KI und die Renaissance der Techno-Kapitalisten

Daniele Linossi

Marc Andreeesen. Bild (2013): JD Lasica / CC BY 2.0 Deed

Silicon-Valley-Investor Marc Andreessen stellt sich mit einem Manifest für Techno-Optimisten gegen Degrowth und institutionellen Klimaschutz. Warum der neue Technik-Fetisch problematisch ist.

Es sind wilde und rosige Zeiten für Technik-Enthusiasten. Größten Anteil daran hat die viel besungene Künstliche Intelligenz (KI). Sie scheint den Traum der technologischen Singularität in greifbare Nähe zu rücken, der seit Anbeginn des Informationszeitalters geträumt wird. Wenn auch eben nur scheinbar, aufgrund ihrer (derzeitigen) stochastischen Limitationen.

Interessanterweise wird mit jenen alten Diskursen, die besonders intensiv um die Jahrtausendwende geführt wurden, eine ebenso alte Ideologie wiederbelebt.

In der Person des US-Milliardärs Marc Andreessen, Mitbegründer des IT-Dienstleister-Pioniers Netscape und der Silicon-Valley-Wagniskapitalgesellschaft Andreessen Horowitz, laufen jene beiden Stränge von frühem Internet- und aktuellem KI-Hype zusammen.

Ideologie der Techno-Kapitalisten à la Elon Musk

Vergangene Woche veröffentlichte Andreessen sein viel beachtetes Manifest für Techno-Optimisten. Darin fordert er eine radikale Entfesselung des technologischen Potenzials, dessen Befreiung von sozialen, ökologischen und staatlichen Beschränkungen.

Es ist das ideologische Fundament der Techno-Kapitalisten à la Elon Musk (mit dem deutlichen Unterschied, dass dessen Ahnen aus der klassischen Technokratie-Bewegung eine zentralistische Planwirtschaft anstrebten, und nicht dem homo oeconomicus beziehungsweise der rational choice theory das Wort redeten).

Bemerkenswert ist, wie Andreessens Ideengebäude demonstrativ den Gegenpart zum allgegenwärtigen Diskurs um Degrowth, Überbevölkerung und nachhaltiges Wirtschaften einnimmt. Der Ansatz des Silicon-Valley-Investors ist allerdings nicht weniger radikal.

In den Worten des Tech-Investors spiegelt sich das wider, was die britischen Autoren Richard Barbrook und Andy Cameron die "kalifornische Ideologie" genannt haben. Kern dieser Ideologie ist die Vermischung von emanzipatorischen Heilsversprechen und einer "unvermeidlichen" technologischen Entwicklung einerseits sowie einem radikalen Wirtschaftsliberalismus und einem materialistischen Menschenbild andererseits. Barbrook und Cameron gebrauchten damals auch den Begriff "dotcom neoliberalism".

Die Ursprünge der kalifornischen Ideologie lassen sich mindestens bis zu den libertären Ideen der US-russischen Philosophin Ayn Rand zurückverfolgen, die dann später von Cyber-Aposteln wie Kevin Kelly (Mitbegründer des Computer-Magazins Wired) oder Peter Diamandis (Mitgründer der Singularity University) aufgegriffen werden. Dass Andreessen mit letzteren in engem Austausch steht, kann angesichts seines Manifests kaum überraschen.

Die Kernthesen des Manifests, welches Andreessen an einer Stelle ausdrücklich an die Futuristen anlehnt, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Techno-Optimismus ist eine materialistische Philosophie.
2. "Die Techno-Kapital-Maschine [ist] der Motor der ewigen materiellen Schöpfung, des Wachstums und des Überflusses."
3. Wachstum ist alternativlos ("Gesellschaften, die nicht wachsen, sterben")
4. Es gibt "keinen inhärenten Konflikt zwischen der technisch-kapitalistischen Maschine und der natürlichen Umwelt"
5. Zweck der Technik ist es, "die Natur zu überwinden"
6. Der Markt ist eine "evolutionäre Kraft", eine "Form von Intelligenz", der die Bedürfnisse der Menschen mit Hilfe der Anwendung von Technologie nicht nur befriedigen, sondern für eine "Überfluss"-Gesellschaft sorgen kann.
7. "Feind" der Techno-Optimisten sind
- "Stagnation"
- der autoritäre Staat
- "der Kollektivismus, die zentrale Planung, der Sozialismus"
- "die Sprach- und Gedankenkontrolle - die zunehmende Anwendung von George Orwells
1984 als Gebrauchsanweisung."
- Das Vorsorgeprinzip ("precautionary principle", gemeint ist eine (zu) defensive
Technikfolgenabschätzung)

Zum letztgenannten Punkt lässt sich noch die Passage anführen, die sich offen gegen die institutionelle Klimabewegung und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen stellt:

Unsere heutige Gesellschaft ist seit sechs Jahrzehnten einer massenhaften Demoralisierungskampagne ausgesetzt - gegen die Technologie und gegen das Leben - unter verschiedenen Namen wie "existenzielles Risiko", "Nachhaltigkeit", "ESG", "Sustainable Development Goals", "soziale Verantwortung", "Stakeholder-Kapitalismus", "Vorsorgeprinzip", "Vertrauen und Sicherheit", "Tech-Ethik", "Risikomanagement", "De-Growth", "die Grenzen des Wachstums".

