Jelzins Sturm auf das Weiße Haus
Vor 25 Jahre starben hunderte Menschen in den Straßenkämpfen Moskaus und dem Beschuss des russischen Parlaments. Das National Security Archiv veröffentlicht hierzu Dokumente der US-Regierung
Die Verfassungskrise von 1993, die zu Straßenschlachten in Moskau und dem Befehl des Präsidenten Boris Jelzin führte, Panzer auf das Parlament des russischen Staates schießen zu lassen, ist ein Ereignis, das im Westen erstaunlich wenig bekannt ist, während es in Russland eine gravierende Zäsur in der eigenen Geschichte bildet. Die offiziellen Opferzahlen belaufen sich auf 187 Tote sowie 437 Verletzte. Inoffizielle Angaben liegen deutlich höher. Das National Security Archiv der George Washington Universität (Washington) hat nun eine Reihe von Dokumenten der US-Regierung veröffentlicht, die ein schärferes Licht auf die Rolle der USA in der größten Staatskrise Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion werfen.
Die Geschichte beginnt mit einem Schock. Im Verlauf des Jahres 1990 hatte sich der Jubel über die Deutsche Wiedervereinigung in der Welt und die Dankbarkeit für den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow schon etwas gelegt. Gorbatschow stand hingegen vor einem Land, das wirtschaftlich in die Knie ging und sich auflöste. In dieser Lage veröffentlichte "The Economist" am 22. Dezember 1990 einen Wirtschaftsrat an die Sowjetunion und forderte den sowjetischen Präsidenten auf, als "starker Mann" zu regieren und "den Widerstand zu zerschlagen, der eine ernsthafte Wirtschaftsreform blockiert". Ein Kapitel des Artikels war sogar mit "Michail Sergejewitsch Pinochet?" überschrieben. Dort ahnte der Autor, dass eine Durchsetzung der gewünschten Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion "möglicherweise Blutvergießen" bedeuten würde.
Als Gorbatschow im Juli 1991 zum G7-Treffen eintraf, erwartete ihn kein Marshallplan und auch keine Wirtschaftshilfe, sondern es gab konkrete Forderungen. Erst wenn die Sowjetunion bewiesen hätte, dass sie es mit ihren Wirtschaftsreformen ernst meine, würden die USA Wirtschaftskredite gewähren, so die kompromisslose Haltung des US-Präsident George Bush Sr., die die anderen G7-Chefs teilten. Später schrieb Gorbatschow über den Gipfel: "Ihre Vorschläge für das Tempo und die Methoden des Übergangs waren erstaunlich."
Ohne Wissen des sowjetischen Präsidenten erklärten dann am 8. Dezember 1991 Boris Jelzin, Präsident der Teilrepublik Russland, und seine Amtskollegen aus der Ukraine und Weißrussland die Auflösung der Sowjetunion. Diese wurde am 22. Dezember tatsächlich vollzogen.
Die Wirtschaftsreformer um den Harvard-Ökonomen Jeffrey Sachs warteten nur eine Woche, bis sie ihr wirtschaftliches Schocktherapieprogramm unter der Regierung Jelzins starteten. Es sah neben einer Freihandelspolitik auch die erste Phase einer schnellen Privatisierung von rund 225.000 Staats-Unternehmen vor.
Ein Schock zeigt Wirkung
Ende 1991 machte der russisch Präsident Jelzin dem Parlament den Vorschlag, ihm ein Jahr lang Sonderbefugnisse einzuräumen, damit er Gesetze dekretieren lassen konnte, ohne diese im Parlament abstimmen lassen zu müssen. Innerhalb von "sechs bis acht Monaten" wäre die Wirtschaftskrise überwunden.
Jelzin sollte sich täuschen.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, der zu dieser Zeit als Chefökonom an der Weltbank arbeitete, beschrieb später die Folgen der Schocktherapie: "Die sofortige Freigabe der Preise löste erwartungsgemäß Hyperinflation aus. In der Ukraine stiegen die Preise um 3300 Prozent jährlich. Mit restriktiver Geld- und Kreditpolitik (hohen Zinsen bei geringem Kreditangebot) und fiskalischer Austerität (eiserne Sparpolitik der öffentlichen Hand) wollte man die Hyperinflation bekämpfen, tatsächlich würgte man damit auch die Wirtschaft ab, die daraufhin in eine tiefe Rezession und Depression abglitt. Unterdessen wurde Volksvermögen im Wert von Hunderten von Milliarden Dollar verscherbelt, mit der Folge, dass eine neue Klasse von Oligarchen entstand."
