KI: Der neue Dotcom-Crash?

Ein zweigeteiltes Bild: die linke Seite zeigt eine freundliche Welt mit AI, Compuztern und Robotern in hellen Farben, die andere Seite eine Welt in Flammen und Rauch mit unfreundlichen Robotern

KI-generierte Illustration

Übermäßige Investitionen und versteckte Kosten. Goldman Sachs und Umweltschützer sind sich darin einig, dass ein KI-Hype schwerwiegende Folgen für uns alle haben könnte.

Thesen über die Ambivalenz des technischen Fortschritts füllen Bibliotheken. Die Werke von Max Horkheimer und Theodor Adorno, Günther Anders, Marshall McLuhan, Jacques Ellul oder Lewis Mumford zählen zum Kanon der modernen Technologiekritik.

Mit der (vermeintlichen) Ankunft der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) scheint die Technik mehr denn je die ihr innewohnende prometheische Ambivalenz zwischen Freiheit und Freiheitsverlust zu offenbaren.

Auf diese Dialektik von Verheißung und Verhängnis, die die Large Language Models aus dem Hause OpenAI oder Google mit sich bringen, ist Telepolis an anderer Stelle bereits ausführlich eingegangen – speziell auf deren Folgen für den globalen Arbeitsmarkt.

In der internationalen Medienlandschaft wurden kürzlich zwei weitere wichtige Facetten jener technologisch-algorithmischen Doppelbewegung beleuchtet.

Die eine beschreibt das drohende Szenario einer platzenden Wirtschafts-Blase vom Ausmaß der Dotcom-Ära, bei der Hunderte Milliarden Dollar auf dem Spiel stehen. Die andere beschäftigt sich mit den verborgenen Kosten von KI und Co., über die kaum jemand spricht.

Warnungen vor Dotcom 2.0

Inmitten der vielfach geäußerten Begeisterung für die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz häufen sich die Warnungen, dass massive Investitionen in die sogenannte KI zu einem wirtschaftlichen Kollaps führen könnten.

Angefacht wurde die Diskussion zuletzt durch die Einlassungen der eng mit der US-Finanzpolitik verflochtenen Investmentbank Goldman Sachs und der einflussreichen US-Risikokapitalgesellschaft Sequoia Capital.

In dem Ende Juni veröffentlichten Bericht "Gen AI: Too Much Spend, Too Little Benefit?" irritierte Goldman Sachs damit, das Kosten-Nutzen-Verhältnis der neuartigen Technologie in Zweifel zu ziehen.

Das konnte auch deshalb verwundern, weil das Unternehmen zuvor bekanntgegeben hatte, selbst generative KI-Tools in der gesamten Belegschaft einzuführen.

Nun riet die Investmentbank allerdings nicht rundweg von Investments in KI ab und beschrieb diese vielmehr als Sachzwang, warnte aber vor zu hohen Erwartungen.

Wenn die KI-Technologie am Ende weniger Anwendungsfälle und eine geringere Akzeptanz aufweist, als derzeit allgemein erwartet wird, ist es schwer vorstellbar, dass dies für viele Unternehmen, die heute in diese Technologie investieren, nicht problematisch sein wird.

Jim Covello, Head of Global Equity Research

600 Milliarden Dollar Umsatz nötig

Wie das US-Business-Magazin Inc. berichtet, warnte auch der Risikokapitalgeber Sequoia Capital vor überzogenen Erwartungen. David Cahn, Analyst bei der Risikokapitalgesellschaft, schätzt, dass die Branche jährlich 600 Milliarden Dollar Umsatz erzielen muss, um sich selbst zu tragen.

Im letzten Jahr lag diese Schätzung Inc. zufolge noch bei 200 Milliarden Dollar. OpenAI, der größte Player der KI-Branche, erzielte laut einem Bericht vom Juni lediglich 3,4 Milliarden Dollar Jahresumsatz.

Bullenstimmung an der Börse

Das aber steht in starkem Kontrast zur Bullenstimmung an der Börse. So stieg der Aktienkurs des Chipherstellers Nvidia im vergangenen Jahr um mehr als 200 Prozent, was den Unternehmenswert auf über drei Billionen Dollar erhöhte.

Tech-Aktien insgesamt verzeichneten 2023 einen beispiellosen Aufschwung, der laut Inc. größtenteils auf den KI-Hype zurückzuführen ist. Risikokapitalinvestitionen in KI-Startups erreichten demnach 2023 fast 50 Milliarden Dollar, obwohl die globalen Investitionen insgesamt auf den niedrigsten Stand seit fünf Jahren sanken.

