Julian Assange vor Auslieferung in die USA? So schlecht stehen seine Chancen

Julian Assange in Streetart. Bild: thierry ehrmann, CC BY 2.0

Berufungsprozess als letzte Chance, der US-Justiz zu entkommen. Wie das Gericht auf Anträge reagiert und der ehemalige UN-Experte Nils Melzer das Verfahren einschätzt.

Der australische Journalist Julian Assange hofft bei einer auf den heutigen Dienstag und den morgigen Mittwoch angesetzten Anhörung in London auf eine letzte Chance, seine Auslieferung an die USA abwenden zu können. Sollte sein Berufungsantrag abgelehnt werden, hätte er alle rechtlichen Möglichkeiten in Großbritannien ausgeschöpft. Das US-Justizministerium will Assange in den USA wegen Spionage vor Gericht stellen. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft.

Die Chancen für Assange stehen schlecht. Das Berufungsgericht in London hat neues Beweismaterial gegen den Angeklagten zurückgewiesen. Dieses Material hätten zum Zeitpunkt der ersten Verhandlung nicht verfügbar sein dürfen, heißt es in einem 107-seitigen Schriftsatz, der Telepolis vorliegt.

Als Beweis für die zurückgewiesenen Beweismittel nennt der Schriftsatz Artikel aus Onlinemedien, die als Meinungsäußerungen eingestuft werden.

Die Assange-Anwälte hatten zudem vorgebracht, dass US-Stellen die von ihrem Mandanten gegründete Enthüllungsplattform Wikileaks als "feindliche Geheimdienst" bezeichnet hatten. Dass dies als juristischer Terminus bei der Bewertung der Anklage Beachtung hätte finden müsse, wiesen die Richter ebenfalls zurück. Damit bewerteten sie den Spionagevorwurf gegen Assange partiell als freie Meinungsäußerung – ungeachtet der drohenden und sehr realen Konsequenzen.

Auch stellte das Gericht vor Beginn der Berufungsverhandlung fest, dass Assange trotz der Möglichkeit, eine Vertagung aufgrund einer erweiterten Anklage in den USA zu beantragen, auf diese Möglichkeit verzichtet habe.

Die Vorwürfe Assanges gegen die US-Behörden wegen illegaler Überwachung und Verschwörung zur Entführung wies das Gericht als unbewiesen und spekulativ zurück. Der seit Jahren in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis inhaftierte Wikileaks-Gründer hatte die Strafverfolgung durch die US-Behörden wiederholt als politisch motiviert kritisiert.

Zusätzliche Beweismittel des Assange-Teams rundum angelehnt

Trotzdem hält das Gericht die Anklage für gerechtfertigt. Auch alle weiteren neuen Beweismittel, darunter Zeugenaussagen und Transkripte, wies es ausnahmslos als irrelevant oder unzulässig zurück.

Der Prozess war unter dem früheren Präsidenten Donald Trump vorangetrieben worden und wird vom amtierenden US-Generalstaatsanwalt der regierenden Demokraten weitergeführt. Die Ehefrau des Angeklagten, Stella Assange, betonte vor Beginn des Berufungsverfahrens, eine Auslieferung Ihres Ehemanns in die USA würde für in den inzwischen 52-jährigen Vater zweier Kinder den Tod bedeuten.

Telepolis dokumentiert aus aktuellem Anlass ein Kapitel aus dem Buch des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters zum Thema Folter, Nils Melzer, zum Fall Assange.

Nils Melzer: Wikileaks wird als systembedrohend wahrgenommen

Regierungen, die keinen direkten Bezug zur Verfolgung oder Person von Julian Assange haben, äußern sich in der Regel gar nicht oder nur sehr zurückhaltend zu seinem Fall. Bemerkenswerterweise gilt dies sogar über die sonst geltenden politischen Blöcke hinweg, sodass Assange auch von Ländern wie Russland, China, Iran oder Venezuela – die sonst keine Gelegenheit auslassen, den Westen zu kritisieren – kaum öffentliche Unterstützung erhält.

Das hat natürlich nichts mit seiner Person zu tun, sondern damit, dass seine Organisation, Wikileaks, von allen Regierungen gleichermaßen als systembedrohend wahrgenommen wird.