Techno-Optimist Manifesto

Der Topos der Technologie, die – vor äußeren Einflüssen geschützt – eine Gesellschaft des Überflusses zu schaffen, imstande ist, ist ein Klassiker unter Techno-Kapitalisten.

Jenes Versprechen hatten sich schon Andreessens Kompagnons Kevin Kelly (in "What Technology Wants", 2011) und Peter Diamandis auf die Fahnen geschrieben, letzterer benannte sogar eines seiner Bücher danach ("Abundance – The Future is Better than You Think", 2011).

Und auch die Granden der Branche bedienen sich bis heute dieses Topos. So sprach Bill Gates, dessen einstiges Unternehmen Microsoft zurzeit massiv von KI-Hype profitiert, in einem Interview mit dem Handelsblatt vom Freitag ebenfalls davon, dass man sich mit dem Ausbau der KI in Richtung einer "Welt des Überflusses" bewege.

Doch die Annahmen der Techno-Kapitalisten unterliegen einer ganzen Reihe von Trugschlüssen.

Wer ist "Herrscher der Technologie"?

Dafür muss man gar nicht bei der von Andreessen gelobten "Green Revolution" ansetzen und in Frage stellen, ob die genetische Manipulation von Nutzpflanzen die Menschheit wirklich vor dem "Verhungern" gerettet hat – oder angesichts des verhältnismäßig geringen Nutzens nicht eben doch einen in seinen Folgen nicht ausreichend abgeschätzten technologischen Eingriff in die Natur darstellt.

Ähnlich ist es um die "unbegrenzte saubere Energie" durch Kernkraft bestellt.

Die Trugschlüsse betreffen auch die Vorstellung von Technologie als solche. So beispielsweise im Falle der Überzeugung, dass sich immer "die besten und produktivsten" technischen Ideen durchsetzten. Das verkennt eindeutig die (kommerziellen) Interessen und Ambitionen, die hinter dieser oder jener Technologie stehen. Eigentlich eine Binse.

Zu dieser deterministischen beziehungsweise teleologischen Vorstellung von Technologie gesellt sich auch eine instrumentelle, nämlich dass die "Techno-Kapital-Maschine" beziehungsweise "alle Maschinen [...] für uns" arbeiten und wir "immer die Herrscher der Technologie bleiben werden".

Da war Andreessens Geistesverwandter Kelly schon weiter, als er im oben genannten Buch von 2010 prophezeite, dass "die Fähigkeit des Techniums, uns zu verändern, unsere Fähigkeit, das Technium zu verändern, übersteigen wird".

Dass sich Technologie außerdem unserer Wahrnehmung zwischenschaltet und das Potenzial hat, diese (einseitig) zu verändern – auch das eine Binse. Und eher ein Argument dafür, wohl zu überlegen, welche Werte und Entscheidungsmöglichkeiten man einer technischen Erfindung einschreibt, bevor man sie auf die Menschheit loslässt.

Wer KI nicht fördert, "tötet"

Erst zu beweisen hätten sich auch Andreessens unzweideutig marktradikale Überzeugungen, wonach es keinen Konflikt zwischen Wirtschaftsliberalismus und Sozialstaat gebe, Märkte von sich aus Frieden schafften, Monopole verhinderten oder technologische Innovationen per se Löhne und Lebensstandard anhöben.

Die junge Geschichte der Informationstechnologie hat gezeigt, dass die Früchte des Fortschritts in ganz erheblichem Maße von wenigen großen Playern gesammelt werden können – Player, die anschließend dem Idealzustand des freien Wettbewerbs gerade entgegenwirken.

Die These, dass "Millionen und Milliarden von Nutzern" eher von einer neuen Technologie profitieren als deren Erfinder, steht im Falle der Wert-extraktiven Plattform-Ökonomie ebenso auf wackligen Beinen.

Der Ausbau der Künstlichen Intelligenz schließlich, welcher jene kalifornische Ideologie ihre Renaissance verdankt, gilt Andreessen konsequenterweise geradezu als sakrosankt. Die Fetischisierung der Technologie, die in den übrigen Abschnitten anklingt, wird hier ausformuliert:

Wir glauben das Künstliche Intelligenz unsere Alchimie ist, unser Stein der Weisen (…) Wir glauben, dass jede Verlangsamung der KI Leben kosten wird. Todesfälle, die durch die verhinderte KI vermeidbar waren, sind eine Form von Mord.

Techno-Optimist Manifesto

Abschlussbemerkung: Künstliche Rechtsprechung

Ein abschließender Gedanke zu diesem Themenfeld, das uns noch lange beschäftigen wird: Der Bundestag hat vergangenen Mittwoch beschlossen, knapp 100 Millionen Euro aus dem umstrittenen Digitalpakt für die Länderjustiz freizugeben. Wie Legal Tribune Online berichtet, soll das Geld für neue Software und mehr KI eingesetzt werden, statt für mehr Richter und Staatsanwälte.

Gegen eine bürokratische Aufwandsersparnis durch den Fortschritt im sogenannten "Legal Tech"-Bereich mag generell nichts einzuwenden sein.

Sollte an die sogenannte Künstliche Intelligenz mitsamt ihren Halluzinationen und eingespeisten Wissensständen aber einmal mehr Verantwortung delegiert werden, was die Entscheidungsfindung bei teilweise existenziellen Fragen angeht – wären wir da nicht doch gut beraten, nach dem von Andreessen verunglimpften Vorsorgeprinzip zu handeln und nicht jeden technisch gangbaren Weg auch wirklich zu gehen?