Jemen: Hunger als Kriegswaffe
Hunger, Krankheit, Vertreibung sind im ärmsten Land der arabischen Halbinsel seit fast acht Jahren Alltag. Hinzu kommt der Klimawandel. Derweil profitieren Konzerne und EU-Regierungen von Waffenlieferungen.
Für dringend benötigte humanitäre Hilfe im Jemen kamen auf einer UN-Geberkonferenz Ende Februar 1,2 Milliarden US-Dollar zusammen [1]. Das Geld stammt von insgesamt 31 Spendern – Deutschland trägt120 Millionen Euro bei. Das klingt nach viel Geld, ist aber zu wenig, um Lebensmittel, Wasser, Medizin und andere Hilfsleistungen für 17,3 Millionen Menschen hinreichend zu finanzieren.
Dafür bedarf es rund 4,3 Milliarden US-Dollar. Seit acht Jahren kämpfen der Iran und Saudi-Arabien einen Stellvertreterkrieg im Jemen, der von den Vereinten Nationen (UN) als eine der weltweit schlimmsten humanitären Krisen eingestuft wird [2]. Während der Iran die schiitischen Houthi-Rebellen unterstützt, kämpft Saudi-Arabien mit weiteren sunnitisch geprägten Golfstaaten an der Seite der Regierung.
Bis zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen [3], die kürzlich auf Vermittlung Chinas zustande kam, wurden bereits Millionen Menschen vertrieben, mindestens 400.000 Menschen während der Kämpfe getötet.
Aufgrund der zerstörten Infrastruktur und der kaputten Straßen können die Menschen nicht so schnell vor den Kämpfen fliehen und Verletzte nicht so einfach transportiert werden. Schulen, Märkte, Geschäfte und Krankenhäuser wurden zerbombt. Daher können Kranke und Verletzte kaum oder gar nicht behandelt bzw. ausreichend medizinisch versorgt werden. Weil Hunderte Brunnen zerstört wurden, ist das Trinkwasser knapp [4]. Etwa 16 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 24 Millionen Menschen hungern oder benötigen dringend humanitäre Hilfe [5].
Hinzu kommt eine extrem hohe Inflation. Mancherorts stiegen die Lebensmittelpreise um 150 Prozent. Tausende Menschen verloren ihre Jobs die Wirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen.
Auch die Hilfsorganisationen haben mit Zugangsbeschränkungen und Unsicherheiten zu kämpfen, erklärte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths auf der Geberkonferenz [6]. Weil Häfen und wichtige Flughäfen zerstört oder geschlossen wurden, kommen Lebensmittel und Hilfspakete bei den Menschen kaum noch an. Ein großes Problem ist der Geldmangel: Medikamente, Lebensmittel und Wasser, aber auch Lehrer und Ärzte müssen bezahlt werden. Ohne Geld können die Hilfsorganisationen vor Ort nicht arbeiten.
Mehr als 200 lokale Märkte wurden bombardiert. In den Häfen und im Roten Meer wurden mehr als 220 Fischerboote zerstört, viele Boote blieben im Hafen. Mit einer Seeblockade im Roten Meer versuchte die arabische Koalition, Waffenlieferungen der Houthi-Rebellen zu blockieren. Damit blockierte sie allerdings auch humanitäre Hilfe, medizinische Ausrüstung und Nahrungstransporte. Seit April 2016 sind mehr als eine Millionen Menschen an Cholera erkrankt und tausende daran gestorben.
Die Kinder trifft es besonders hart: UN-Angaben zu Folge sind 2,2 Millionen Kinder akut unterernährt [7]. Bei vielen Kindern ist das Immunsystem derart geschwächt, dass sie extrem anfällig für Krankheiten wie Cholera, Masern aber auch für Diphterie und Dengue-Fieber sind.
Seit Kriegsbeginn wurden rund 4.000 minderjährige Jungen rekrutiert, die als Kindersoldaten kämpfen. Mindestens 11.000 Kinder wurden nach UN-Angaben [8] verletzt, verstümmelt oder getötet.
