Journalismus und Mediendämmerung
Seite 3: Die wilden Datenströme
Der Glaube an die Informationsabhängigkeit ihrer Subjekte gehört zur Frohbotschaft klassischer Medien, die mit festgelegten Formaten bekanntlich ihre Spalten auch dann füllen, wenn es nichts zu sagen gibt. Doch nicht nur das Format selbst, sondern auch die Urheberschaft von Texten respektive Meinungen ist inzwischen gleichfalls in Auflösung begriffen, was in seiner Konsequenz für den klassischen, aber auch den Online-Journalismus nicht abzusehen ist.
Die Washingtonpost.com etwa bietet Lesern in begrenztem Umfang eine Chance auf eigene Nachrichtenmixe aus Texten der Zeitung an („Mashington Post“). Auf vielen Webseiten sind inzwischen per RSS ("really simple syndication") Nachrichtenticker installiert. Patchwork, Mix, Remix, Versatzstück-Künste, Plagiat sowie Copy-and-Paste-Seligkeiten könnten der zarte Vorschein auf immer ungebändigtere Datenströme sein, die sich schließlich vollends von ihren Urhebern lösen. Noch verbietet man zwar bei der Washington Post, aktiv in Inhalte einzugreifen, weil zuvor Projekte dieser Art etwa bei der "Los Angeles Times", Editorials von Lesern direkt bearbeiten zu lassen, im Chaos endeten (Where is the Wikitorial?). Aber wie lange noch lassen sich die Datenströme in einer verblogten Welt unzähliger Autoren erfolgreich domestizieren?
Die Jagd auf Datenströme erscheint wie der Kampf der wirklichen Wirklichkeit gegen die virtuelle und könnte da enden, wo der Hase in seinem Wettkampf gegen den Igel unterliegt. Jüngst hat das LG Hamburg Forenbetreibern wieder schwer wiegende Pflichten auferlegt: Forumsbeiträge müssten mit geeigneten Mittel vor Veröffentlichung geprüft werden, um rechtswidrige Inhalte automatisch oder manuell wegzufiltern (Das Internet in den Mühlen des Rechts). Das könnte das Ende freier Foren sein, weil bei der Vielzahl flüchtiger Teilnehmer solche Kontrollpflichten nicht mehr sinnvoll erfüllt werden können. Erst wenn juristisch präzise arbeitende Subsumtionsalgorithmen existierten, könnte diese Aufgabe gelöst und freilich dann „in einem Aufwasch“ auch die klassische Tätigkeit von Gerichten gleich miterledigt werden.
Doch bändigt man durch technisch avancierte Vorzensur die unheimliche virtuelle Welt, die so gar nicht in die klassisch juristischen Korsettagen von Haftung, Verantwortung und Verursachung passt? Denn wild wuchernde Foren, mit entsprechenden technischen Maßnahmen verschlüsselt, eröffnen viel weit reichendere Möglichkeiten, kriminell aktiv zu werden als Foren, die zumindest nachmoderiert werden können. Entscheidend wäre es im Fall des LG Hamburgs gewesen, nach Lösungen zu fahnden, die Meinungsfreiheit und Rechte Dritter in das rechte Verhältnis setzen. Gäbe es nicht die Fixierung auf das unselige Abmahnrecht, bereits einen einmaligen Vorfall zur juristischen Superposse mit Unterwerfungserklärungen kostenintensiv hochzufahren, ließe sich das einfacher gestalten.
Der Grundsatz journalistischer Sorgfalt könnte lauten: Der erste Hinweis auf rechtswidriges Handeln gibt dem Betreiber die Chance, ohne rechtliche Sanktionen und Kostenpeitsche inkriminierte Inhalte zu entfernen. Entscheidet er sich dagegen, mögen die Gerichte entscheiden. Anderenfalls wird die virtuelle Öffentlichkeit, die zum ersten Mal in der Geschichte von Massengesellschaften einen demokratischen Anspruch zumindest technisch einlösen kann, wieder zur schweigenden Masse entmündigt.
Quo vadis Informationsgesellschaft?
Journalismus kann in seinem klassischen Verständnis nur überleben, wenn er sich als relatives Herrschaftswissen im Meer der Meinungen behaupten kann und zugleich die besseren Informationen besitzt. Im Fall der Demokratisierung der Quellen und das heißt auch der aufscheinenden Verfügung über erweiterte Wahrnehmungsoptionen wird dieser Anspruch fragil. Ist die Informationsgesellschaft in ihrem Zuschnitt als politische Bewusstseinsgemeinschaft nicht selbst ein aussterbender Dino?
Die Aufmerksamkeitsressourcen der Gesellschaft werden inzwischen enorm strapaziert bzw. ausgebeutet. Der allumfassende Betroffenheitsdiskurs gegenüber Glanz und Elend der Welt wird sich nicht beliebig prolongieren lassen. Geradezu paradigmatisch sind die gefestigten Ansichten der wohlgenährten Welt vom Hungersterben des schäbigen Rests und der unerträglichen Ausbeutung natürlicher Ressourcen. In dieser Klage richten es sich Menschen und potentiell Verantwortliche bequem ein. Menschen ziehen hinter politisch korrekten Ansichten ihre technisch aufgerüstete Aufmerksamkeit vom Weltgeschehen wieder ab, weil die komplexen Zumutungen des Weltgewissens zu schwer werden.
Die neue Lust an der Virtualität und die wuchernden Erlebniswelten sind ja zugleich auch eine Abkehr vom Realen. Wirklichkeit ist in überinformierten Gesellschaften keine leicht verfügbare, wenn je erreichbare Kategorie mehr, selbst wenn die Absichten ihrer journalistischen Konstrukteure die besten wären. Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gerät in unabsehbare Bewegung, weil Medienemanzipation auch heißt, eigene Zentren zu bilden. Menschliche Aufmerksamkeitsressourcen sind nicht beliebig steigerbar. Wenn sich der Informationsmoloch „Internet“ weiterhin entfesselt, wird die verfügbare Aufmerksamkeit noch weiter versickern und jenseits der virtuellen Agora gerade das alte Machtspiel von Kriegs- und Foltersemantikern noch ungehemmter zulassen.
Selbst dass Medien Skandale und damit bestenfalls Verhaltensänderungen auslösen, was sie ja oft als ihre Hauptaufgabe ansehen, ist inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr. Karl Heinz Stockhausen wurde nach dem 11.September 2001 angefeindet, weil er es gewagt hatte, die ästhetische Wirkung der Anschläge auf das WTC im Vergleich zu weniger erhabenen Kunstwerken zu bewundern (Terroranschläge als größtes Kunstwerk bezeichnet). Das war in der Hysterie jener Tage so skandalträchtig wie jeder Widerwille gegen die parareligiöse Wut der kriegsbereiten US-Regierung. Heute würde dieser Vergleich kaum mehr aufmerksamkeitsgeeignet sein, weil sich Terrorismus trotz und wohl auch wegen seiner angestrengt einseitigen Bekämpfung als alltäglicher Schatten der Gesellschaften behauptet.
Die Entskandalisierung der Katastrophen im üblichen journalistischen Krisenmanagement, die Gleichgültigkeit gegenüber jeder Information, ist vielleicht der eigentliche Skandal apathischer Aufmerksamkeitsgesellschaften. So werden Katastrophen zu journalistischen Megaereignissen in der Komplizenschaft mit leicht erregbaren und noch leichter zu sedierenden Zeitgenossen hochgefahren, um dann im medialen Abseits bzw. auf der Müllhalde des Weltgewissens zu landen.
Informationswut und Anästhetisierung gedächtnisschwacher Medienuntertanen sind eins geworden. Der neue Aufmerksamkeitstypus wird so dickfellig, weil er zuvörderst im Modus der Katastrophe lebt und sie schließlich als Erlebnisgesellschafter nur noch als eine von vielen Unterhaltungsformen begreift. Für Karl Kraus war die Presse seiner Zeit der Skandal schlechthin, ein permanenter Skandal, der die „Fackel“ zu einer auflagenstarken Zeitschrift machte und ein lebenslängliches Motiv der Kritik schuf, so wenig die „Neue Freie Presse“ das Problem war, sondern der semantisch nicht erläuterungsbedürftige Faschismus, der deshalb Interpretationsgenies wie Kraus wenig journalistische Angriffsflächen bot. Von jener großen Zeit der freien Presse können Journalisten heute nur träumen, sofern ihnen überhaupt noch genügend Überlebenszeit bleibt, sich in den gegenwärtigen Untiefen herrschaftsgeladener Semantik zu ergehen und dabei sogar wahr-genommen zu werden.