John Pilger: Der kommende Krieg, in Propaganda gehüllt
Nach den Weltkriegen startete ein Umerziehungsprojekt. Ohne Opposition konnten USA ihre Kriege führen. Ausblick auf das, was droht. Gastessay (Teil 2 und Schluss)
Das ist der zweite Teil des letzten Essays des kürzlich verstorbenen Journalisten John Pilger. Er schrieb ihn am 3. Mai 2023. Den ersten Teil, den Telepolis gestern veröffentlicht hat, finden Sie hier.
Die postmoderne Entpolitisierung
Woraus ist die Postmoderne hervorgegangen – die Ablehnung von tatsächlicher Politik und echtem Dissens? Die Veröffentlichung des Bestsellers "The Greening of America" von Charles Reich im Jahr 1970 bietet einen Anhaltspunkt.
Die USA befanden sich damals im Umbruch: Nixon saß im Weißen Haus, ein bürgerschaftlicher Widerstand, die sogenannte "Bewegung", war von den Rändern der Gesellschaft in die Mitte eines Krieges, der fast alle Menschen betraf, eingedrungen. Im Bündnis mit der Bürgerrechtsbewegung stellte sie die ernsthafteste Herausforderung für die Macht Washingtons seit einem Jahrhundert dar.
Auf dem Umschlag von Reichs Buch standen diese Worte: "Es wird eine Revolution geben. Sie wird nicht wie die Revolutionen der Vergangenheit sein. Sie wird vom Individuum ausgehen".
Zu dieser Zeit war ich Korrespondent in den Vereinigten Staaten und erinnere mich, wie Reich, ein junger Akademiker aus Yale, über Nacht zum Guru erhoben wurde. Der New Yorker hatte sensationell sein Buch veröffentlicht, dessen Botschaft lautete, dass die "politische Aktion und Wahrheitsfindung" der 1960er-Jahre gescheitert sei und nur "Kultur und Selbstbeobachtung" die Welt verändern würden.
Ich-Kult statt Engagement
Man hatte das Gefühl, dass das Lifestyle-Hippietum die Klasse der Konsumenten eroberte. Und in gewissem Sinne war das auch so.
Innerhalb weniger Jahre hatte der Ich-Kult bei vielen Menschen den Sinn für gemeinsames Handeln, für soziale Gerechtigkeit und Internationalismus fast völlig verdrängt. Klasse, Geschlecht und Rasse wurden voneinander getrennt. Das Persönliche wurde zum Politischen und die Medien waren die Botschaft. Und man propagierte: Geld verdienen.
Was die soziale und politische "Bewegung", ihre Hoffnungen und Lieder betrifft, so haben die Jahre von Ronald Reagan und Bill Clinton all dem ein Ende gesetzt. Die Polizei befand sich nun in einem offenen Krieg mit den Schwarzen; Clintons berüchtigte Sozialgesetze brachen Weltrekorde, was die Zahl der zumeist Schwarzen betraf, die ins Gefängnis kamen.
Als sich der 11. September 2001 ereignete, vollende die Erfindung neuer "Bedrohungen" an "Amerikas Grenzen" (wie das Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert die Welt nannte) die politische Desorientierung derjenigen, die 20 Jahre zuvor noch eine vehemente Opposition gebildet hätten.
Verschwiegene Kriegsopfer
In den folgenden Jahren ist Amerika in den Krieg mit der Welt gezogen. Einem weitgehend ignorierten Bericht der Physicians for Social Responsibility, der Physicians for Global Survival und der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten International Physicians for the Prevention of Nuclear War zufolge wurden im US-amerikanischen "Krieg gegen den Terror" "mindestens" 1,3 Millionen Menschen in Afghanistan, Irak und Pakistan getötet.
In dieser Zahl sind die Toten der von den USA geführten und angeheizten Kriege im Jemen, Libyen, Syrien, Somalia und anderen Ländern nicht enthalten. Die tatsächliche Zahl, so der Bericht ...
könnte durchaus mehr als zwei Millionen betragen [oder] etwa zehnmal höher sein als die Zahl, die der Öffentlichkeit, Experten und Entscheidungsträgern bekannt ist und von den Medien und den großen Nichtregierungsorganisationen propagiert wird.
"Mindestens" eine Million Menschen wurden im Irak getötet, erklären die Ärzte, das sind fünf Prozent der Bevölkerung.