Stellvertretend soll hier nur das Beispiel von Deutschland besprochen werden - ein Land, das wirtschafts- und sicherheitspolitisch einflussreich genug wäre, um die involvierten Staaten direkt zu beeinflussen. Ein Land auch, welches mit dem Abgleiten einer hoch entwickelten Gesellschaft in Diktatur, Überwachungsstaat und Selbstzerstörung bereits einschlägige Erfahrungen gemacht und das die Konsequenzen dieses Systemversagens in weltweit einzigartiger Weise juristisch, moralisch und politisch aufgearbeitet hat.

Tragischerweise aber auch ein Land, das dennoch außerstande ist, ähnlichen Entwicklungen in alliierten Partnerstaaten wirkungsvoll entgegenzutreten oder auch nur öffentlich eine klare Meinung dazu zu äußern.

Der Fall Julian Assange: Geschichte einer Verfolgung – Der spektakuläre Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Piper 2021, 336 Seiten, 14 Euro

Berlin, 7. Oktober 2020: Bei einer Regierungsbefragung im Bundestag droht der deutsche Außenminister Heiko Maas mit gezielten Sanktionen gegen Russland wegen der Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny mit einem Nervenkampfstoff der Gruppe Nowitschok. Die Entwicklung, Herstellung und der Besitz chemischer Waffen sei ein "eklatanter Verstoß" gegen das Völkerrecht, meint der Minister. "Russland müsste selbst ein großes Interesse an der Aufklärung des Verbrechens haben".

Moskau sei jedoch bisher in keinem einzigen Fall den "Forderungen und Fragen" der Bundesregierung nachgekommen. Ohne Aufklärung durch Russland seien "zielgerichtete und verhältnismäßige Sanktionen gegen Verantwortliche unvermeidlich". Begrüßenswert klare Töne aus Berlin, die aufhorchen lassen, denn selten findet eine Regierung den Mut zu einer so kompromisslosen Haltung.

Während derselben Befragung wird der Minister allerdings auch auf den Fall Julian Assange angesprochen und insbesondere auf meine Berichterstattung, wonach die Behandlung von Assange das universelle Folterverbot verletze - ebenfalls ein "eklatanter Verstoß" gegen das Völkerrecht. Doch hier gibt sich der Minister deutlich weniger kämpferisch. Der Bundesregierung lägen "keine Informationen" vor, aus denen hervorginge, "dass es sich um Verstöße gegen internationales Recht sowohl bei der Unterbringung als auch der Behandlung von Julian Assange handelt", meint Maas.

Er sei der Auffassung, "dass Assange ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren verdient hat", habe aber keinen Grund, "unseren britischen Partnern in diesem Fall Versagen oder was auch immer vorzuwerfen". Anders als Russland wird Großbritannien von der Bundesregierung also weder mit "Fragen und Forderungen" konfrontiert noch mit Sanktionen im Falle fehlender Aufklärung.

Auswärtiges Amt war über Rechtsverstöße der Briten informiert

Tatsache ist, dass ich dem Auswärtigen Amt die wichtigsten "Verstöße gegen internationales Recht" bereits ein Jahr früher, nämlich am 26. November 2019, anlässlich eines Besuchs in Berlin persönlich erläutert hatte. Die Menschenrechtsabteilung hatte mich um eine Unterredung zum Fall Assange gebeten.

Wie mir schnell klar wurde, war das Anliegen meiner Gesprächspartner allerdings nicht, die von mir geltend gemachten Menschenrechtsverletzungen zu diskutieren und mögliche Maßnahmen zur Einflussnahme der Bundesregierung auf die britischen oder US-amerikanischen Behörden zu erörtern. Meine umfangreiche Berichterstattung dazu hatte jedenfalls niemand im Raum gelesen, und ganz offensichtlich hatte auch niemand die Absicht, sich näher damit zu befassen.

Vielmehr machte man sich mit Blick auf mein Engagement im Fall Assange angeblich Sorgen um die Glaubwürdigkeit meines Mandates und den Fortbestand der UNO-Menschenrechtsmechanismen.

Dass Assange ohne Rechtsgrundlage seit Monaten in Isolationshaft gehalten und seiner Menschenwürde und Verteidigungsrechte beraubt wurde, ließ bei den deutschen Menschenrechtsbürokraten offenbar keine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des britischen Verfahrens aufkommen. Stattdessen bedachten sie meine Einwände mit den gleichen leeren Blicken wie die Regierungssprecher, welche an der wöchentlichen Bundespressekonferenz jeweils jede Anfrage zum Fall Assange mit steinernen Gesichtern und gequälten Worthülsen abwimmeln - eine veritable Realityshow zum Thema Wirklichkeitsverdrängung.