Darüber hinaus verringerte sich von 1991 bis 1994 die Lebenserwartung in Russland um fünf Jahre. Mit 57 Jahren war die durchschnittliche Lebenserwartung die niedrigste in allen Industriestaaten. Die Sachbuchautorin Naomi Klein beschreibt: "Nach nur einem Jahr hatte die Schocktherapie einen verheerenden Tribut gefordert: Millionen Russen aus der Mittelschicht hatten mit der Wertminderung des Rubels ihre Lebensersparnisse verloren, und aufgrund abrupter Subventionskürzungen erhielten Millionen von Arbeitern monatelang keinen Lohn. Der durchschnittliche Russe konsumierte 1992 40 Prozent weniger als 1991, und ein Drittel der Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze ab."
Aber nicht alle Menschen litten unter der Situation. Naomi Klein zitiert das "Wall Street Journal": "Suchen Sie nach einer Investitionsmöglichkeit, die in drei Jahren 2000 Prozent abwerfen kann? Nur ein Aktienmarkt bietet diese Aussicht - Russland."
Den meisten Russen blieb neben der Armut nur der Humor. So lautet ein bekannter Witz: "Alles, was die Sowjets uns über den Kommunismus erzählt haben, war eine Lüge. Was sie uns über den Kapitalismus erzählt haben, war aber leider alles wahr." Oder: "Was hat Jelzin in einem Jahr erreicht, was früherer Präsidenten der Sowjetunion in 70 Jahren nicht geschafft haben? Er lässt den Kommunismus gut aussehen."
Kooperation unter Freunden
Das gute Verhältnis und die enge Kooperation zwischen dem russischen und dem neuen US-amerikanischen Präsidenten ist aus heutiger Perspektive beeindruckend. Kurz nach seinem Amtsantritt rief Bill Clinton Bors Jelzin an. Clinton stellte seine außenpolitischen Zielsetzungen dar und betonte, dass "Russland während meiner Amtszeit eine der obersten Prioritäten der US-Außenpolitik sein" würde. Er sei entschlossen, "eine möglichst enge Partnerschaft zwischen den USA und Russland aufzubauen" und "alles zu tun, was in unserer Macht steht, um die demokratischen Reformen Russlands zum Erfolg zu führen."
Auch bei ihrem ersten Gipfel im April 1993 klang es brüderlich. Clinton betonte: "Herr Präsident, unsere Nation wird nicht am Rande stehen, wenn es um die Demokratie in Russland geht. Wir wissen, wo wir stehen. Wir sind mit der russischen Demokratie. Wir sind mit den russischen Reformen. Wir sind mit den russischen Märkten. Wir unterstützen die Gewissensfreiheit, die Meinungs- und Religionsfreiheit. Wir unterstützen die Achtung ethnischer Minderheiten. Wir unterstützen aktiv Reformen und Reformer und Sie in Russland."
Bereits im Juli 1993 führten die USA und Russland erfolgreiche Verhandlungen über zahlreiche wichtige Themen: über die Lösung für die ukrainischen Atomwaffen, den Kernwaffenteststopp-Vertrag, die Nichtverbreitung und Begrenzung des russischen Verkaufs von Reaktoren, Raketen und U-Booten an den Iran und Indien, die Friedenssicherung in Georgien und Bergkarabach oder den Abzug der russischen Truppen aus dem Baltikum.
Ein Präsident beißt auf Granit
Während sich die Zusammenarbeit der USA und Russland sehr positiv gestaltete, stieß Jelzin in der russischen Heimat zunehmend auf Probleme. Die Begeisterung der Bevölkerung für die Wirtschaftsreform hielt sich mehr als in Grenzen. Aber insbesondere der Oberste Sowjet, das kommunistisch geprägte, aber demokratisch gewählte Parlament, zeigte immer mehr Widerstand.
Oleg Popzow, Chef des russischen Fernsehens, fasste die Pattsituation sehr pointiert zusammen: "Der Präsident erlässt Dekrete, als gäbe es keinen Obersten Sowjet, während der Oberste Sowjet die Dekrete aussetzt, als gäbe es keinen Präsidenten."
