Jemen: "Schlimmste von Menschen erzeugte humanitäre Katastrophe seit Jahrzehnten"
Trotz Waffenstillstand wird gekämpft – und gehungert, auch weil durch den Ukraine-Krieg die Preise für Hilfsgüter gestiegen und die Geberbereitschaft gesunken ist
Lange schon nicht mehr waren die Vereinten Nationen so optimistisch, wenn es um den Jemen ging: Vom "Licht am Ende des Tunnels", spricht die Pressestelle der Uno in New York und die international anerkannte Regierung des Jemen erklärte, der "Bürgerkrieg ist vorbei".
Doch die Realität sieht anders aus: Trotz eines Waffenstillstandes wird in einigen Regionen im Norden des Landes weiter gekämpft, mit Waffen, die ihren Weg aus den USA, aus Russland und den Staaten der Europäischen Union über Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und dem Iran in dieses zwischen Saudi-Arabien, dem Oman und dem Ozean eingepferchte Land gefunden haben.
Und noch um einiges zerstörerischer sind Hunger und Krankheiten, die einen Großteil der Bevölkerung im Griff haben. Weil die saudische Regierung Jahre lang streng kontrollierte, wohin welche Hilfslieferungen gehen, eine See-, Luft- und Landblockade des Nordens machte es möglich. Aber in letzter Zeit auch, weil durch den Ukraine-Krieg die Preise extrem gestiegen sind – und die Hilfsbereitschaft der westlichen Staaten erheblich gesunken ist.
4,3 Milliarden US-Dollar benötigen das Welternährungsprogramm und andere Organisationen in diesem Jahr, um 17,3 von 23,4 Millionen hungernden Menschen im Land zu helfen. Der Jemen hat ingesamt um die 30 Millionen Einwohner. 1,3 Milliarden US-Dollar wurden auf einer Geberkonferenz im März zugesagt; insgesamt kann nun auf 1,6 Milliarden US-Dollar zugegriffen werden.
4,1 Millionen Menschen sind auf der Flucht; 375.000 Menschen oder 1,25 Prozent der Bevölkerung sind seit 2015 durch Kampfhandlungen, aber viel öfter durch Hunger oder Krankheiten getötet worden. Beim Uno-Büro für die Koordinierung von humanitären Angelegenheiten (OCHA) spricht man deshalb von der "schlimmsten von Menschen erzeugten humanitären Katastrophe seit vielen Jahrzehnten."
Woher kommt also der Optimismus? Anfang April trat Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi überraschend zurück und übergab die Führung an einen siebenköpfigen Präsidialrat unter Führung von Raschad al Alimi übergeben. Fast zeitgleich trat ein Waffenstillstand in Kraft, der bis Ende Mai gelten soll.
Al-Alimi war bis zu Hadis Abtreten dessen Chef-Berater und auch die sechs anderen Mitglieder des neuen Gremiums stammen entweder aus dem engen Umfeld des Ex-Präsidenten oder stehen der saudischen Regierung nahe, die in den Jahren zuvor Hadi im Amt gehalten und ihm Asyl in Riad gewährt hatte. Zur Unterstützung seiner Regierung waren Saudi-Arabien und die VAE auch jahrelang Luftangriffe auf Ziele in den von den Houthi-Milizen kontrollierten Gebieten im Nord-Jemen geflogen.
Die Angriffe sorgten für Aufsehen, weil man dabei nicht auf bevölkerte Märkte, Schulen, Krankenhäuser Rücksicht nahm; Hunderte starben dabei auf einen Schlag. So tödlich waren die Angriffe, dass der US-Kongress die US-Regierung 2020 dazu aufforderte, die Unterstützung für die von Saudi-Arabien geführte Militärallianz einzustellen, an der neben den VAE auf dem Papier auch weitere arabische Staaten beteiligt waren.
Nun regiert also seit gut einem Monat der neue Präsidialrat, oder versucht es zumindest, denn viel Macht hat man nicht. Der Norden wird zum großen Teil von den Houthi-Milizen regiert, die 2014 zu den Waffen gegriffen hatten, um eine Beteiligung an der Macht zu erlangen. Mittlerweile wird die Organisation, die sich offiziell Ansar Allah nennt, von den iranischen Revolutionsgarden unterstützt und ausgerüstet.
Der offensichtliche Grund: Der gesamte Schiffsverkehr aus Richtung Osten muss auf dem Weg zum Suez-Kanal und ins Mittelmeer an einer Meerenge vor der Küste des Nord-Jemen vorbei. Dies wiederum führte dazu, dass Saudi-Arabien und die VAE 2015 die Militärallianz gründeten und ihre Luftangriffe aufnahmen.
