffrey D. Sachs ist ein US-Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Columbia Universität in New York und Direktor des dortigen Center for Sustainable Development (deutsch: Zentrum für nachhaltige Entwicklung).
Auch steht er dem UN-Sustainable-Development-Solutions-Network (deutsch: UN-Netzwerk für nachhaltige Entwicklung) vor. Er war Berater von drei UN-Generalsekretären und ist derzeit als Anwalt für die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UNO unter Generalsekretär António Guterres tätig.
Sachs: "Räume für Dialog und Konfliktlösung schaffen"
Die größte Herausforderung der Menschheit ist die Frage, wie wir auf unserem überbevölkerten und vernetzten Planeten friedlich und nachhaltig leben können.
An dieser Herausforderung scheitern wir derzeit. Kriege haben die Welt in Brand gesetzt. Die Umweltzerstörung durch den Menschen beschleunigt sich. Die Erde ist heute so warm wie seit 125.000 Jahren nicht mehr.
Ich gebe den Politikern die Schuld an dieser Entwicklung, vor allem den Politikern der reichen und mächtigen Staaten.
Gerade in diesen Tagen, in denen sich die Staats- und Regierungschefs der Welt im Vorfeld der COP28 mit der Klimakrise beschäftigen sollten, sind wir stattdessen in einen verheerenden Krieg im Nahen Osten verstrickt.
Die israelische Regierung hat bereits 10.000 unschuldige Zivilisten in Gaza getötet und ignoriert dennoch die weltweiten Aufrufe zu einem Waffenstillstand. Israel begeht Kriegsverbrechen, belagert Gaza, bombardiert Krankenhäuser, Krankenwagen, Schulen und Wohnviertel und richtet ein Blutbad an.
Die US-Regierung ihrerseits hat ihr Veto gegen die Forderungen des UN-Sicherheitsrates und der UN-Generalversammlung nach einem Waffenstillstand in Gaza eingelegt und damit Israels zerstörerisches Vorgehen verlängert.
Ferner setzen die USA auch angesichts des aktuellen Krieges in Gaza ihren rücksichtslosen Versuch fort, die Osterweiterung der Nato um die Ukraine trotz der Proteste Russlands durchzusetzen. Das Ergebnis ist ein andauernder Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, der die Ukraine vollständig zerstören wird.
Die Politiker der mächtigen Nationen, insbesondere meines eigenen Landes, haben uns in Kriege verwickelt, die die Menschen nicht wollen, und sie haben Maßnahmen gegen den Klimawandel so lange hinausgezögert, dass er unser Überleben bedroht.
Sie haben die Bemühungen von Milliarden von Menschen durch fortgesetzte Korruption zunichtegemacht.
Warum tun sie das? Die Antworten auf diese Frage sind so alt wie aktuell.
Die vier Todsünden der Reichen und Mächtigen
Die erste Sünde ist Arroganz. Netanyahu glaubt, dass er, und nur er, über Leben und Tod in Gaza entscheiden kann. Er glaubt, mit niemandem verhandeln zu müssen, schon gar nicht mit den Palästinensern. Er hat einen völlig falschen Weg zu wirklicher Sicherheit für Israel eingeschlagen, der durch Gerechtigkeit und nicht durch Krieg führt.
Die zweite Sünde ist Habgier. In vielen unserer Kriege geht es um das Streben nach Profit, aber Kriege zerstören weit mehr Reichtümer, als durch Eroberung jemals angehäuft werden könnten.
Die dritte Sünde ist Korruption. Die Kampagnen der US-Kongressabgeordneten werden von der US-Kriegsmaschinerie finanziert, d.h. von riesigen Konzernen, die Hunderte von Milliarden US-Dollar mit Waffenverkäufen umsetzen, für die Krieg ein Geschäft ist und für die Wahlkampfspenden ein Mittel sind, um weitere Kriege zu fördern.
Und die vierte Sünde ist die Irrlehre. Politiker hören auf falsche Propheten, die ihre Nation zum natürlichen Herrscher über andere erheben. Wer hat Präsident Biden gesagt, die USA seien das "unverzichtbare" Land? Das ist mitnichten so..
Die USA sind eine von 193 Nationen. Die Vereinigten Staaten machen nur 4,1 Prozent der Weltbevölkerung aus. Die Welt braucht die USA nicht als Führungsmacht. Die Welt braucht die friedliche Zusammenarbeit der USA mit anderen Ländern.
Ich bin seit über 40 Jahren in der Politikberatung tätig. Ich kann Ihnen die nackte Wahrheit sagen. Die reichen und mächtigen Nationen glauben, dass sie die Welt durch Betrug beherrschen können.
Regime-Change-Operationen der USA
Die USA haben Dutzende von verdeckten Operationen durchgeführt, um Regierungen anderer Länder zu destabilisieren und zu stürzen, darunter 64 gut dokumentierte Fälle von verdeckten Regime-Change-Operationen allein zwischen 1947 und 1989.