Ein Präsident löst das Parlament auf
Jelzin entschied sich, das Parlament aufzulösen. Zuvor unterrichtete er unter anderem die Botschaft der USA, wie es später der damalige Botschafter Thomas Pickering schilderte. Am 21. September 1993 schritt Jelzin dann tatsächlich zur Tat und löste mit dem Dekret 1400 das Parlament auf. Zudem legte er das Datum für vorgezogene Wahlen zu einer neuen Legislaturperiode fest und ordnete ein Referendum über den Verfassungsentwurf an.
Diese Entscheidung stellte eindeutig einen Bruch des russischen Rechts dar. Artikel 121-6 der Verfassung besagt: "Die Befugnisse des Präsidenten der Russischen Föderation dürfen nicht dazu benutzt werden, die nationale und staatliche Organisation der Russischen Föderation zu ändern, aufzulösen oder die Funktionsweise der gewählten Organe der Staatsgewalt zu beeinträchtigen."
Noch am selben Tag rief Clinton den russischen Präsidenten an. Jelzin versicherte, dass es kein Blutvergießen geben und die Wirtschaftsreform jetzt schneller vorankommen würde. Clinton erklärte ihm seine volle Unterstützung, äußerte aber auch seine Besorgnis über das Schicksal des demokratischen Prozesses in Russland.
Als Antwort darauf zeichnete Jelzin ein schwarz-weißes Bild des politischen Kampfes und sagte, dass der Oberste Sowjet "völlig außer Kontrolle geraten ist. Er unterstützt den Reformprozess nicht mehr. Er ist kommunistisch geworden." Jelzin versicherte, dass "alle demokratischen Kräfte mich unterstützen." Clinton betonte, wie wichtig es ist, die Wahlen demokratisch abzuhalten und auch der Opposition uneingeschränkten Zugang zur freien Presse zu gewähren.
Ein Präsident wird abgesetzt
Noch in der Nacht kam das Verfassungsgericht zusammen und stellte fest, dass Jelzin gegen die Verfassung verstoßen hatte und angeklagt werden konnte. Während einer nächtlichen Sitzung erklärte daraufhin das Parlament das Dekret des Präsidenten für ungültig. Jelzin und seine wichtigsten Minister wurden entlassen und das Parlament ernannte Vize-Präsident Alexander Ruzkoi zum Präsidenten, der seit langem nicht mehr Boris Jelzin unterstützte.
Am 24. September kündigte Jelzin die Präsidentschaftswahlen für Juni 1994 an. Am selben Tag stimmte der Kongress dafür, bis März 1994 gleichzeitige Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abzuhalten. Die USA versuchten währenddessen den angeschlagenen Jezlin zu stützen, indem der Senat im Eiltempo den von Bill Clinton gewünschten Kredit über 2,5 Milliarden US-Dollar an Russland genehmigte.
In Moskau erreichte aber die Krise langsam auch die Straße. Zehntausende Russen marschierten durch Moskau, um das Parlament zu unterstützen und auch gegen die sich verschlechternden Lebensbedingungen und die Wirtschaftsreformen des Präsidenten zu protestieren.
Am 28. September kam es in Moskau zu den ersten blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Anti-Jelzin-Demonstranten. Am selben Tag entschied das Innenministerium, das Parlamentsgebäude abzuriegeln. Barrikaden und Stacheldraht wurden um das Gebäude platziert. Am 1. Oktober schätzte das Innenministerium, dass sich rund 600 Kämpfer mit größerem Waffenvorrat den Parlamentariern angeschlossen hatten. Am 2. Oktober bauten Anhänger des Parlaments Barrikaden auf, um den Verkehr auf den Hauptstraßen Moskaus zu blockieren.
Am 3. Oktober forderte Ex-Parlamentschef Ruslan Chasbulatow auch die Stürmung des Kremls und die Inhaftierung Jelzin. Um 16:00 Uhr rief Jelzin den Ausnahmezustand in Moskau aus. Dieser Erlass beinhaltete auch ein Verbot der Kommunistischen Partei, der Vereinigten Arbeiterfront, der Nationalen Heilsfront und der Union der Offiziere. Ebenso wurde die Prawda, das ehemalige Organ der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, und eine Reihe anderer Zeitungen aufgefordert, die Veröffentlichung einzustellen.
Am Abend des 3. Oktober zogen Demonstranten und Bewaffnete zum Fernsehzentrum, um Fernsehzeit für die Darstellung ihrer Sicht zu erhalten. Aber die pro-parlamentarischen Massen wurden von Einheiten des Innenministeriums und Sonderkräften empfangen. In einer Straßenschlacht wurden dort 46 Menschen getötet und 124 verletzt.