"Die Leute springen auf den KI-Zug auf und denken, dass sie Geld verdienen werden, weil sie KI irgendwie in ihr Geschäftsmodell integriert haben", zitiert Inc. die Geschäftsführerin des Risikokapitalgebers Wocstar, Gayle Jennings-O'Bryne. Viele Risikokapitalgeber würden die kapitalintensive Natur der KI-Technologie unterschätzen und trügen so dazu bei, dass sich der Markt künstlich aufblähe.

Feuerprobe in zwei Jahren

Einen weiteren Aspekt der Diskrepanz zwischen Erwartung und Ertrag hatte James Ferguson vom britischen Strategieberater MacroStrategy Partnership im Bloomberg-Podcast Merryn Talks Money beschrieben.

Nvidia allein, so Ferguson, könne nicht das gesamte Wachstum der gesamten Branche stützen und zunehmend höhere Preise für seine Halbleiter verlangen, wo die Technologie (Stichwort: "Halluzinationen") noch zu unausgereift sei, um eine breite Anwendung zu finden. In seinem Bericht vom Juni hatte Goldman Sachs außerdem das Damoklesschwert einer Unterversorgung mit Halbleitern benannt, das über der Branche baumelt.

Ob die Blase platzen wird oder nicht, wird sich in vier bis fünf Jahren zeigen, zititert Inc. die Wocstar-Geschäftsführerin Jennings-O'Bryne. In etwa zwei Jahren, glaubt sie, werden die ersten Investoren harte Kennzahlen für Gewinnen, Renditen und Einnahmen verlangen und prüfen, ob die Geschäftsmodelle wirklich so nachhaltig sind, wie sie sich geben.

Bei alledem ist ein weiteres Thema noch gar nicht zur Sprache gekommen, auf das auch Goldman Sachs in dem aufsehenerregenden Bericht vom vergangenen Monat eingeht:

Die größere Frage scheint zu sein, ob die Stromversorgung mithalten kann. Die GS-Analysten für die US-amerikanischen und europäischen Versorgungsunternehmen Carly Davenport bzw. Alberto Gandolfi erwarten, dass die Verbreitung der KI-Technologie und der dafür notwendigen Rechenzentren, die für ihre Versorgung notwendig sind, einen Anstieg des Strombedarfs die es seit einer Generation nicht mehr gegeben hat.

Allison Nathan, Strategieberaterin bei Goldman Sachs

Das ruft einen weiteren Aspekt der technologischen Doppelbewegung auf den Plan, den das sozialistische US-Magazin Jacobin Anfang Juni in einem beachtenswerten Beitrag beleuchtet hat: die verborgenen Umweltkosten, die die Expansion KI-gestützter Geschäftsmodelle mit sich bringt.

Denn die Vorteile von KI, so argumentiert Jacobin-Autorin Lois Parshley, kommen einer kleinen Anzahl einflussreicher Unternehmen zugute, während die physischen Schäden der Technologie unbeachtet von der Öffentlichkeit auf genau dieselbe zurückfallen.

Aufsicht? Warum niemand die eigentlichen Kosten kennt

Die Integration von KI in alltäglich genutzte Technologien wie Suchmaschinen habe erhebliche, oft unsichtbare Umweltkosten, heißt es in Jacobin.

Jede KI-gestützte Google-Suche verbrauche etwa drei Wattstunden Strom, und damit zehnmal mehr als eine herkömmliche Suche, zitiert das Magazin Alex de Vries, der sich auf seinem Blog Digiconomist mit der ökonomischen Folgenabschätzung technologischer Entwicklungen befasst.

Eine Integration von KI in alle Google-Suchanfragen könnte dem Stromverbrauch eines gesamten Landes wie Irland entsprechen.

Weiterhin bleibe der tatsächliche Strom- und Wasserverbrauch von KI-Systemen oft im Dunkeln, heißt es bei Jacobin. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil es keine Pflicht zur Offenlegung entsprechender Daten gebe, wie Merve Hickok von der US-NGO Center for AI and Digital Policy ausführt. Diese Geheimhaltung erschwere es Versorgungsunternehmen und Regulierungsbehörden, die Auswirkungen nachzuvollziehen und (gegen) zu steuern.

Eine Gruppe ehemaliger OpenAI-Mitarbeiter warnte Anfang Juni in einem offenen Brief, dass KI-Unternehmen starke finanzielle Anreize verspürten, einer wirksamen Aufsicht zu entgehen und eine Selbstüberwachung durch "maßgeschneiderte Corporate-Governance-Strukturen" nicht ausreiche, um an dieser Intransparenz Grundlegendes zu ändern.