Wenn Journalisten ihre Arbeit gemacht hätten ...
Das Ausmaß dieser Gewalt und des Leids scheint im westlichen Bewusstsein keinen Platz zu haben. "Keiner weiß, wie viele es sind", heißt es in den Medien. Blair und George W. Bush – und Straw und Cheney und Powell und Rumsfeld und andere – waren nie in Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden. Blairs Propaganda-Maestro, Alistair Campbell, wird als "Medienpersönlichkeit" gefeiert.
Im Jahr 2003 führte ich in Washington ein Interview mit Charles Lewis, dem renommierten Enthüllungsjournalisten. Wir sprachen über die Invasion in den Irak einige Monate zuvor.
Ich fragte ihn: "Was wäre, wenn die verfassungsmäßig freiesten Medien der Welt George W. Bushs und Donald Rumsfelds Behauptungen ernsthaft infrage gestellt und sie untersucht hätten, anstatt das zu verbreiten, was sich als plumpe Propaganda herausstellte?"
Er antwortete: "Wenn wir Journalisten unsere Arbeit getan hätten, wäre es sehr, sehr wahrscheinlich gewesen, dass wir nicht in den Irak-Krieg gezogen wären."
Millionen tot dank medialer Propaganda
Die gleiche Frage habe ich Dan Rather, dem berühmten CBS-Moderator, gestellt, der mir die gleiche Antwort gab. David Rose vom Observer, der die "Bedrohung" durch Saddam Hussein propagiert hatte, und Rageh Omaar, der damalige Irak-Korrespondent der BBC, gaben mir die gleiche Antwort. Roses bewundernswerte Zerknirschung darüber, dass er "hinters Licht geführt" worden war, repräsentierte viele Reporter, denen jedoch der Mut fehlte, es zu sagen.
Der Punkt, den sie machen, sollte man sich immer wieder klarmachen. Hätten Journalisten ihren Job gemacht, hätten sie die Propaganda hinterfragt und untersucht, anstatt sie zu verstärken, wären heute vielleicht eine Million irakische Männer, Frauen und Kinder am Leben.
Millionen wären nicht aus ihrer Heimat geflohen; der Sektenkrieg zwischen Sunniten und Schiiten wäre vielleicht nicht entbrannt, und der Islamische Staat wäre vielleicht nicht entstanden.
Wendet man diese Wahrheit auf die von Gier geleiteten Kriege seit 1945 an, die von den Vereinigten Staaten und ihren "Verbündeten" entfacht wurden, so ist die Schlussfolgerung erschütternd. Wird das irgendwo in den Journalistenschulen thematisiert?
Der Exzeptionalismus der USA
Heute ist Kriegsunterstützung durch die Medien eine Hauptaufgabe des sogenannten Mainstream-Journalismus, die an das erinnert, was ein Nürnberger Staatsanwalt 1945 derart beschrieb:
Vor jedem großen Angriff, mit einigen wenigen Ausnahmen aus taktischen Gründen, wurde eine Pressekampagne gestartet, die darauf abzielte, den Gegner, die Opfer herabzusetzen und das deutsche Volk psychologisch vorzubereiten. ... Im Propagandasystem ... waren die Tagespresse und der Rundfunk die wichtigsten Waffen.
Einer der stärksten Stränge im US-amerikanischen politischen Leben ist ein kultischer Extremismus, der sich dem Faschismus nähert. Obwohl das Trump zugeschrieben wird, flirtete die US-Außenpolitik schon während der beiden Amtszeiten Obamas ernsthaft mit dem Faschismus. Das wurde fast nie berichtet.
"Ich glaube zutiefst an den amerikanischen Exzeptionalismus", sagte Obama, der eine Lieblingsbeschäftigung von US-Präsidenten, das Bombardieren und den Einsatz von als "Spezialoperationen" bekannten Todesschwadronen, intensivierte und ausweitete, wie es kein anderer Präsident seit dem ersten Kalten Krieg getan hatte.
72 Bomben pro Tag
Laut einer Studie des Council on Foreign Relations hat Obama im Jahr 2016 26.171 Bomben abgeworfen. Das sind 72 Bomben pro Tag. Er bombardierte die Ärmsten und People of Color: in Afghanistan, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Irak, Pakistan.