Einer der vielen Zeugen, welche im September 2020 im (US-)amerikanischen Auslieferungsprozess zugunsten von Assange aussagten, war der deutsch-libanesische Staatsbürger Khaled El-Masri. Am 31. Dezember 2003 war er in Mazedonien von der Polizei festgenommen und an die CIA übergeben worden.

In Skopje und in einem black site in Afghanistan wurde er von den (US-)Amerikanern vier Monate lang erniedrigt und gefoltert, bis die CIA sich von seiner Unschuld überzeugt hatte und ihn irgendwo auf einer verlassenen Straße in Albanien aussetzte - ohne jede Entschuldigung, Entschädigung oder auch nur genügend Mittel für die Heimreise.

Nach mehreren erfolglosen Verfahren gegen die mazedonischen Behörden stellte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Jahr 2012 fest, dass El-Masri durch mazedonische und (US-)amerikanische Agenten gefoltert worden war, und verurteilte Mazedonien zur Zahlung von 60.000 Euro Entschädigung.

Die deutsche Staatsanwaltschaft ihrerseits erließ dreizehn Haftbefehle gegen die involvierten CIA-Mitarbeiter, doch die Bundesregierung verweigerte die Stellung eines Auslieferungsgesuches an die USA - ein "nicht justiziabler" Ermessensentscheid der Exekutive, wie das Verwaltungsgericht befand.

Folter muss in jedem Fall verfolgt werden

Aber auch ein klarer Verstoß gegen die Antifolterkonvention, welche den Staaten bei der Strafverfolgung von Folter ganz bewusst keinerlei Ermessensspielraum lässt, sondern sie zwingend dazu verpflichtet. Die weitere Aufklärung des Falles durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss wurde von der Bundesregierung offenbar durch Zeugen Aussageverbote und Beweismittelverweigerung verunmöglicht. Wie durch Wikileaks veröffentlichte Depeschen der US-Botschaft in Berlin (Depesche 07BERLIN242) zeigen, wurde Deutschland durch die USA massiv unter Druck gesetzt, um das Auslieferungsgesuch zu verhindern.

Auch hier stellte die Bundesregierung keine "Fragen und Forderungen". Auch hier drohte sie den USA keine Sanktionen an. Trotz eines "eklatanten Verstoßes" gegen das Völkerrecht. Ein Verstoß, wohlgemerkt, der nicht nur einen unglücklichen Ausrutscher darstellt, sondern stellvertretend für hunderte anderer Fälle steht.

Für eine mittlerweile fest etablierte Politik schwerer Völkerrechtsverletzungen durch den transatlantischen Partner, von unrechtmäßigen Entführungen und systematischer Folter in weltweit verstreuten Geheimgefängnissen bis zu den von der deutschen Luftwaffenbasis Ramstein aus koordinierten Drohnenangriffen auf bloßen Verdacht hin - durchschnittlich zwei gezielte Tötungen pro Monat unter Präsident Bush, bereits fünf pro Woche unter Obama, und nun drei pro Tag unter Trump. Es gibt einen Punkt, an dem politisches Appeasement zur völkerrechtlichen Komplizenschaft wird.

Wie eng die deutsche Sicherheitspolitik hinter den Kulissen mit derjenigen ihrer westlichen Partner verstrickt ist, kann man nicht nur an solchen Einzelfällen sehen, sondern besonders deutlich auch an der Geschichte des NSA-Skandals. Nachdem die Snowden-Leaks im Jahr 2013 die gezielte Überwachung deutscher Spitzenpolitiker durch die NSA enthüllt hatten, wurde zunächst natürlich publikumswirksam protestiert, ein deutsch-(US-)amerikanisches "No-Spy"-Abkommen gefordert, ein Untersuchungsausschuss eingesetzt und sogar ein Strafverfahren wegen der Telefonüberwachung von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeleitet.

Nachdem sich der öffentliche Sturm etwas gelegt und die Realpolitik wieder das Ruder übernommen hatte, wurde das Strafverfahren jedoch bald aus "Mangel an Beweisen" eingestellt, das "No-Spy"-Abkommen sang- und klanglos beerdigt und der Untersuchungsausschuss daran gehindert, den wichtigsten Zeugen, Edward Snowden, in Berlin zu vernehmen. Denn dazu hätte man ihm eine "Non-Refoulement"-Garantie gegen eine Auslieferung an die USA geben müssen, was die sensiblen transatlantischen Beziehungen der deutschen Regierung offenbar allzu sehr belastet hätte.

