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Judentum und Pazifismus

Eine Spurenlese gegen den Strich - zugleich ein Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog unter friedensbewegtem Vorzeichen

Ernst Tollers Theaterstück "Nie wieder Friede" von 1936 ist - getarnt als Komödie - schon Vorbote einer Verzweiflungstat. Pazifisten sind tragische Gestalten und gehören zu allen Zeiten einer aussterbenden Spezies an. Warum sollte man ihrem utopischen - weil nirgends nachhaltig verankerten - Realismus Gehör schenken? Die richtige Antwort auf diese Frage kommt in der Regel zu spät und bleibt auch dann immer nur kurz im Gedächtnis der politischen Klasse haften. Der bestechliche Teil der Pazifisten wird alsbald rekrutiert zur Vorbereitung des nächsten Kriegsäons. Der Rest sollte sich warm anziehen, bevor es im Anlauf zum Zerfetzen von Menschenleibern erneut heißt: "Nie wieder Friede!"

Wenn sich im Weltkriegs-Jubiläumsjahr 2014 angesichts von revisionistischen Geschichtsvernebelungen und einer unverdrossenen Remilitarisierung der Politik solche trüben Gedanken einstellen, suche auch ich nach Schuldigen. Schuld sind die fehlenden Pazifisten in den großen Parteien, im Bürgertum, in den wissenschaftlichen Eliten, in den maßgeblichen Medienredaktionen ... und in den Kirchenleitungen. Ihr Nichtvorhandensein ist verantwortlich dafür, dass sich der Antikriegsprotest merklich in populistische und rechts-esoterische Foren hinein verlagert.

Der bedrückende Tiefstand von Republik und bürgerlicher Geisteskultur im Zeitalter der neoliberalistischen "Pragmatik" zeigt sich vorzüglich in dem Umstand, dass der empirisch leicht nachweisbare Bankrott des militärischen Heilsglaubens allenthalben unterschlagen wird und pazifistische Dissidenten nicht einmal mehr als geduldete Außenseiter zu Wort kommen. Dies sollte jeder denkende Mensch als gruselig empfinden.

Trost gibt es in der Geschichte wenig zu finden. Vor den Weltkriegen und dann wieder 1945 gab es mannigfache Hoffnungen, man könne durch einen anderen geistigen Überbau - insbesondere durch eine aus der Aufklärung gespeiste Frömmigkeit des Rechts - alles zum Guten wenden. Doch die Basis des Weltgeschehens blieb kriegerisch, und der geistige Überbau wurde es im Handumdrehen auch wieder.

Das Ende des kalten Krieges hätte einer Ära der kooperativen Intelligenz den Weg bahnen können. Das Übermaß an Menschenverachtung, das nicht nur die von interessierter Seite protegierten Gewalt-Islamisten, sondern zuvorderst ihre westlichen Beförderer seit dem Golfkrieg 1991 auf die Bildschirme gebracht haben, ist zu schwer erträglich, als dass es unserem Gedächtnis stets präsent sein könnte. Wer möchte da das Wort "Zivilisation" noch in den Mund nehmen?

Wer sich im Bewusstsein des zivilisatorischen Ernstfalls im Europa der Gegenwart zu Wort meldet, findet sich alsbald in die Kategorie "Putin-Versteher" eingereiht. Gegen die Dummheit der tagespolitischen Spaßmacher, denen es nun wirklich nicht mehr ums Verstehen geht, kämpfen einige Autoritäten der alten Republik vergebens. Der politische Wetterhahn zeigt wieder nach rechts.

Wie sollten wir angesichts dieser Entwicklung erwarten, dass sich ausgerechnet in dem symbolträchtigen - und deshalb global durchaus sehr bedeutsamen - Israel-Palästina-Konflikt die Dinge zum Besseren hin entwickeln? Betreiber und Profiteure von Gewalteskalationen kommen wohl kaum als Ratgeber wider die Gewalteskalation in Frage.