Jeden Dienstag – so berichtete die New York Times – wählte er persönlich diejenigen aus, die durch von Drohnen abgefeuerte Hellfire-Raketen ermordet werden sollten. Hochzeiten, Beerdigungen, Hirten wurden angegriffen, ebenso wie diejenigen, die versuchten, die Leichenteile einzusammeln, die um das "terroristische Ziel" lagen.
Ein führender republikanischer Senator, Lindsey Graham, schätzte anerkennend, dass Obamas Drohnen 4.700 Menschen getötet hätten. "Manchmal trifft man Unschuldige, und das missfällt mir", sagte er, "aber wir haben einige sehr ranghohe Mitglieder von Al-Qaida ausgeschaltet."
Im Jahr 2011 erklärte Obama den Medien, dass der libysche Präsident Muammar Gaddafi einen "Völkermord" an seinem eigenen Volk plane. "Wir wussten ...", erklärte er, "dass, wenn wir noch einen Tag länger gewartet hätten, Bengasi, eine Stadt von der Größe von Charlotte [North Carolina], ein Massaker hätte erleiden können, das die ganze Region erschüttert und das Gewissen der Welt beschmutzt hätte."
Die Libyen-Lüge und die Freude über Gaddafis Tod
Das war eine Lüge. Die einzige "Bedrohung" war die bevorstehende Niederlage der fanatischen Islamisten durch die libyschen Regierungstruppen. Mit seinen Plänen für die Wiederbelebung eines unabhängigen Panafrikanismus, einer afrikanischen Bank und einer afrikanischen Währung, die allesamt durch libysches Öl finanziert werden sollten, wurde Gaddafi als Feind des westlichen Kolonialismus auf dem Kontinent dargestellt, auf dem Libyen der zweitmodernste Staat war.
Ziel war es, Gaddafis "Bedrohung" und seinen modernen Staat zu zerstören. Mit Unterstützung der USA, Großbritanniens und Frankreichs flog die Nato 9.700 Einsätze gegen Libyen.
Ein Drittel davon zielte auf Infrastruktur und zivile Ziele, berichtet die Uno. Es wurden Uran-Geschosse eingesetzt. Die Städte Misurata und Sirte wurden flächendeckend bombardiert. Das Rote Kreuz identifizierte Massengräber, und Unicef berichtete, dass "die meisten [der getöteten Kinder] unter zehn Jahre alt waren".
Als Hillary Clinton, Obamas Außenministerin, erfuhr, dass Gaddafi von den Aufständischen gefangen genommen und mit einem Messer massakriert worden war, lachte sie und sagte in die Kamera: "Wir kamen, wir sahen, er starb!"
Invasion in Afrika
Am 14. September 2016 berichtete der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des britischen Unterhauses in London über den Abschluss einer einjährigen Untersuchung zum Nato-Angriff auf Libyen, die die Begründungen des Angriffs als "eine Reihe von Lügen" bezeichnete – einschließlich der Geschichte über das Massaker von Bengasi.
Die Bombardierung durch die Nato stürzte Libyen in eine humanitäre Katastrophe, bei der Tausende von Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben wurden, während sich Libyen vom afrikanischen Land mit dem höchsten Lebensstandard in einen vom Krieg zerrütteten Staat verwandelte.
Unter Obama dehnten die USA ihre geheimen "Special-Forces"-Operationen auf 138 Länder aus, was 70 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Der erste afroamerikanische US-Präsident startete eine regelrechte Invasion in Afrika.
Das US African Command (Africom) hat seitdem ein Netzwerk von Bittstellern unter kooperativen afrikanischen Regimen aufgebaut, die auf US-amerikanische Bestechungsgelder und Rüstungsgüter erpicht sind – eine Strategie, die an das "Wettrennen um Afrika" im 19. Jahrhundert erinnert.
China: Wer bedroht wen?
Die "Soldat-zu-Soldat"-Doktrin von Africom sieht vor, dass US-Offiziere auf jeder Kommandoebene vom General bis zum Feldwebel eingesetzt werden. Es fehlen nur noch die Tropenhelme.
Es ist, als ob Afrikas stolze Geschichte der Befreiung, von Patrice Lumumba bis Nelson Mandela, von der schwarzen kolonialen Elite eines neuen weißen Herren dem Vergessen anheimgegeben wurde. Die "historische Mission" dieser Elite, warnte Frantz Fanon hellsichtig, besteht in der Förderung eines "zügellosen, aber getarnten Kapitalismus".