Vertriebene Bauern, brach liegende Äcker
Der Jemen ist etwa anderthalbmal so groß wie Deutschland und besteht hauptsächlich aus Gebirgen und Wüsten. Nachts fallen die Temperaturen meist nicht unter 26 Grad. Regen fällt hauptsächlich im Südosten des Landes, vor allem im Gebirge. Auf den Berghängen im Westen wachsen Weihrauch, Myrrhe und Balsam, daneben auch Feigen, Hirse sowie Kaffee. Als eine der ältesten Handelsrouten der Welt verläuft die Weihrauchstraße quer durch das Land bis zum Mittelmeer.
Nur ein Bruchteil des Landes wird permanent kultiviert. Als die Kämpfe ausbrachen, hörten die Bauern auf, ihre Äcker zu bewirtschaften, viele wurden vertrieben. So wie Mohammed Abdulwahab und seine Familie [9]. Der Vater von vier Kindern brachte die Familie mit seinen Ersparnissen durch. Für Saatgut oder anderes Material, um den Acker zu bewirtschaften, war kein Geld übrig.
Weil sie nicht wussten, wohin sie gehen sollten, aber auch, um das Vieh zu versorgen, blieb die Familie auf dem Hof. Die Familie kämpfte ums Überleben, denn um das Land zu bewirtschaften, fehlten die Mittel. "Ich musste alle zwei oder drei Tage das Haus verlassen, um etwas zu essen für meine Familie zu suchen", berichtet der Farmer in einem Interview.
Zudem waren Wasserpumpen und Generatoren beschädigt. Von der Organisation Norwegian Refugee Council (NRC) erhielten sie schließlich Saatgut, landwirtschaftliches Gerät, Wassertanks und Geld. Das ermöglichte ihnen, ihr Land wieder zu bewirtschaften. Zusammen mit einer einheimischen Organisation schult NRC Bäuerinnen und Bauern der Region in modernen Landwirtschaftstechniken.
Laut Muneer Rageh, ein Mitarbeiter des NRC im Gouvernement Taiz, wurden 250 Landwirtschaftsbetriebe beim Anbau von Gemüse und weitere 400 beim Anbau von Getreide unterstützt. Je mehr Bauern ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten, umso mehr regionales Gemüse war verfügbar. Das hatte den Effekt, dass das Gemüse wieder preisgünstiger wurde. Die Organisation half vor allem auch Vertriebenen, die nach Hause zurückkehrten.
Dem ärmsten Land der Arabischen Halbinsel drohen Wasserknappheit, Hitzewellen, Sandstürme, Erdrutsche sowie überflutete Küsten durch steigende Meeresspiegel. Überschwemmungen während der Regenzeit [10] verstärken die Krise - etwa im August 2022 im Norden des Landes, als die Region regelrecht überflutet wurde. Auch Ackerland wurde von den Wassermassen überschwemmt. Angaben der Houthi-Rebellen zufolge kamen damals mehr als 90 Menschen ums Leben.
140 Gebäude stürzten nach schweren Regenfällen ein, mehr als fünftausend weitere wurden beschädigt. Mehr als 24.000 Familien waren betroffen, viele wurden obdachlos. Bereits zehn Tage zuvor hatten Sturzfluten in der Provinz Marib Tausende Menschen vertrieben bzw. ihre Unterkünfte stark beschädigt. Helfer einer internationalen Organisation hatten mehr als 3.400 Familien zu versorgen.
Hungersnöte infolge von Luftangriffen
Die Angriffe aus der Luft beeinträchtigen die Nahrungsmittelproduktion und schränken die Versorgung mit Lebensmitteln stark ein. Allein zwischen März 2015 und Februar 2019 gab es rund 19.000 Angriffe. Demnach trafen mehr als 11.000 Bomben die Landwirschaft. Im Nordwesten, dem Kerngebiet der Houthi-Rebellen, bombardierte die arabische Koaliton gezielt 660 Farmen. Doch auch die Houthi schießen auf zivile Ziele, klagt Radhya al Mutwakel von der Menschenrechtsorganisation Mwatana in einem Interview mit Arte. So wurden im Westen des Landes wurden Brunnen, Zisternen und Trinkwasseraufbereitungsanlagen bombardiert.