"Schwerter zu Pflugscharen" - Was sich Religionen zu sagen hätten

Der nachfolgende Beitrag soll keine Lösungen präsentieren, sondern ist Ergebnis einer friedensbewegten Spurenlese in bekümmerten Tagen. In der ersten Woche des Gaza-Krieges 2014 kam mir die, an sich allgemein bekannte, Tatsache wieder in den Sinn, dass der Pazifismus in unserem Kulturkreis - zumal im deutschsprachigen Raum - ohne eine Würdigung der jüdischen Inspirationen und Beiträge nicht darstellbar wäre. Selbst die Sowjetunion hat 1959 bei ihrem Geschenk einer Friedensskulptur an die Vereinten Nationen im Bild den Propheten Micha zitiert:

Denn von Zion wird Weisung ausgehen [...]. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

Die für den Krieg instrumentalisierten Religionskomplexe sind ein trauriges Epiphänomen. Gleichwohl ist die naive These, die Religionen, zuvorderst die drei sich auf Abraham berufenden Religionen, seien die eigentliche Wurzel der Gewalt, außerordentlich weit verbreitet. Bezogen auf das Epiphänomen der "religiösen" Kriegsassistenz singe ich als Christ selbstverständlich auch John Lennons Liedstrophe: "Imagine thereʼs: no countries [...]. / Nothing to kill or die for / And no religion too!"

Bezogen auf die materielle Basis der Kriegsmaschine erhoffe ich mir indessen einen interreligiösen Dialog - zuvorderst zwischen den drei "abrahamitischen Religionen", der sich nicht in den üblichen rituellen Absagen an die Gewalt erschöpft. Glaubhaft wäre allein ein aktiver Widerstand gegen die Kriegsapparatur, von dem innerhalb der verfassten Religionen derzeit allerdings so gut wie gar nichts zu spüren ist.

Das Christentum, meine religiöse Heimat, ist immerwährend auf das geschwisterliche Gespräch mit dem Judentum angewiesen, weil es sonst, wie ungezählte Exempel der Geschichte belegen, die Verbindung zu Jesus von Nazareth verliert und sich in platonische Luftgefilde verflüchtigt. In diesem Dialog sollte es trotz aller Abgründe der Geschichte heute nicht mehr nötig sein, dass projüdische Pazifisten aus dem christlichen Spektrum stets betonen, keine Antisemiten zu sein. Dies ist auch eine Frage des Respekts und der gegenseitigen Achtung.

Notwendig ist hingegen die Erinnerung daran, dass sich der Pazifismus in unserem Kulturkreis, angefangen mit dem obligaten Pazifismus [1] der ersten drei Jahrhunderte der Kirchengeschichte - jüdischen Wurzeln verdankt. Das im "christlichen Abendland" über siebzehn Jahrhunderte perfektionierte Kriegsmorden ist nicht nur ein Verrat an Jesus aus Galiläa, der unter den Bedingungen einer hochgerüsteten Besatzungsmacht und lange vor Mahatma Gandhi den alternativlosen Weg einer Intelligenz der aktiven Gewaltfreiheit aufgezeigt hat.

Vielmehr handelt es sich bei der abendländischen Kriegsbesessenheit ebenso um einen Abfall von der Religion der Propheten Israels, die den Glauben an Militärkomplexe als Wahn entlarvt haben und von den frühchristlichen Schriftstellern als Autoritäten betrachtet worden sind, die der gesamten Zivilisation eine Perspektive eröffnen. Jesaja und Micha beurkunden das im Interesse aller Menschen liegende "Urmodell der pazifizierten Internationale" (Ernst Bloch).

Mit Blick auf ihre Instrumentalisierung im Dienste der Kriegsgewalt hätten die Religionen und Konfessionen, die sich auf Abraham berufen, gegenwärtig allen Grund, einander ihre Bedürftigkeit offenzulegen und sich im Rahmen eines Bündnisses wider den militärisch-industriellen Komplex dabei zu helfen, den Blick auf die ursprüngliche Kunde wieder freizulegen: shalom.

Zwei unvermeidbare Unschärfen

Auf zwei unvermeidbare Unschärfen bezüglich der in dieser Spurenlese verwandten Begrifflichkeiten sei vorab hingewiesen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war "Pazifismus" noch eine Überschrift für höchst unterschiedliche Standorte und Konzepte. Als Pazifist konnte z.B. auch gelten, wer eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit einforderte, gleichzeitig aber trotz der modernen Massenmordtechnologien am Paradigma einer "Lehre vom gerechten Krieg" festhielt, welches der Lügenwalze des Krieges - bis zur Stunde - alle Straßen freimacht.