Ein Präsident stürmt das Parlament
Am 4. Oktober umstellte die russische Armee bei Sonnenaufgang das Parlamentsgebäude. Um 8:00 Uhr Moskauer Zeit wurde Jelzins Erklärung von seinem Pressedienst bekannt gegeben: "Diejenigen, die sich gegen die friedliche Stadt gestellt und blutige Morde verübt haben, sind Kriminelle. Aber das ist nicht nur ein Verbrechen einzelner Banditen und Pogrommacher. Alles, was in Moskau stattfand und immer noch stattfindet, ist eine vorgeplante bewaffnete Rebellion. Sie wurde von kommunistischen Revanchisten, faschistischen Führern, einem Teil ehemaliger Abgeordneter, den Vertretern der Sowjets, organisiert. Unter dem Deckmantel von Verhandlungen sammelten sie Kräfte, rekrutierten Banditentruppen von Söldnern, die an Morde und Gewalt gewöhnt waren. Eine kleine Bande von Politikern, die mit Waffengewalt versucht haben, ihren Willen dem ganzen Land aufzuzwingen. Die Mittel, mit denen sie Russland regieren wollten, haben sich der ganzen Welt gezeigt."
Jelzin versicherte: "Die faschistisch-kommunistische bewaffnete Rebellion in Moskau wird innerhalb kürzester Zeit unterdrückt werden. Der russische Staat verfügt über die dafür notwendigen Kräfte." Dann gab Jelzin den Befehl, das russische Parlament mit Panzern zu beschießen. Eben jenes Gebäude, vor dem er während des Augustputsches 1991 medienwirksam auf einen Panzer geklettert und für den Schutz der noch jungen sowjetischen Demokratie eingetreten war.
Nach zehn Stunden Beschuss ergaben sich Jelzins Gegner - der ehemalige Vizepräsident Alexander Ruzkoi, Ex-Parlamentschef Ruslan Chasbulatow und etwa 700 Abgeordnete und Bewaffnete. Die zweite Oktoberrevolution forderte offiziell 187 Tote. Später sprach der damalige Verteidigungsminister Pavel Grachev schlicht von "vielen" Toten. Als ein Journalist sagte, "200 bis 400 (Tote) verschiedenen Quellen gemäß", antwortete Grachev vielsagend mit: "Viele, kurz gesagt." Unter Toten befanden sich auch Abgeordnete. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Eine vollständige öffentliche Untersuchung der Ereignisse von 1993 fand nie statt.
Unterstützung aus den USA
Die US-amerikanische Presse jubelte. Die "Washington Post" sprach von einem "Sieg für die Demokratie" und der "Boston Globe" titelte: "Russland entgeht einer Rückkehr ins Verließ seiner Vergangenheit".
Einen Tag nach dem Blutbad rief der US-amerikanische Präsident Boris Jelzin an. Jelzin zeichnete ein extremes Schwarz-Weiß-Bild der Situation. Er nannte seine Gegner "faschistisch", beschuldigte die Opposition und erklärte Clinton, dass die Anhänger des Parlaments "eine Bande von Menschen aus der Region Transnistrien, den Rigaer OMON (eine dem Innenministerium unterstellte Polizei-Einheit), nach Moskau gebracht hatten - das waren Sondereinheiten. Sie ließen sie hierher kommen, gaben ihnen Maschinengewehre und Granatwerfer und ließen sie auf friedliche Zivilisten schießen." Allerdings gibt es keinen nachgewiesenen Fall, in dem Anti-Jelzin-Demonstranten auf friedliche Zivilisten schossen.
Jelzin sagte, er hatte keine andere Wahl, als Gewalt anzuwenden, und bedauerte, dass "einige Menschen getötet wurden, neununddreißig Menschen sind inzwischen auf unserer Seite getötet worden". Clinton fragte nie nach dem Verlust von Menschenleben unter Zivilisten und der Opposition. Stattdessen erkundigte er sich über die Pläne des russischen Präsidenten für die bevorstehenden Wahlen und die politische Einigung nach der Verfassungskrise.