Allen Kriegsparteien werden Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen. Ermöglicht werden die Verbrechen mit Waffen aus der EU: Allein von März bis November 2018 genehmigte die deutsche Regierung 208 Exporte in Höhe von 400 Millionen Euro an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Erst nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Kashoggi im arabischen Kosulat in Istanbul wurden deutsche Waffenlieferungen zeitweise gestoppt.
Zwar verlängerte Deutschland das Waffenembargo 2019 für einige Monate, doch deutsche Teile für europäische Kriegsmaschinen durften weiter geliefert werden [11]. Viele Rüstungskonzerne umgingen dieses Verbot, indem sie über ihre Tochterfirmen im Ausland weiterhin Waffen an Saudi-Arabien verkauften - so wie Rheinmetall, die zweitgrößte deutsche Waffenschmiede. Der Konzern lieferte über Tochterfirmen in Italien und Afrika weiter nach Riad/Saudi-Arabien bzw. kaufte sich in ausländische Rüstungsfirmen ein.
Über einen südamerikanischen Partner ließ der Konzern eine Munitionsfabrik in Saudi-Arabien errichten. Eingeweiht 2016 vom damaligen südafrikanischen Präsidenten und dem saudischen Kronprinzen, soll die Fabrik täglich 300 Artillerie- und bis zu 600 Mörsergranaten produzieren.
Französische Panzer und Artillerie schießen auf Zivilisten
Laut einem Bericht, veröffentlicht von der investigativen Plattform disclose.ngo [12], lieferte Frankreich Waffen an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate - zur Verteidigung, wie es offiziell hieß. Demzufolge wurden 48 gelieferte mobile Artilleriegeschütze an der Grenze von Saudi-Arabien gegen den Jemen aufgefahren, die regierungstreue Truppen bei ihrem Vormarsch unterstützen sollten. Mehr als 400.000 Menschen sollen von der Artillerie beschossen worden sein.
Außerdem waren 70 französische Panzer [13] an der Westküste des Jemen an mehreren Offensiven beteiligt. Zudem lieferte Frankreich Steuerungssysteme für Lenkflugkörper in amerikanischen Kampfjets, welche anschließend an die Saudis verkauft wurden. Eine französische Fregatte beteiligte sich an einer Seeblockade, die auch Hilfslieferungen verhinderte und die Hungersnot verschärfte. Weil sie auch zivile Ziele trafen, könnten die Blockaden und die Luftangriffe der arabischen Koalition den Tatbestand des Kriegsverbrechens erfüllen.
Zwar unterzeichnete Frankreich Verträge, die Waffenexporte verbieten, wenn die Gefahr von Kriegsverbrechen besteht, doch sind diese Verträge offensichtlich nicht das Papier wert. Frankreich ist als drittgrößter Waffenexporteur direkt im Krieg involviert. Noch bis 2016 waren Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate die größten Abnehmer der französischen Waffenindustrie [14].
Deutsch-französischer Waffendeal verspricht Milliardengewinne
Während Rüstungskonzerne auf Gesetzeslücken angewiesen sind, machen die Regierungen ihre Waffen-Geschäfte ganz offiziell: Anfang 2019 verpflichtete sich Merkel zur "Entwicklung einer gemeinsamen militärischen Kultur sowie einer gemeinsamen Linie für Rüstungsexporte" mit Frankreich, wie das ARD-Magazin Report München [15] berichtete.
Konkret ging es um den Bau eines Kampfjets für ein vernetztes Luftkampfsystem. Waffenexporte in Krisengebiete sollten wieder zur Regel werden. Exportstopps sollte es nur noch in Ausnahmefällen geben, etwa, wenn die "nationale Sicherheit in Frage gestellt" sei, wie es hieß. Davon versprach man sich Milliarden Gewinne.