In dem Jahr, in dem die Nato in Libyen einmarschierte, also 2011, kündigte Obama die sogenannte "Schwenk nach Asien" an. Fast zwei Drittel der US-Seestreitkräfte sollten in den asiatisch-pazifischen Raum verlegt werden, um "der Bedrohung durch China zu begegnen", wie es sein Verteidigungsminister ausdrückte.
Es gab keine Bedrohung durch China, sondern eine Bedrohung Chinas durch die Vereinigten Staaten. Rund 400 US-Militärstützpunkte bilden einen Bogen entlang der Grenze zu Chinas industriellem Kernland, den ein Pentagon-Beamter stolz als "Schlinge" bezeichnete.
Die USA wenden sich nach Osten
Gleichzeitig platzierte Obama Raketen in Osteuropa, die auf Russland gerichtet waren. Es war der heiliggesprochene Friedensnobelpreisträger, der die Ausgaben für nukleare Sprengköpfe auf ein höheres Niveau als jede andere US-Regierung seit dem Kalten Krieg erhöhte – nachdem er 2009 in einer emotionalen Rede im Zentrum von Prag versprochen hatte, "die Welt von Atomwaffen zu befreien".
Obama und seine Regierung wussten sehr wohl, dass der Staatsstreich, den die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland 2014 gegen die ukrainische Regierung beaufsichtigen sollte, eine russische Reaktion provozieren und wahrscheinlich zu einem Krieg führen würde. Und das hat er auch.
Ich schreibe das am 30. April 2023, dem Jahrestag des letzten Tages des längsten Krieges des zwanzigsten Jahrhunderts in Vietnam, über den ich berichtet habe. Ich war sehr jung, als ich in Saigon ankam, und ich habe viel gelernt.
Ich lernte, das unverwechselbare Dröhnen der Triebwerke der riesigen B-52-Bomber zu erkennen, die ihre tödliche Fracht aus den Wolken abwarfen und nichts und niemanden verschonten. Ich lernte, mich nicht abzuwenden, wenn ich einen verkohlten, mit menschlichen Teilen übersäten Baum erblickte.
Erheben Sie Einspruch
Ich lernte, Freundlichkeit zu schätzen wie nie zuvor. Ich lernte, dass Joseph Heller in seinem meisterhaften Roman "Catch-22 recht hatte: dass der Krieg nicht zu vernünftigen Menschen passt. Und ich lernte etwas über "unsere" Propaganda.
Während des gesamten Krieges behauptete die Propaganda, dass ein siegreiches Vietnam den kommunistischen Virus auf das übrige Asien ausbreiten würde, sodass die große Gelbe Gefahr im Norden des Landes über uns hereinbrechen könnte. Länder würden wie "Dominosteine" umfallen.
Ho Chi Minhs Vietnam war siegreich, und nichts von alledem geschah. Stattdessen erblühte die vietnamesische Zivilisation. Und das trotz des Preises, den sie dafür zahlen musste: drei Millionen Tote. Die Verstümmelten, die Deformierten, die Süchtigen, die Vergifteten, die Verlorenen.
Wenn die derzeitigen Propagandisten es schaffen sollten, ihren Krieg mit China durchzusetzen, wird dieser Preis nur ein Bruchteil dessen sein, was uns bevorsteht.
Erheben Sie Einspruch.
Das ist der zweite Teil des Essays von John Pilger. Den ersten finden Sie hier.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem Magazin Brave New Europe. Hier finden Sie das englische Original. Übersetzung: David Goeßmann.
John Pilger war ein australischer Journalist und Dokumentarfilmer, der am 30. Dezember 2023 im Alter von 84 Jahren verstarb. Er drehte über 60 Dokumentarfilme und schrieb zahlreiche Bücher, von denen viele die Außenpolitik der USA und Großbritanniens scharf kritisierten. Pilger berichtete ausgiebig über Kambodscha, Vietnam, Osttimor, Palästina und die verheerenden Auswirkungen der US-Sanktionen gegen den Irak. In den letzten zehn Jahren war er ein prominenter Unterstützer des inhaftierten Wikileaks-Gründers Julian Assange.
Redaktionelle Anmerkung: in einer früheren Version dieser Übersetzung war von "Uran-Sprengköpfen" die Rede. Gemeint sind Uran-Geschosse, die entweder panzer- oder bunkerbrechende Wirkung entfalten können. Der Passus wurde korrigiert.