Jelzin versicherte Clinton, dass jetzt der Übergang zur Demokratie und Wirtschaftsreform schneller umgesetzt werden können. Jelzin würde "vorgezogene Präsidentschaftswahlen fordern, weil für mich keine echten Rivalen sichtbar sind." Tatsächlich waren sein Vizepräsident Ruzkoi und der Vorsitzende des Obersten Sowjetischen Chasbulatow nun im Gefängnis und der Generalstaatsanwalt war gezwungen, zurückzutreten. Zudem hatte Jelzin das Verfassungsgericht suspendiert, nachdem sein Vorsitzender Jelzins Dekret 1400 für verfassungswidrig erklärt hatte.
Nichts von Jelzins Handlungen und Aussagen schien seine demokratische Legitimation in Clintons Augen zu untergraben. Clinton lobte den russischen Präsidenten: "Sie haben alles genau so gemacht, wie Sie es tun mussten, und ich gratuliere Ihnen zu der Art und Weise, wie Sie mit der Krise umgegangen sind." Jelzin antwortet: "Danke für alles. Ich umarme sie von ganzem Herzen."
Als der US-Außenminister Warren Cristopher zweieinhalb Wochen nach dem Beschuss des Parlaments Boris Jelzin traf, lobte er den russischen Präsidenten für seinen Umgang mit der Verfassungskrise und gab die "hohe Wertschätzung" des US-Präsidenten weiter. Christopher betonte, dass Clinton Jelzins "hervorragenden Umgang mit der Krise" "sehr stark unterstützt". Laut Christopher bewunderte Clinton "die Zurückhaltung", die Jelzin seit Beginn der Krise an den Tag gelegt habe, und dass er am Ende so handelte, dass "der geringste Verlust von Menschenleben verursacht wurde".
In der US-amerikanischen Administration scheint es nur wenig Kritiker gegeben zu haben. James Collins, der als Chargé d'Affaire in der US-Botschaft in Moskau arbeitete, verwies in seiner Meldung an Warren Christopher zwei Wochen nach dem Beschuss des Weißen Hauses darauf, dass "sogar viele Reformer sich Sorgen um die Errichtung einer neuen russischen Demokratie machen, die so stark auf die Präsidialmacht ausgerichtet ist". Er bezeichnete die neue Verfassung, die Jelzin mit Gewalt durchboxen will, als "unausgereift", weil sie zu viel Macht in die Hände des Präsidenten lege. Er äußerte auch konkrete Kritik an der Durchsetzung des Ausnahmezustandes und starke Zweifel, inwiefern die anstehende Wahl tatsächlich demokratischer Natur sein werde.
Der Liebling des Westens verliert
Am 12. Dezember 1993, noch unter dem Schock der Ereignisse, stimmte die russische Bevölkerung in einem Referendum mit knapper Mehrheit für eine neue Verfassung. Sie gab dem Präsidenten im Kreml nahezu uneingeschränkte Macht. Er konnte nun im Prinzip nicht mehr des Amtes enthoben werden. Zudem drängte die neue Verfassung das Parlament an den Rand des politischen Prozesses. Das am selben Tag gewählte Parlament (mit einer Wahlbeteiligung von lediglich 53 Prozent) war jedoch eine beeindruckende demokratische Ohrfeige für Jelzins neoliberales Wirtschaftsprogramm.
Das Wahlergebnis war für den Präsidenten eine Katastrophe. Die nationalistische Liberaldemokratische Partei von Wladimir Schirinowski wurde mit 23 Prozent stärkste Partei. Jelzins Partei, die Russische Wahl unter der Führung von Jegor Gaidar, erreichte nur 15 Prozent. Die Kommunistische Partei von Gennadij Sjuganow erhielt immerhin 12 Prozent.
Die USA und der IWF entschieden sich nun für weniger Schock und mehr Therapie für Russland. Eine späte Einsicht. Die angesehene Wissenschaftszeitschrift "The Lancet" veröffentlicht 2009 eine Studie, die einen direkten Zusammenhang zwischen massenhafter Privatisierung und Reduzierung der Lebenserwartung herstellt. Aber die negativen Schlagzeilen der russischen Wirtschaft sollten auch in den weiteren Jahren unter Jelzin nicht abreißen.
Am 11. Oktober 1994 verlor der Rubel innerhalb eines Tages 21 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar. Am 17. August 1998 kam es gar zum Staatsbankrott. Erst ab dem Jahr 2000 und dem steigenden Ölpreis ging es der russischen Wirtschaft deutlich besser.
Nachwirkungen der Panzerschüsse
Die damalige Clinton-Regierung betrachtete auch mit Abstand Jelzin als Garanten für den demokratischen Übergang Russlands und das Ergebnis der Krise daher als Sieg für die demokratischen Kräfte, so bedauerlich der Verlust von Menschenleben auch gewesen sein mag.
Der damalige US-Botschafter in Moskau Thomas Pickering betonte später, dass es "keine andere Wahl" gab, als Jelzin zu unterstützen: "Es gibt einige, die argumentieren, dass Jelzins Handlungen illegal waren. Ich bin völlig anderer Meinung. Hätte Jelzin es versäumt, das zu tun, was er getan hat, so gab es gute Chancen, dass es an der Spitze eine weitere Anstrengung gegeben hätte, Russland wieder in den Kommunismus zurückzuführen. Ich kann nur glauben, dass das zu mehr Blutvergießen und einem langen Bürgerkrieg geführt hätte."
Lässt man aber die Reihe von nicht-demokratischen Entscheidungen, einen klaren Verfassungsbruch und den Einsatz übermäßiger Gewalt gegen das Parlament noch einmal Revue passieren, erscheint die dargestellte Haltung zumindest fragwürdig. Aber auch in der damaligen US-Botschaft gab es andere Haltungen. Said E. Wayne Merry, Leitender politischer Analyst an der US-Botschaft in Moskau, gibt sich später kritisch: "Die US-Regierung wählte das Wirtschaftliche über das Politische. Wir haben uns für die Preisfreigabe, die Privatisierung der Industrie und die Schaffung eines wirklich ungehinderten Kapitalismus entschieden und im Wesentlichen gehofft, dass sich Rechtsstaatlichkeit, Zivilgesellschaft und repräsentative Demokratie irgendwie automatisch daraus entwickeln würden."
Betrachtet man die leidvolle Geschichte Russlands zu Beginn der 1990er Jahre, so scheint Naomi Klein Recht zu behalten, wenn sie darauf hinweist: "Der Kommunismus mag zusammengebrochen sein, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde, aber wie sich herausstellte, brauchte der Kapitalismus à la Chicagoer Schule jede Menge Gewehrläufe, um sich zu verteidigen."
Vielsagend und nachdenkenswert sind auch die Zeilen von Jeffrey Sachs, der für die Schocktherapie Russlands zuständig war. In einem Brief an den Herausgeber der Financial Times schreibt Sachs: "Im Falle Osteuropas haben wir diesen Ländern geholfen, auch weil es so aussah, als würden sie die neuen Mitglieder der NATO sein. Wenn es um die ehemalige Sowjetunion ging, haben wir diesen Ländern nicht geholfen, weil sie als strategische Gegner angesehen wurden."
Blinder Fleck
Vor Hintergrund der Stürmung des Parlamentes "erscheint die These von Boris Jelzin als einem Symbol der russischen Demokratie zumindest gewagt", bemerkt Mikhail Evstyugov-Babaev zu Recht. "Zumal die Machtfülle, die Wladimir Putin immer wieder vorgehalten wird, in jener Verfassung festgehalten ist, die Jelzin im Dezember 1993 den Russen in einem Referendum zur Abstimmung vorlegte. (…) Darüber hinaus gerät auch das seit der Machtübernahme von Wladimir Putin gültige Narrativ vom Totengräber der russischen Demokratie ins Wanken. Sofern es eine solche Demokratie je gab, starb sie unter aktiver Sterbehilfe westlicher Regierungen und Medien eines frühen Todes im Oktober vor 25 Jahren."
Viele russische Demokraten betrachteten die Ereignisse von 1993 als den Wendepunkt von der Demokratie zu einer zunehmend paternalistischen und autokratischen Politik durch Jelzin und seinen Nachfolger. War bis dahin die Erfahrung der Demokratie "nur" mit massiv verschlechterten Lebensbedingungen einhergegangen, drohte nun gar ein Bürgerkrieg. Für Svetlana Savranskaya vom National Security Archive der Universität Washington führte daher Jelzins Verhalten, das von den USA unterstützt wurde, "zum Verlust des Glaubens an die Demokratie".
So traumatisch die Ereignisse des Jahres 1993 für die russische Bevölkerung waren, so gering ist ihr Platz in der kollektiven Erinnerung des Westens. Am Rande im Nachrichtenalltag mitbekommen, ist es heute gleichsam vergessen.
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