Ende September 2022 genehmigte die Bundesregierung weitere Waffenlieferungen [16] unter anderem an Ägypten, Bahrain, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Sudan - Länder, die der arabischen Koalition angehören und somit direkt im Krieg involviert sind. Allein nach Kuwait wurden zwischen Anfang Dezember 2021 und Mitte September 2022 Ausfuhren in Höhe von 1,3 Millionen Euro genehmigt. An Katar gingen Exporte im Umfang von 20,7 Millionen Euro. Auch Jordanien und der Sudan profitieren von deutschen Waffen-Exporten.
Nahostexperten fragen sich, ob das brüchige Bündnis Saudi-Arabiens mit den Arabischen Emiraten im Jemen Bestand haben wird. Viel wichtiger wäre die Frage, ob sich die zerstrittenen Regionalmächte auf einen Weg einigen können, der das sinnlose Töten und die andauernde Zerstörung [17] beenden und die Interessen aller Menschen auf der arabischen Halbinsel wieder in den Fokus rückt. Eine zeitweise Waffenruhe, die von April bis Oktober 2022 andauerte, ließ erahnen, wie ein Weg zum Frieden aussehen könnte.
Doch seither wurde der Krieg weiter von außen angeheizt. Das zeigen zum Beispiel Waffenfunde auf einem Fischkutter, den die US-Marine Anfang Dezember auf dem Weg vom Iran in den Jemen abfing. Unter anderem beschlagnahmten sie eine Million Schuss Munition, mehrere Raketenzünder sowie Treibstoff.
Erst wenn die externen Akteure ihre Unterstützung einstellen, wird auch der Krieg beendet werden können, zeigte sich Jemen-Experte Jens Heibach [18] kürzlich überzeugt. Sofern sie ihre westlichen demokratischen Werte selber ernst nehmen, sollten Deutschland und Frankreich sich ihrer Verantwortung bewusst werden und alle Waffenexporte an die beteiligten Länder endgültig stoppen.
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[1] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/jemen-un-geberkonferenz-deutschland-101.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rintervention_im_Jemen_seit_2015
[3] https://www.telepolis.de/features/Chinas-Diplomatie-ueberholt-US-Militaer-7550412.html?wt_mc=rss.red.tp.tp.atom.beitrag.beitrag
[4] https://www.deutschlandfunk.de/krieg-im-jemen-viele-menschen-muessen-dreckiges-wasser-100.html
[5] https://www.savethechildren.de/unterstuetzen/nothilfe/spenden-jemen/?gclid=EAIaIQobChMI2vm7od7R_QIVTuDVCh1wlgjwEAAYAiAAEgIab_D_BwE
[6] https://unric.org/de/280223-geberkonferenzjemen/
[7] https://www.savethechildren.de/news/jemen-zwei-millionen-kinder-unterernaehrt/
[8] https://unric.org/de/jemen1212202/2
[9] https://www.nrc-hilft.de/perspektive/2020/mai/landwirtschaft-im-schatten-des-krieges/
[10] https://taz.de/Ueberschwemmungen-im-Jemen/!5874333/
[11] https://www.arte.tv/de/videos/086089-025-A/jemen-die-deutsche-heuchlerei/
[12] https://disclose.ngo
[13] https://www.arte.tv/de/videos/086089-022-A/jemen-waffen-made-in-france/
[14] https://www.arte.tv/de/videos/086089-026-A/franzoesische-waffen-die-wichtigsten-zahlen/
[15] https://kurzelinks.de/sz4s
[16] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/jemen-waffen-deutschland-101.html
[17] https://www.spiegel.de/ausland/jemen-wie-der-konflikt-zum-vielfrontenkrieg-wurde-a-a58834db-74e1-4bd9-b989-3382929e0193
[18] https://www.dw.com/de/jemen-wenig-hoffnung-auf-ein-ende-des-krieges/a-64072811
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