Zusätzlich verkompliziert werde die Situation dadurch, dass im Zuge der KI-Expansion auch die Verflechtungen zwischen den Interessen privater Unternehmen und öffentlicher Einrichtungen immer engmaschiger würden.

37 Rechenzentren mit Strombedarf von rund 750.000 Haushalten

Als Beispiel führt Jacobin das Digital Gateway-Projekt in Virginia an, das bis zu 37 neue Rechenzentren vorsieht und mindestens drei Gigawatt Strom benötigen wird.

Das entspreche dem Strombedarf von rund 750.000 Haushalten. Wie das Magazin ausführt, kämen IT-Unternehmen im Zuge solcher Projekte oftmals in den Genuss spezieller, ermäßigter Stromtarife – ein Zugeständnis, das die jeweiligen Kommunen mit "Investitionen in die Region" begründeten.

Allerdings würden die Kosten für diese Ermäßigungen auf die Gesamtheit der übrigen Stromkunden abgewälzt. Eine Praxis, die der Chef der Verbraucherschutzbehörde des US-Bundesstaats Maryland, David Lapp, als "grundsätzlich unfair" beschreibt.

Wasserbedarf so groß wie der von Großbritannien

Hinzu kämen außerdem die ökologischen Auswirkungen der Serverfarmen, die für das Angebot jener vermeintlich immateriellen KI-Dienstleistungen erforderlich sind. Jene Rechenzentren, die sich oftmals in wasserarmen Gebieten befinden, verbrauchten nicht nur enorme Mengen an Strom, sondern seien auch auf große Mengen an Wasser zur Kühlung angewiesen.

Eine von Jacobin zitierte Studie schätzt, dass der weltweite Wasserbedarf für Rechenzentren in den nächsten Jahren halb so groß sein könnte wie der des Vereinigten Königreichs.

CO2-Emissionen von Microsoft et al. um 30 Prozent gestiegen

Die physischen Auswirkungen des Digitalen laufen Jacobin zufolge nicht nur dem Gebot des schonenden Umgangs mit Ressourcen zuwider, sondern auch den Klimaschutzbemühungen und der Netto-Null-Ziele bis 2030, die große IT-Unternehmen für sich beanspruchen.

So seien die CO2-Emissionen von IT-Unternehmen wie Microsoft 2023 um 30 Prozent gestiegen.

Ein Bericht der US-amerikanischen NGO Electric Power Research Institute prognostiziert, dass KI bis zum Ende des Jahrzehnts etwa neun Prozent des gesamten Energiebedarfs der USA ausmachen könnte. Diese Entwicklung verlangsame den Übergang zu grüner Energie erheblich, so das US-Magazin.

Als möglichen Ausweg aus diesem Missstand beschreibt Jacobin die Einführung einer CO2-Steuer für Unternehmen. Diese könne helfen, die wahren Kosten des Energieverbrauchs abzubilden und Anreize für eine effizientere Nutzung von Ressourcen zu schaffen.

Einen Grund dafür, dass die verborgenen Umweltkosten der KI und deren Abwälzung auf die Gesamtbevölkerung nicht Gegenstand öffentlicher Untersuchungen sind, sieht Grant Fergusson vom Electronic Privacy Information Center auch darin, dass die Technologieunternehmen durch ihre Lobbyarbeit erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben.

Tatsächlich zeigt ein Bericht der US-amerikanischen NGO Public Citizen vom Mai 2024, dass die Zahl der Lobbyisten für KI-Themen 2023 um 120 Prozent gestiegen ist.

"Wo Gefahr ist, wächst das Rettende"?

Auch Jacobin muss allerdings bekennen, dass KI, "wie jede Technologie, sowohl auf gute als auch auf schlechte Weise eingesetzt werden" kann. Behauptungen wie derjenigen von Microsoft, dass KI dazu beitragen könne, klimafreundliche Lösungen in Form von Methoden zur Kohlestoffabscheidung oder einer effizienteren Produktion erneuerbarer Energien zu entwickeln, scheint Autorin Parshley allerdings eher skeptisch gegenüberzustehen.

Auch dieser emanzipatorische Gesichtspunkt zählt zur kanonischen Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Verhältnis des Menschen zur Technologie. Martin Heidegger hat ihn in "Die Technik und die Kehre" (1962) mit den Worten Friedrich Hölderlins beschrieben: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch."