"Jugendsünden" jenseits von Aiwanger: Das Schulsystem kennt keinen Welpenschutz

Politische Gesinnungen können nach der Schule reflektiert werden. Abschlussnoten bleiben. Symbolbild: athree23 /Pixabay Licence

Auch ein pubertärer Leistungsabfall in der Schule kann lebenslange Konsequenzen haben. Das finden Konservative völlig normal. Nachsichtig sind sie nur in einem Fall.

Generationen von Jugendlichen wurde auf bayerischen Schulen, vor allem an Gymnasien, schon in den frühen Teenager-Jahren eingeschärft, dass es selbstverständlich Konsequenzen für ihr späteres Leben und ihren Platz in der Gesellschaft hat, was sie hier tun und lassen. Besonders eine der häufigsten "Jugendsünden" in einer Leistungsgesellschaft – ein schulischer Leistungsabfall in der Pubertät – konnte und kann einschneidende Konsequenzen haben.

Zeugnisse werden aufbewahrt und sind Bestandteil von Bewerbungsmappen. Der Familienfrieden kann nachhaltig durch schlechte Noten gestört werden, weil Eltern Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben, während Kinder einfach jung sein wollen und sich auf Noten reduziert fühlen.

Da gibt es auch für Zwölf- bis 15-Jährige keinen "Welpenschutz": Wer nicht spurt und den Anschluss verpasst, wird dafür voll verantwortlich gemacht und schafft eben keinen Abschluss, der nach der Schule allzu viele Türen öffnet. Egal, ob er oder sie gerade zum ersten Mal richtig Liebeskummer, die falschen Partydrogen probiert oder einfach eine Sinnkrise hat.

Die Forschung ist weiter als das Schulsystem

All das kann theoretisch auch im späteren Leben passieren, aber in der Pubertät kommt erschwerend eine Umbauphase im Gehirn hinzu: Die Gefühlswelt ist mit 13, 14, 15, vielleicht auch noch 17 Jahren extremer als in späteren Lebensphasen. Langfristige Ziele zu verfolgen, ist unter diesen Umständen schwerer als mit 20, 30 oder 40 Jahren. Dafür können Jugendliche nichts.

Die moderne Hirnforschung weiß das – aber das bundesdeutsche Schulsystem trägt dem keine Rechnung. Es vergibt Noten, die reine Momentaufnahmen sind, belohnt eiserne Disziplin beim "Bulimielernen" ohne tieferes Verständnis des Gelernten – und bestraft den pubertären Durchhänger.

Vor allem an Gymnasien wird in dieser Altersgruppe noch einmal ausgesiebt – die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die von der vierten Grundschulklasse noch den nicht selbstverständlichen Sprung aufs Gymnasium geschafft haben und es in der Pubertät verlassen müssen, ist in den letzten Jahren vielerorts in Deutschland gestiegen. Dieser Trend betraf schon vor der Corona-Krise zum Beispiel in Baden-Württemberg jedes 15. Kind in der fünften bis siebten Klasse.

Dass es für "Schulversager" keinen Welpenschutz gibt, finden aber gerade Bayerns Konservative in der Regel gut und richtig. Schließlich sind sie stolz darauf, dass das bayerische Abitur als besonders anspruchsvoll gilt.

Überraschend schlichte Aussagen "trotz" bayerischem Abitur

Vor diesem Hintergrund überrascht die Schlichtheit mancher Antworten des bayerischen Wirtschaftsministers und Freie-Wähler-Chefs Hubert Aiwanger, der ja immerhin ein bayerisches Abitur geschafft hat, auf einen Fragenkatalog zu etwas anderen "Jugendsünden", über die vor einigen Tagen zunächst die Süddeutsche Zeitung berichtet hatte.

Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gab sich mit diesen 25 Antworten zufrieden. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, fand sie ungenügend und nahm Aiwanger die Entschuldigung nicht ab.

Klar verneint hatte Aiwanger zumindest die Frage, ob er gemeinsam mit seinem älteren Bruder das antisemitische Flugblatt verfasst habe, das in seiner Schultasche gefunden worden war, als er 17 Jahre alt war. Ansonsten will oder kann er sich an vieles nicht erinnern.

Sehr allgemein und oberflächlich antwortete er auf die Frage, wie er sich zu dem Vorwurf positioniere, dass auch sein weiteres Verhalten und Auftreten zur Schulzeit "eine Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut nahegelegt" habe, weshalb der Verdacht auf ihn gefallen sei:

Ich habe als Jugendlicher auch Fehler gemacht, die mir heute leidtun. Ich bereue, wenn ich durch mein Verhalten in der Jugendzeit Gefühle verletzt habe. Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden. Jedem Menschen muss auch ein Entwicklungs- und Reifeprozess zugestanden werden.


Hubert Aiwanger

Dem letzten Satz kann in dieser Allgemeinheit nur zugestimmt werden – wenn denn ein Entwicklungsprozess stattfindet. Allerdings passt dieser Satz nicht zu dem Schulsystem, an dem Bayerns Konservative verbissen festhalten – obwohl Aiwanger selbst den schulischen Frust seines Bruders über dessen Sitzenbleiben dafür verantwortlich macht, dass dieser ausgerechnet ein Pamphlet mit Holocaust-Witzen verfasst habe.

Schließlich waren in dessen Fall angeblich linke Lehrer schuld, die es irgendwie geschafft hatten, trotz Radikalenerlass in den 1980er-Jahren in Bayern zu unterrichten. Wer meint, die Aiwanger Brüder sollten deshalb heute keinen Nachteile durch die "Flugblatt-Affäre" erleiden, weil sie doch so jung waren und richtig und falsch nicht unterscheiden konnten, müsste zumindest großzügiger gegenüber "unpolitischen" sogenannten Schulversagern sein, als sich die bayerische Staatsregierung bisher gibt.