Daran änderten auch die Wikileaks-Enthüllungen vom Sommer 2015 nichts, welche neue Beweise für die jahrzehntelange, systematische Überwachung zahlreicher deutscher Spitzenpolitiker durch die NSA lieferten, einschließlich wörtlicher Abschriften von abgehörten Gesprächen der Bundeskanzlerin.

NSA-Skandal unter den Teppich gekehrt

Lieber kehrte man den größten Spionageskandal der Weltgeschichte und das Recht der eigenen Bevölkerung auf Wahrheit, Transparenz und Privatsphäre unter den Teppich und betonte die Unverzichtbarkeit der transatlantischen Partnerschaft. Eine Partnerschaft, die spätestens seit den "Crypto-Leaks"-Enthüllungen im Februar 2020 auch im geheimdienstlichen Bereich wohl besser als Komplizenschaft bezeichnet wird.

Hinter den Kulissen hatten die CIA und der deutsche Bundesnachrichtendienst nämlich über die gemeinsam kontrollierte Schweizer Firma "Crypto AG" jahrzehntelang manipulierte Chiffriergeräte an über 100 Staaten verkauft und in der Folge die betroffenen Regierungen systematisch abgehört - also weit über die Hälfte aller Regierungen der Welt.

Als der Schweizer Nachrichtendienst dem deutsch-(US-)amerikanischen Spionagekomplott nach mehr als zwanzig Jahren endlich auf die Spur kam, setzte er dem Spiel nicht etwa ein Ende, sondern verschaffte sich mit dem Einverständnis der (US-)Amerikaner gleich selbst Zugang zu den Geräten und spionierte eifrig mit - mit enormem Schaden für die Glaubwürdigkeit der Schweiz als neutrales, sicheres und vertrauenswürdiges Land.

Erst am 30. Dezember 2020, also am letzten Arbeitstag vor dem für den 4. Januar 2021 angesetzten, erstinstanzlichen Auslieferungsentscheid der britischen Justiz, ließ sich die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, zu einer Pressemitteilung bewegen, gemäß der sie persönlich - also nicht die Bundesregierung oder das Auswärtige Amt - das Auslieferungsverfahren "mit Sorge" verfolge und Großbritannien an seine Verpflichtungen unter der Europäischen Menschenrechtskonvention erinnerte, "auch mit Blick auf das mögliche Strafmaß und die Haftbedingungen".

Eindeutig zu spät, um die Entscheidung noch beeinflussen zu wollen, und zu kryptisch, um von Großbritannien als ernsthafter Warnpfiff verstanden zu werden - meilenweit entfernt vom entschlossenen Klartext im Fall Nawalny.

Mein Dialog mit den direkt an Assanges Verfolgung beteiligten Staaten - mit Großbritannien, Schweden, Ecuador und den USA - war mit dem Erhalt ihrer Antworten noch nicht beendet. Ich wollte unmissverständlich klarstellen, dass ich mich nicht mit ihren Ausflüchten zufriedengeben würde, und verfasste an jeden der vier Staaten je ein individuelles Folgeschreiben.

Darin reagierte ich gewissenhaft auf die von den Regierungen vorgebrachten Argumente, insistierte auf der behördlichen Untersuchung des Falles und erläuterte meine Schlussfolgerungen, gestützt auf detaillierte rechtliche und faktenbezogene Recherchen.

Vier Schreiben an involvierte Staaten zu Fall Assange

Die vier Schreiben wurden am 12. September an die USA und Schweden, am 2. Oktober an Ecuador, und am 29. Oktober an Großbritannien verschickt. Während Quito mit einem weiteren verbalen Rundumschlag antwortete, befand Stockholm, die Regierung habe "keine weiteren Bemerkungen" zu dem Fall, und London und Washington antworteten gar nicht mehr. Auf der Ebene des direkten diplomatischen Dialogs war offensichtlich nichts mehr zu erreichen. Die Staaten betrachteten den Fall damit als erledigt. Ich nicht.

Doch eines muss an dieser Stelle unmissverständlich klargestellt werden: Sowohl die direkte Beteiligung von Großbritannien, Schweden, Ecuador und der USA an der politischen Verfolgung und Misshandlung von Julian Assange als auch die peinlichen Ausflüchte Australiens und die menschenrechtspolitische Einäugigkeit der deutschen Bundesregierung sind weder einzigartig noch ein Beweis für eine kriminelle Verschwörung der involvierten Behördenvertreter.