Der Krieg im Jemen wurde in diesen Jahren sehr schnell vom Bürgerkrieg zum Stellvertreter-Konflikt, in dem die Rivalitäten zwischen den Mächten der Region ausgefochten werden. Saudi-Arabien und die VAE unterstützten die Regierung, weil der Iran die andere Seite unterstützte, und irgendwann kamen dann die VAE auch noch auf den Geschmack und begannen, sich selbst als Großmacht aufzubauen.
Jahrelang war man bei westlichen Rüstungskonzernen gerne gesehener Käufer für teure Waffentechnologie gewesen und gleichzeitig aber auch irgendwie belächelt worden, denn immerhin hatte dieses Land, das vor allem für extravagante Bauprojekte bekannt war, nie gegen jemanden und auch nicht gegen Israel Krieg geführt.
Bis man plötzlich Krieg führte, und das ziemlich schmutzig: Das kämpfende Personal ist vor allem im Ausland rekrutiert; anders als Saudi-Arabien setzte man auch Bodentruppen ein. 2017 tauchte dann zudem auch noch eine Organisation namens "Südlicher Übergangsrat" auf der Bildfläche auf, der offiziell für eine Teilung des Landes in einen Nord- und einen Süd-Jemen so wie früher eintrat, von den VAE hochgerüstet worden war und ziemlich schnell vor dem Regierungspalast in der Übergangshauptstadt Aden stand.
Hadi und ein Großteil seines Kabinetts waren zu diesem Zeitpunkt aber bereits in die saudische Hauptstadt Riad ausgereist. Einige Zeit später einigten sich dann Hadis Regierung und Übergangsrat auf eine Machtteilung, natürlich auf Betreiben Saudi-Arabiens und der VAE.
Im Norden baute Ansar Allah indes eine Art eigenes Staatswesen auf, das dem iranischen Vorbild stark ähnelt; von einer Machtteilung ist schon längst keine Rede mehr. Und um alles noch viel komplizierter zu machen, holten sich alle Kriegsparteien auch durchaus mal die Unterstützung von Gruppen, die zumindest zeitweise der Ideologie al-Qaidas oder salafistischen Strömungen nahestanden, statteten sie mit Waffen aus.
Nun also gibt es diesen Waffenstillstand, und darüber, ob er nun mit Zustimmung der Houthi oder nicht zustande gekommen ist, scheiden sich die Geister: In den Medien Saudi-Arabiens und der VAE heißt es, die Houthi hätten ihm auf Vermittlung der Vereinten Nationen zugestimmt und auch die Uno betont, es gebe eine Vereinbarung, die vorsehe, dass ab dem 2. April alle Kampfhandlungen bis Ende Mai eingestellt werden, um über einen dauerhaften Frieden zu verhandeln.
In dieser Zeit sollen auch zwei wöchentliche Flüge aus Sana'a nach Dschibouti starten und landen. Unabhängig davon unterzeichneten Vertreter von Uno und Houthi eine Übereinkunft, die vorsieht, dass keine Kindersoldaten mehr rekrutiert werden und alle bereits rekrutierten Kinder innerhalb von sechs Monaten aus den Kampfeinheiten der Organisation entlassen werden. Einem Bericht von Human Rghts Watch zufolge hatten die Houthi auch Siebenjährige an Kontrollposten eingesetzt.
Sicher ist aber auch, dass zumindest in der Region Marib weiter gekämpft wird: Dort haben Hunderttausende vor den Kämpfen Zuflucht gesucht, und keine der Kriegsparteien scheint darauf Rücksicht zu nehmen.
In den ersten vier Monaten des Jahres sind nach Angaben der Vereinten Nationen mehrere Tausend durch Krieg und Hunger getötet worden, wobei man im Jemen niemals eine auch nur annähernd abschließende Zahl nennen kann. Zwei von drei medizinischen Einrichtungen sind außer Betrieb; die meisten Toten dürften gar nicht gezählt werden.
Überhaupt die Vereinten Nationen: Die Meldungen aus New York über Waffenstillstand und Kindersoldaten können täuschen. Trotz des gigantischen Ausmaßes dieses Kriegs ist der diplomatische Aufwand der Uno eher überschaubar.
Die Team-Mitglieder, die dem Sondergesandten für den Jemen zur Verfügung stehen, rangieren im sehr niedrigen zweistelligen Bereich; mittlerweile versucht sich mit dem Schweden Hans Grundberg der dritte Diplomat in dieser Rolle. Hinzu kommt ein Expertengremium, dessen einzige Aufgabe es ist, regelmäßig dem Uno-Sicherheitsrat Bericht zur Lage im Jemen zu erstatten.