In den letzten 20 Jahren haben die USA Regierungen in Afghanistan, Haiti, Irak, Libyen und der Ukraine gestürzt, um nur einige zu nennen. Im Jahr 2011 wies Präsident Barack Obama die CIA an, Baschar al-Assad zu stürzen, was zu einem langwierigen Krieg in Syrien führte, in dem eine halbe Million Menschen getötet wurden.
Diese ständige Kriegstreiberei muss beendet werden.
Wir müssen auf Jesaja hören und Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Mit den heutigen Technologien ist unsere Landwirtschaft leistungsfähig genug, um den Hunger in der Welt zu beenden, die gesamte Menschheit zu ernähren und die Umwelt zu schützen.
Der Krieg in Gaza muss sofort beendet werden, bevor Israel ein noch größeres Blutbad anrichtet und wir uns in einem regionalen Krieg wiederfinden. Israel kann seine wirkliche Sicherheit durch Frieden mit Palästina erreichen, und nur durch Frieden mit Palästina.
Wenn Palästina in seinem eigenen Staat sicher ist, mit seiner Hauptstadt in Ost-Jerusalem und mit der Kontrolle über die heiligen Stätten der Muslime, dann wird auch Israel Sicherheit und Frieden finden, und die Vision des Jesaja wird wahr werden.
Der Krieg in der Ukraine kann und wird enden, wenn die USA endlich aufhören, die Nato auf die Ukraine auszudehnen, und stattdessen direkt mit Russland über die drängenden Fragen der gegenseitigen Sicherheit sprechen, einschließlich einer erneuerten Diplomatie über nukleare Abrüstung.
Trotz der Sünden der Reichen und Mächtigen gibt es Hoffnung auf Frieden. Ja, es gibt Hoffnung. Und jeder von Euch ist Teil dieser Hoffnung.
Die Weltöffentlichkeit ruft mit überwältigender Mehrheit nach Frieden. (…)
Die UN-Mitgliedsstaaten fordern mit überwältigender Mehrheit Frieden, obwohl Israel und die USA die Forderungen der großen Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten nach einem Waffenstillstand und einer Zweistaatenlösung im israelisch-palästinensischen Konflikt bisher ignoriert haben.
Wenn der Rest der Welt für den Frieden zusammensteht, und das tut er, dann müssen die USA und Israel auf den Ruf der Menschheit hören und ihm folgen.
In seiner jüngsten Botschaft an die Welt vor der COP28, Laudate Deu [3]m, ruft Papst Franziskus zu einem neuen Multilateralismus auf, damit die Stimmen der ganzen Welt gehört werden und dem Betrug der Mächtigen Einhalt geboten wird.
Der Heilige Vater schreibt: "Unsere Welt ist so multipolar und gleichzeitig so komplex geworden, dass ein anderer Rahmen für eine wirksame Zusammenarbeit gefunden werden muss ..."
All dies setzt die Entwicklung eines neuen Verfahrens zur Entscheidungsfindung und zur Legitimierung dieser Entscheidungen voraus, da das vor einigen Jahrzehnten eingeführte Verfahren nicht mehr ausreicht und nicht mehr wirksam erscheint.
In diesem Rahmen müssen unbedingt Räume für Dialog, Konsultation, Schlichtung, Konfliktlösung und Überprüfung geschaffen werden, und schließlich eine Art verstärkte "Demokratisierung" im globalen Kontext, damit die unterschiedlichen Situationen zum Ausdruck gebracht und berücksichtigt werden können.
Ein ehrlicher Dialog muss beginnen
Lassen Sie uns deshalb hier in Abu Dhabi zu einem neuen und ehrlichen Dialog zwischen Arm und Reich, Mächtigen und Machtlosen, großen und kleinen Nationen aufrufen. Sagen wir Nein zum Krieg, Ja zum Frieden und Ja zum Überleben der Erde.
Lassen Sie uns den neuen Dialog heute beginnen, hier in dieser Versammlung der Religionsführer und in den Räumen der Vereinten Nationen, der Heimat von uns allen, den Völkern, und der großen Hoffnung der Menschheit auf eine multilaterale Welt und einen nachhaltigen Planeten.
Sagen wir den Staats- und Regierungschefs der Welt klar und unmissverständlich "Ihr müsst eure Aufgabe erfüllen, um das Gemeinwohl zu fördern. Ihr müsst eure Arroganz, Gier, Korruption und Irrlehren ablegen. Euer gegenwärtiger Ansatz funktioniert nicht, also ändert euch".
Lassen Sie uns auch eines klarstellen: Es gibt nicht das eine unverzichtbare Land. Es gibt nur eine unverzichtbare Gerechtigkeit. Und für die Gerechtigkeit sind alle Länder unverzichtbar.
Übersetzung: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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[1] https://www.telepolis.de/features/Wie-Israel-in-die-Anti-Terror-Falle-der-Hamas-getappt-ist-9353949.html
[2] https://www.cop28.com/en/
[3]
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