Die Politik der kleinen Kompromisse, in der jedes auftretende moralische Dilemma stets zugunsten vermeintlicher realpolitischer Sachzwänge entschieden wird und wo Menschenwürde, Transparenz und Verantwortlichkeit stets an zweiter (oder dritter) Stelle kommen, ist allgemeingültig. Es ist das weltweit vorherrschende "Betriebssystem" aller menschlichen Organisationsformen, seien dies nun Staaten, Organisationen oder Unternehmen.

Und es ist auch der undramatische Stoff, aus dem die großen Tragödien der Menschheit gemacht sind, angefangen beim politischen Appeasement der Mächtigen über das Verdrängen passiver Mitverantwortung bis zur bürokratischen Komplizenschaft mit schlimmsten Verbrechen - die "Banalität des Bösen" im Sinne von Hannah Arendt eben.

Sosehr wir also versucht sind, den moralischen Zeigefinger zu erheben: Die Ursache für das Systemversagen der Staatenwelt - ob im Fall Julian Assange oder in anderen Fällen - ist nicht moralischer Natur, sondern neurobiologisch und sozialpsychologisch verankert.

Wie ich in meinem Bericht an die UNO-Generalversammlung im Oktober 2020 darlegte, werden auch komplexe politische Entscheidungsprozesse vorwiegend von unbewussten Emotionen gesteuert, welche in erster Linie auf die eigene Existenzsicherung und die Vermeidung von potenziell bedrohlichen Konflikten abzielen. Unbequeme Wahrheiten und moralische Dilemmata werden dabei mit verschiedenen Formen der Selbsttäuschung ausgeblendet, verdrängt oder schöngeredet. Das Resultat dieses (Selbst-)Täuschungsprozesses ist immer ein moralfreier Raum, in dem Unmenschlichkeit und Unredlichkeit praktiziert werden können, ohne als solche wahrgenommen zu werden.

Im Fall Julian Assange sind die unbequemen Wahrheiten natürlich die Veröffentlichungen von WikiLeaks. Sie richten das öffentliche Rampenlicht auf die beschämende Realität der internationalen Beziehungen, auf die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die Korruption, die faulen Kompromisse und Täuschungsmanöver.

Enthüller geraten ins Visier, nicht Täter

Die Glaubwürdigkeit der Leaks kann nicht bestritten werden, da die Dokumente ja von den Behörden selbst produziert worden sind. Anstatt sich dieser Realität zu stellen und die notwendigen Korrekturen vorzunehmen, möchten die exponierten Staaten aber lieber das Thema wechseln.

Also tun sie sich zusammen, um den Scheinwerfer auf den Überbringer der unbequemen Nachrichten zu richten und diesen zu dämonisieren: Ein Vergewaltiger, ein Hacker, ein Spion, und ein Narzisst ist er! Gar kein richtiger Journalist! Ein Verräter, der Menschenleben riskiert hat!

Die Öffentlichkeit und die Medienwelt sind dankbar, denn es ist bedeutend einfacher, sich über eine Einzelperson lustig zu machen oder zu entrüsten, als die Integrität der eigenen Behörden, ja des gesamten Regierungs- und Wirtschaftssystems infrage zu stellen, politische Verantwortung zu übernehmen und die notwendigen Reformen einzuleiten.

So wurde über Julian Assange ein offizielles Narrativ kreiert und jahrelang über die Massenmedien verbreitet, dem letztlich auch ich selbst zum Opfer gefallen war. Nachdem sich die Staatenwelt außerstande gezeigt hatte, das rechtsstaatliche Systemversagen im Fall Assange zu erkennen und zu korrigieren, musste ich nun versuchen, den Scheinwerfer wieder von Assange abzuwenden und auf die Staaten zu richten, wo er hingehörte.

Doch dazu musste ich der breiten Öffentlichkeit ihre eigene Selbsttäuschung vor Augen führen, dieselbe Selbsttäuschung, der anfänglich auch ich selbst erlegen war.

Das würde nicht einfach sein, denn einerseits war das Narrativ bereits seit einem Jahrzehnt tief in der öffentlichen Wahrnehmung verankert. Andererseits stützte es sich auf emotional stark besetzte Argumente und Tabus. Doch ein bestimmtes Ereignis würde mir dabei ganz entscheidend zu Hilfe kommen: der Kollaps des schwedischen Verfahrens im November 2019.


Der hier dokumentierte Buchauszug erschein erstmals am 22. April 2021 auf

Telepolis

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