KI: Warum uns Deepfakes voranbringen
Wie Künstliche Intelligenz uns lehrt, die Welt mit gesundem Menschenverstand zu begreifen. Sind wir bereit für die digitale Aufklärung? Es ist eine zivilisatorische Chance.
Vor einem guten Jahr ging der große Hype um Chat-GPT los. Seitdem ist es in der Breite der Gesellschaft angekommen, dass sich irgendetwas verändert hat – zum Besseren, meint unser Autor.
AI, Deepfakes, Deep Learning? Schon lang keine Fremdwörter mehr. Unter Bezugnahme auf den Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) möchte ich hier auf die positiven medienphilosophischen Implikationen von AI und Deepfakes eingehen.
Wer so gesegnet war, Teile seiner Zwanzigerjahre in einem medienwissenschaftlichen Studium abzusitzen, kam um diesen Text nicht herum: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935) heißt der schöne, wenn auch sperrige Titel von Walter Benjamin.
Der Essay wird deswegen rezipiert, weil er aus der Reihe tanzt. Benjamin sieht den technologisch-medialen Fortschritt seiner Zeit dezidiert positiv.
Der Tod der Einzigartigkeit
Wenn wir an bedeutende Kunstwerke denken, führt Benjamin an, dann erstarren wir in Ehrfurcht. Angesichts eines Michelangelo empfinden wir Demut. Das liegt für ihn daran, dass Kunstwerke eine Aura haben. Sie sind erhaben und strahlen etwas Heiliges aus. Dieses Heilige kommt aber nicht von ungefähr, sondern hängt eng mit einer entscheidenden Eigenschaft des Kunstwerks zusammen. Ein Kunstwerk ist ein Original, es gibt es nur einmal.
Das ist aber alles Geschichte. Die fortschreitende Technologie – vom Buchdruck bis zur Farbkopie – ermöglichen es, Schriften und Gemälde perfekt zu kopieren. Es gibt schlicht keinen Unterschied zum Original mehr. Stimmt das nicht erst einmal pessimistisch?
Benjamin argumentiert interessant: jetzt, wo die Aura des Originals wegfällt, entzaubert es Kunst zum ersten Mal. Das sorgt dafür, dass der Betrachter erstmals reflektiert und objektiv über Kunstwerke nachdenken kann, ohne von diesen in einer Art Bann gehalten zu werden.
Wenn ein Gemälde plötzlich nicht mehr heilig ist, sondern überall als Postkarte, T-Shirt und Meme um die Welt fliegt, dann beginnt quasi eine Meta-Betrachtung dieses Motivs. Das Motiv wird selbst zum Gegenstand von Kunst, statt nur selbst Kunst zu sein.
Der Segen der Kopie
Ein Beispiel aus der Musik: Wer das zweite Violinkonzert von Béla Bartók vor der technischen Möglichkeit einer Audioaufzeichnung gehört hätte, würde ihr wohl gespannt lauschen, sich achtsam der Melodie hingeben.
Der Rapper Dr. Octagon benutzte 1996 ein Schnipsel der Bartok-Aufnahme für seinen Song "Blue Flowers", erschienen auf seinem legendären Undergroundalbum "Dr. Octagonecologyst". Schmälert es Bartóks Werk? Spuckt es auf sein Erbe?
Hip-Hop, exemplarisch für Sample, Remix und Rekontextualisierung, spielt mit dem Original, weil es vervielfältigbar ist. Hip-Hop ist ein Kind des technologischen Fortschritts, den Benjamin begrüßte. Auf eine gewisse Art und Weise verliert sich der "Respekt" vor dem Original, welches fortan nicht mehr länger nur eine transitorische, das heißt nur im Moment des Hier und Jetzt machbare Erfahrung ist.
Selbst der hartgesottenste Kulturkritiker muss anerkennen: Die Vervielfältigung tut der Kunst keinen Abbruch. Sie erhebt das Original zu neuen Höhen, erschafft die Antithese. Kunst wird selbstreflektiv, selbstreferentiell. Fragen Sie nicht Benjamin, fragen Sie Quentin Tarantino.
Deepfakes – Verwirrung oder Zwangsmündigkeit?
Ich gebe zu, ich habe mir lange Zeit gelassen, um zum Thema des Artikels zu kommen, doch führe ich die angefangenen Fäden jetzt zusammen. In dem Moment, wo ich etwas fälschen kann, muss ich genauer hinschauen, richtig?
Und hier gelangen wir zu Deepfakes. Sie schärfen unser Bewusstsein, sie mahnen uns, die Realität, unsere Medien, unsere Politik, nicht im Autopiloten zu konsumieren. Viele Menschen sehen ein Politikervideo oder einen Tagesschau-Beitrag und saugen die Worte regelrecht hypnotisch auf.
Deepfakes brechen diese Hypnose auf. Sie führen uns vor Augen, dass theoretisch alles, was auf uns einrieselt, gefälscht sein kann, dass ich manipuliert werden kann. Es schärft unser Bewusstsein.
Deepfakes sind ein zivilisatorischer Fortschritt, weil sie die Realität dekonstruieren und damit auch ihre Mechanismen aufzeigen. Weil die Realität jetzt ad absurdum, verzerrt, überzeichnet und geremixt werden kann, so wie es dem notorischen Meme-Künstler Snickers Für Linkshänder täglich gelingt, müssen wir uns mehr mit ihr auseinandersetzen und zwangsmündiger werden.
Auf sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, wir steuerten in eine gewisse dunkle Zukunft: einen transhumanistischen Albtraum. Mit diesem Artikel möchte ich dagegenhalten.
Dieses Jahrhundert hat uns die KI gebracht, wie die Steinzeit das Feuer. Sie wird bleiben. Ich lehne verbitterten Kulturpessimusmus ab ("Das böse Feuer, Teufelszeug!") und wage, ganz im Sinne Hegels, einen moderat-positiven Blick auf die Menschheitsgeschichte.
Dabei beziehe ich mich auf seine Vorstellung, die Zivilisation würde durch dialektische Veränderungsprozesse stets ein Stück vorangebracht werden. Die derzeit spürbaren Reibungen, die das Zeitalter ubiquitärer Digitalität mit sich bringt, sind demnach nicht ausschließlich solche Reibungen, sondern auch Korrektive.
Dies soll das abschließende Zitat des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz zum Ausdruck bringen:
Je besser die KI wird, desto wichtiger wird gesunder Menschenverstand.
PS: Hier noch ein Einschub für jene Leser, die mit dem Modell der "Spiral Dynamics" der menschlichen Bewusstseinsentwicklung vertraut sind: Bewusstseinsentwicklung findet individuell (Mensch) und kollektiv (z.B. Kunstgeschichte, zivilisatorischer Fortschritt) statt. Das reifende, sich im Spiegel erkennende Kind, ist nichts anderes als eine beginnende Selbstreferentialität. Mit ihr beginnt auch beim Kind das Ausprobieren und das Spiel mit Rollen.
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