Durchaus problematisch ist in vielen Fällen auch die Bezeichnung "jüdischer Pazifist". Wer wie ich im 3. Jahrtausend unserer Zeitrechnung den Terminus "Rasse" bezogen auf die menschliche Familie kategorisch ablehnt (ebenso ein erbbiologisches Verständnis von "Volk") und sich insbesondere von den Definitionen der Rassenantisemiten radikal abgrenzen möchte, muss heute klarstellen, dass das Judentum eine religiöse Überlieferungsgemeinschaft ist.

Wenn ein Friedensdenker aus einer jüdischen Familie nun als "jüdischer Pazifist" bezeichnet wird, müsste also streng genommen in jedem Einzelfall nachgewiesen werden, dass zumindest irgendeine nennenswerte geistige Verbindung zur Überlieferungs- und Kulturgemeinschaft des Judentums besteht. (Analoges gilt trotz des Sonderfalls für alle "Konfessionsbezeichnungen".) Auf die vielschichtige Problematik, die sich unter den genannten Prämissen und mit Blick auf die Geschichte kaum befriedigend auflösen lässt, möchte ich hier lediglich aufmerksam machen.

Pioniere der deutschen Friedensbewegung im 19. Jahrhundert

Die Anfänge einer organisierten Friedensbewegung im Sinne des heutigen Verständnisses reichen zurück ins frühe 19. Jahrhundert. Hierbei nehmen Pazifisten aus den USA und aus England eine führende Stellung ein. In Deutschland blieb der Friedensgedanke - trotz Immanuel Kant - noch lange eine ganz unterbelichtete Sache. Im Zusammenhang mit der 1850 gegründeten und nur kurz bestehenden Königsberger Friedensgesellschaft nennt Karl Holl den jüdischen Radikaldemokraten Johann Jacoby (1805-1877), der ab 1867 auch der "Internationalen Friedens- und Freiheitsliga" angehörte.

Im wilhelminischen Deutschland bekannte sich der jüdische Philosoph und Neukantianer Hermann Cohen (1842-1918), eingedenk des "sittlichen Enthusiasmus der Propheten", zum Pazifismus und verwies ausdrücklich auf das Gebet an hohen Festtagen der Juden: "Auf dass alle Erschaffenen sich vereinigen in einem Bunde." Der Schriftsteller Eduard Loewenthal (1836-1917), aus einem frommen jüdischen Elternhaus kommend, gründete 1874 einen "Deutschen Verein für internationale Friedenspropaganda".

Maßgeblicher Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) war 1892 der gebürtige Wiener und frühe Pazifist Alfred Herrmann Fried1 [2] (1864-1921). Er erhielt 1911 den Friedensnobelpreis, der gemäß Stifterintention ja einmal der Auszeichnung von engagierten Pazifisten gedient hat. Wegen seiner Herkunft war Fried, der trotz fehlender religiöser Bindung eine Distanzierung vom Judentum durch Konfessionswechsel ablehnte, auch Zielscheibe für antisemitische Angriffe.

Nicht alle Vertreter der Friedensbewegung zeigten sich in dieser Sache so solidarisch wie Bertha von Suttner. Insgesamt lassen sich viele Berührungspunkte zwischen Pazifismus und Kampf gegen den Antisemitismus aufweisen. Ludwig Quidde (1858-1941) zum Beispiel, der bereits 1881 mit einer Schrift gegen die Antisemitismus-Agitation in der deutschen Studentenschaft hervorgetreten war, gehörte ab 1892 ebenfalls der Deutschen Friedensgesellschaft an und wurde für seinen Einsatz in der deutschen Friedensbewegung 1927 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Pazifisten aus jüdischen Elternhäuser im Bannkreis des ersten Weltkrieges

Gemeinhin wird die große patriotische "Opferbereitschaft" der deutschen Juden nach Beginn des ersten Weltkrieges herausgestrichen, die mit der trügerischen Hoffnung verbunden war, durch Kriegsdienstleistung gesellschaftliche Akzeptanz und uneingeschränkte Gleichberechtigung erlangen zu können. Der Historiker Veit Valentin, später ein Anwalt von Republik und Pazifismus, unterschrieb im Oktober 1914 einen kriegerischen Aufruf deutscher Wissenschaftler.

Selbst ein Mann wie Martin Buber [3] (1878-1965) wurde - zum Entsetzen seines pazifistischen Freundes Gustav Landauer (1870-1919) - von der Kriegsbegeisterung erfasst. Unter den jungen Zionisten gehörte derweil Gershom [Gerhard] Scholem (1897-1982), ein Bruder des im KZ Buchenwald ermordeten antistalinistischen Kommunisten Werner Scholem (1895-1940), schon 1915 zu jenen, die jeglicher Kriegsverherrlichung widersagten und sich zu einem aktiven Pazifismus bekannten. Pazifismus und Friedenstheologie sind aus der Geschichte des Zionismus nicht wegzudenken, worauf wir später noch zu sprechen kommen.

Der Religionsphilosoph Martin Buber am Schreibtisch von Joseph Wittig in Neusorge (Schlesien) am 18. Januar 1937. (Fotoarchiv Peter Bürger)

Andere Intellektuelle aus jüdischen Familien, darunter Walter Benjamin, der Ungar Georg Lukács oder Theodor Lessing, waren ebenso wenig daran interessiert, Kriegsdienst für die Herren Kaiser zu leisten. Günther Anders (1902-1992) [Günther Siegmund Stern] gründete 1917 zusammen mit anderen noch jugendlichen Freunden einen "Bund für ein vereinigtes Europa ohne Grenzen", und diesem "Kinderspiel" folgte ein langer pazifistischer Lebens- und Leidensweg.

Die von Siegfried Jacobsohn (1881-1926) begründete "Weltbühne" wurde ab 1918 ein bedeutsames Forum für die pazifistische Linke. Kurt Eisner (1867-1919), der von einem rechten Studenten ermordete erste Ministerpräsident des bayrischen "Freistaates", wandelte sich ab 1915 zum entschiedenen Pazifisten und gehörte zum Antikriegsflügel der Sozialdemokratie. (Als Repräsentant der Münchener Räterepublik wurde auch Bubers Freund Gustav Landauer von Freikorps-Soldaten ermordet.)

Rosa Luxemburg (1871-1919), Tochter jüdischer Eltern, war maßgebliche Verfechterin von Massenstreiks zur Kriegsverhinderung und wandte sich als kompromisslose Internationalistin 1914 gegen den Kriegskurs der deutschen Sozialdemokratie. Zu den Gegnern der "sozialdemokratischen" Burgfrieden-Politik im ersten Weltkrieg zählten nicht wenige Sozialisten aus jüdischen Elternhäusern, darunter z.B. Paul Levi (1883-1930) und Kurt Rosenfeld (1877-1943).

Interkonfessionelle Zusammenarbeit gegen Ende der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik sahen sich Pazifisten fortschreitend repressiven Bedingungen ausgesetzt, woran zuletzt Parteien wie die SPD und das Zentrum eine erhebliche Mitverantwortung trugen. Die Pazifisten gehörten jedoch zu den entschiedensten Kritikern des Antisemitismus und sie forderten - neben einer demokratischen Friedenserziehung - Kompetenzen der Gesellschaft im Sinne des gewaltfreien Widerstandes gegen Unrecht und Unterdrückung. Innerhalb der maßgeblichen Milieus und überhaupt bei den Menschen in Deutschland hätte es ab 1933 wohl weitaus mehr geistige Immunität und Alltagsresistenz wider die faschistische Mörderbande gegeben, wenn die Weimarer Republik ein freundlicherer Ort für Pazifisten gewesen wäre.

Zu den jüdischen Vertretern im pazifistischen Spektrum zählten außerordentlich prominente Persönlichkeiten. Bei den Unterzeichnern des "Manifestes gegen die Wehrpflicht" von 1926 [4] und der Erklärung "Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend" [5] von 1930 findet man u.a. Martin Buber, Albert Einstein, Sigmund Freud und Kurt Hiller, außerdem den US-amerikanischen Rabbiner Judah Leon Magnes (1877-1949), Pazifist und ab 1925 Kanzler der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Am 19. März 1929 wurde die "Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen [!] für den Frieden" gegründet, dem der Friedensbund Deutscher Katholiken (FDK), die Deutsche Vereinigung des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen und der Jüdische Friedensbund angehörten.2 [6] Zur Aufgabenstellung gehörte die "Mitarbeit an der Herbeiführung eines kriegslosen Zustandes". Im Gründungsaufruf, unterzeichnet u.a. von Dr. Leo Baeck (Feldrabbiner im ersten Weltkrieg), Albert Einstein und dem Zentrumspolitiker Friedrich Dessauer, hieß es:

Gestützt auf das Zusammenwirken aller gleichgesinnten Kräfte will die Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen zur Schaffung einer allgemeinen Friedensatmosphäre beitragen und durch praktische Arbeit die völkerrechtliche Sicherung eines dauernden Friedens fördern. Dieselben Gedanken und Empfindungen beleben heute die Einsichtigen aller Völker. Die Bekenner der Religionen der Liebe und des Friedens werden einander über die Grenzen hinweg die Hände reichen.

Nach seiner eigentlichen Konstitution stand der Jüdische Friedensbund unter dem Vorsitz von Oscar Wassermann (1869-1934). Ortsvereine werden für Leipzig, Köln, Frankfurt und Hamburg genannt. Es schlossen sich - korporativ - auch andere jüdische Vereinigungen an. Zu den Gründern gehörten der jüdische Friedenstheologe und bekannte Rabbiner Leo Baeck [7] , Albert Einstein sowie weitere Rabbiner und Gemeindevorsteher aus mehreren Orten, darunter Wilhelm Kleemann (1869-1969) aus der Berliner Jüdischen Gemeinde.

In einer Predigt [8] zum Versöhnungstag in der Synagoge zu Bielefeld am 14. Oktober 1929 setzte der friedensbewegte, später in die USA emigrierte Rabbiner Dr. Hans Kronheim dem fatalistischen Weltbild der Bellizisten die Botschaft der Propheten Israels entgegen:

Wir glauben an die Zukunft des Menschengeschlechts, glauben an einen Fortschritt. Wir glauben, dass die Zeit kommen wird, da Gewalt und Unrecht aufhören und an die Stelle der kriegerischen Auseinandersetzung eine friedliche Verständigung der Völker treten wird.

Es gab also eine jüdisch-christliche Ökumene der Pazifisten. Im Zusammenhang mit dem ersten "Juden-Boykott" im April 1933 bat Oscar Wassermann als Vorsitzender des Jüdischen Friedensbundes den Breslauer Kardinal Adolf Bertram später freilich vergebens um ein Wort der deutschen Bischöfe, während sich der alsbald von den Herren Bischöfen fallengelassene und von den Nazis aufgelöste Friedensbund Deutscher Katholiken bei einer Tagung in Düsseldorf am 2.4.1933 mit den drangsalierten jüdischen Geschwistern solidarisierte.3 [9]

Die Nazi-Sichtweise: "Pazifismus als Handlanger des Judentums"

Der NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg, seit 1921 Hauptschriftleiter des "Völkischen Beobachters", betrachtete den Pazifismus als "Hilfstruppe des Judentums", agitierte gegen eine "jüdisch-demokratisch-pazifistische Presse" und drohte schon während der Weimarer Republik dem "jüdischen Pazifismus" mit Gewalt:

Jeder Deutsche [...] hätte das Recht, wenn der Staat nicht in der Lage ist, die Ehre des Volkes zu wahren, diesem Kurt Tucholsky bei der ersten Begegnung mit einer Hundepeitsche die Meinung zu sagen, bis ihm die Lust zu seinen Unflätigkeiten vergeht.

"Von Anfang an", so Karl Holl, "hatte der Nationalsozialismus den Pazifismus mit Judentum und Demokratie assoziiert".4 [10] Unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung 1933 war deshalb "das Schlimmste für Leib und Leben aller bekannten Vertreter der Friedensbewegung" zu befürchten, besonders gefährdet waren jedoch jüdische Pazifisten (bzw. Pazifisten "mit jüdischer Herkunft").

Holl nennt in diesem Zusammenhang namentlich die international engagierte Gertrud Baer (1890-1981), die Frauenrechtlerin Constanze Hallgarten (1881-1969), Albert Einstein (1879-1955), den Leiter der Republikanischen Beschwerdestelle Alfred Falk, geb. Cohn (1896-1951), den im ersten Weltkrieg zum Pazifisten gewordenen Sozialdemokraten Arnold Freymuth (1872-1933), den Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte Kurt Richard Grossmann (1897-1972), den DFG-Mitbegründer Adolf Heilberg (1858-1936), den Schriftsteller Kurt Hiller (1885-1972), Magnus Hirschfeld (1868-1935), den "Friedenswarte"-Herausgeber Arnold Kalisch (1882-1956), Hermann Ulrich Kantorowicz (1877-1940), Robert René Kuczynski (1876-1947), den schon bald von den Nazis auf tschechischem Boden ermordeten Theodor Lessing (1872-1933), Ernst Toller (1893-1939) und den Historiker Veit Valentin (1885-1947).

Der Physiker, Verleger und Zentrumspolitiker Friedrich Dessauer (1881-1963), prominenter Vertreter der katholischen Friedensbewegung, kam aus einer ursprünglich jüdischen Industriellenfamilie und wurde wegen "nichtarischer Abstammung" zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Nach monatelanger Inhaftierung emigrierte er 1934.

Parallel zur Bücherverbrennung vom April 1933 riefen [11] die Führer der "Deutschen Studentenschaft" auf zur Denunziation von jüdischen Professoren und "sämtlicher Hochschullehrer, deren wissenschaftliche Methode ihrer liberalen bezw. insbesondere pazifistischen Einstellungen entspricht".

Jüdische Friedens-Theologie und Pazifismus im Zionismus

Die zionistische Bewegung im späten 19. Jahrhundert ist vor dem Hintergrund des in Europa erstarkenden Rassenantisemitismus und der Pogromwelle in Russland von 1881 zu beleuchten. Die Suche nach einer Heimstatt war die Suche nach einem Ort des geschützten Lebens. Ethischer Universalismus, eine von Thomas Nauerth5 [12] über Beispiele im Internet dokumentierte Friedenstheologie [13] und der pazifistische Glaube, dass vom Zion das Heil der Völker in einer Welt ohne Waffen ausgehen werde, sind kennzeichnend für nicht wenige Persönlichkeiten des frühen Zionismus.

Als sich 1918 in Palästina erstmals eine bewaffnete Miliz von jüdischen Siedlern bildete, erinnerte der pazifistische Zionist Aaron David Gordon (1856-1922) die Bewegung in einem Text [14] an das Prophetenwort "... und nimmer werden sie Krieg lernen" und fragte in schierer Verzweiflung über die Anpassung an die Methoden der Rüstungsgläubigen: "Wollen wir wirklich nur ein Volk sein mit der Faust eines Bösewichts, ein Volk von Raubtieren?"

Der Zionist Achad Ha-Am (1856-1927) [Geburtsname Ascher Ginsburg] warnte davor, jemals auf den jüdischen "Vorrang in der Welt der Sittlichkeit zu verzichten" und nahm Stellung [15] gegen die zunehmende Einflussnahme militanter Nationalisten:

Wir können es begreifen - und auch dulden -‚ wenn einzelne Glieder des jüdischen Volkes, hingerissen von dem Ideal des Übermenschen im Sinne Nietzsches und begeistert von der Predigt Zarathustras die Propheten Israels verleugnen und ihr individuelles Leben nach diesen "neuen Tafeln" einzurichten suchen. Aber wir können es nicht begreifen - geschweige denn dulden - wenn wir die seltsame Erscheinung beobachten, dass diese Stürmer die neue Lehre dem jüdischen Volke aufoktroyieren wollen, um durch sie das Leben der gesamten Nation umzuwandeln ...

Der jüdische Pazifist und Zionist Natan Hofshi [16] (1889-1980), im Jahre 1909 aus Polen emigriert, bekannte sich nach dem tödlichen Zusammenstoß zwischen Juden und Arabern am 29. Februar 1920 im obergaliläischen Tel Chai noch entschiedener zur Gewaltfreiheit und sah zeitlebens das "Zeugnis über die Einheit der Menschheit, der völligen Gleichheit aller Menschen als Geschwister und die Heiligkeit des menschlichen Lebens" als die besondere Mission des Judentums an.

Hans Kohn6 [17](1891-1971), Historiker, pazifistischer Zionist und seit 1921 Mitglied der "War Resistersʼ International", schrieb 1928 in seinem Essay "Judentum und Gewalt" [18]:

Das Judentum hat den Kampf gekannt, das zähe Ringen um die Schwere der Aufgabe, den Mut, um dieser Aufgabe willen alles zu ertragen, und das Martyrium. Aber es hat den Krieg gehasst, den es seit zwei Jahrtausenden nicht mehr geführt hat, den organisierten Mord, wie jede Gewalttat überhaupt. Jeder Jude trägt in seinem Blute eine instinktive und bis zur Heftigkeit gesteigerte Abneigung gegen rohe Gewalt, Mord und Krieg. Der Heroismus des Krieges, der sportliche Geist des Wettbewerbes sind ihm unverständlich. In talmudischer Zeit wird diese Erkenntnis von der Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechtes, von der Würde und Größe jedes einzelnen Menschen immer wieder betont. "Wo immer du die Spur eines Menschen wahrnimmst, dort steht Gott vor dir.

"Brit Schalom" und Martin Bubers "hebräischer Humanismus"

1925 wurde unter Vorsitz des führenden Zionisten Arthur Ruppin der Brit-Shalom (Friedensbund) gegründet, der sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern sowie die Gründung eines binationalen jüdisch-palästinensischen Staates einsetzte. Dem Bund, der allerdings nie mehr als 100 Mitglieder zählte, gehörten auch Hans Kohn, Yehoshua Radler-Feldmann (1880-1957) und Robert Weltsch (1891-1982), der Redakteur der "Jüdischen Rundschau", an.

Martin Buber (1878-1965) bei seinem letzten Besuch im Haus kath. Dichtertheologen Joseph Wittig (1869-1949) am 18.1.1937 in Neusorge (Schlesien). (Fotoarchiv Peter Bürger)

Judah Magnes, erster Präsident der Hebräischen Universität in Jerusalem, stand ihm nahe und wirkte für die Ziele des Bundes später in der 1942 gegründeten "Ichud" (Union, Einigung). Vor dem XIV. Zionistenkongress hat Arthur Ruppin die Perspektive eines Zwei-Nationalitäten-Staates in Palästina vorgetragen. Dieser sollte, so Hans Kohn, ein Gemeinwesen sein, "in dem beide Völker ohne Vorherrschaft des einen und ohne Bedrückung des anderen in voller Gleichberechtigung zum Wohle des Landes arbeiten"7 [19].

Es stellt sich die Frage, ob man die folgende, bald nach Gründung des Brit-Shalom von Kohn niedergeschriebene Vision heute als Phantasterei oder als Realismus bezeichnen muss:

Geschichtlich und geographisch ist Palästina ein Land des Friedens. [...] Dies soll auch in seiner äußeren Stellung zum Ausdruck kommen, es soll ein neutrales Land unter dem Schutz des Völkerbundes werden, eine Stätte nationalen und internationalen Friedens, die durch Geschichte und Lage in naher Zukunft auch der Sitz des Völkerbundes sein sollte. [...] Ein im inneren Leben friedliches, prosperierendes und in seiner kulturellen Mehrfältigkeit autonomes Palästina, das, auch nach außen stets neutral, unverletzlich und unbewaffnet, Frieden wahrt und ausstrahlt, kann die erste große Tat des Völkerbundes auf seinem mühsamen Wege zu seiner wahren Form und Aufgabe werden.

Dem für Frieden und binationalen Staat eintretenden Brit-Shalom war zusammen mit Gershom Scholem und dem in Berlin geborenen Philosophen Ernst Akiba Simon (1899-1988) - auch Martin Buber verbunden.8 [20] Buber gehörte wie Chaijim Weizmann, der erste israelische Staatspräsident, zum demokratischen Flügel ("Zionei Zion") der zionistischen Bewegung.

Er hatte zunächst, trotz des frühen Vorbildes seines Lehrers Achad Ha-Am, noch keinen ausgeprägten Sinn für die sogenannte "Araber-Frage". 1917 warnte Buber jedoch vor einem "Hineingezogenwerden in die imperialistische Okzidentalisierung des zukünftigen jüdischen Gemeinwesens", und spätestens seit dem XII. Zionistenkongress (Karlsbad 1921) votierte er für eine sehr weitreichende "Politik der Verständigung mit den Arabern". Mitnichten war seine - über eine neu ausgerichtete jüdische Frömmigkeit entwickelte - Philosophie des Dialoges rein theoretisch oder weltfremd.

Gabriel Stern zufolge hat kein Geringerer als David Ben-Gurion seinen "Freund und Widersacher" Martin Buber als "sehr realistisch und wirklichkeitsnah" beschrieben. Nach Gründung des jüdischen Staates Israel 1948 erklärte Martin Buber als loyaler Zionist:

Wir sind zwar durch das falsche Tor in den Staat eingetreten, aber jetzt besteht der Staat Israel, und wir müssen in seinem Rahmen für die Gleichberechtigung der arabischen Minderheit arbeiten.

Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts von Buber und vielen anderen im Rahmen eines Hebräischen Humanismus [21] vorgetragenen Warnungen vor einer Spirale der Gewalt sind Zeugnis eines ausgeprägten Realitätssinns, doch sie wurden nicht gehört.

Hannah Arendt über nationalreligiöse Ideologisierung

Kaum zu übersehen ist, dass der pazifistische Flügel innerhalb des Zionismus sich weithin durch eine - freilich nicht streng orthodoxe - religiöse Grundhaltung ausgezeichnet hat. Von Wladimir Jabotinsky [22] (1880-1940), einem Vertreter der "Zionisten-Revisionisten" und frühen Lehrer von Menachem Begin, behauptet Gabriel Stern hingegen, er sei erklärter Atheist gewesen und habe obendrein erklärt:

Wir Juden haben nichts, aber auch gar nichts, mit dem, was man Orient nennt, gemeinsam.

Die Vertreter seiner Richtung vertraten laut Stern einen "säkularen, später allerdings stark pseudo-messianisch gefärbten Nationalismus" und waren in der Folgezeit offen für das "Bündnis mit einem klerikalen Chauvinismus". Nach dem Massenmord an sechs Millionen Juden in Europa konnten nationalistische "Zionisten-Revisionisten" ihre Linie in beträchtlichem Umfang einbringen. Für den Fall eines Sieges der "Revisionisten" hatte ein Anhänger der Brit-Shalom-Bewegung wie Hans Kohn schon 1929 "jahrelangen Hass, militärische Unterdrückung" und eine "moralische Niederlage des Zionismus" in der Zukunft befürchtet.

Eine scharfe Kritikerin der Instrumentalisierung des Religiösen zu Staatszwecken war die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975). Sie berichtete in einem Brief an Gershom [Gerhard] Scholem vom 20. Juli 1963 in folgender Weise9 [23] über ein Gespräch mit der israelischen Außenministerin Golda Meir (1898-1978):

Wir sprachen über die meines Erachtens verhängnisvolle Nicht-Trennung von Religion und Staat in Israel, die sie verteidigte. Dabei sagte sie sinngemäß, ich besinne mich auf den genauen Wortlaut nicht mehr: "Sie werden ja verstehen, dass ich als Sozialistin nicht an Gott glaube, ich glaube an das jüdische Volk." Ich bin der Meinung, dass dies ein furchtbarer Satz ist, und ich habe ihr nicht geantwortet, weil ich zu erschrocken war, aber ich hätte antworten können: Das Großartige dieses Volkes ist es einmal gewesen, an Gott zu glauben, und zwar in einer Weise, in der Gottvertrauen und Liebe zu Gott die Gottesfurcht bei weitem überwog. Und jetzt glaubt dieses Volk nur noch an sich? Was soll daraus werden?

In der jahrtausendealten Tradition des jüdischen Pazifismus, an die ich - keineswegs unabhängig vom "Tagesgeschehen" - mit dieser Spurenlese erinnern wollte, stehen noch immer ungezählte Menschen in Israel und auf der ganzen Welt, darunter viele Partner eines jüdisch-christlichen Dialoges unter friedensbewegtem Vorzeichen, und auch Organisationen wie etwa die "Rabbis for Human Rights", die sich unlängst mit einer Erklärung "On the Right to Self Defense and its Limitations" [24] zu Wort gemeldet haben:

Jewish tradition teaches that not everything is permissible even in the name of self-defense.


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[21] https://www.heise.de/tp/features/Hebraeischer-Humanismus-3419043.html
[22] http://www.britannica.com/EBchecked/topic/298639/Vladimir-Jabotinsky
[23] https://www.heise.de/tp/features/Judentum-und-Pazifismus-3366622.html?view=fussnoten#f_9
[24] http://www.friedenstheologie.de/main.php?chap=j&topic=texte&id=66