zurück zum Artikel

Kämpfen "bis zum letzten Mann"

Je länger der Krieg dauert, umso mehr rückt die Frage nach den Zielen des Westens ins Zentrum (Teil 2 und Schluss)

Fragen müssen beantwortet werden, politisch, militärisch und ethisch. Sie müssen jetzt und hier beantwortet werden, wenn wir nicht wieder Entscheidendes versäumen wollen, hieß es in Teil 1 der gestern hier erschien: Ukraine-Krieg: Kapitulieren oder sterben? [1]

Was bedeutet das in seiner praktischen Konsequenz? Der Blick in die Geschichte asymmetrischer Konflikte und Kapitulationen lenkt auf mögliche historische Beispiele für die kommenden Dinge.

Die abschreckenden Beispiele darunter sind diejenigen, die einem als Erstes in den Sinn kommen, wenn man sich die bevorstehende "Schlacht um Kiew" vorstellt und nicht daran glaubt, dass das russische Militär zumindest einen gewissen Grad an Ehrfurcht vor der "Mutter Russlands" haben könnte. Sie stimmen keineswegs hoffnungsvoll.

Teil 1: Kapitulieren oder sterben? [2]

Das Beispiel Masada erzählt von der Festung, die 73 n.Chr. im Jüdischen Krieg von den Römern belagert wurde. In aussichtsloser Lage begingen sämtliche Verteidiger Selbstmord:

An Flucht jedoch dachte Eleazar nicht im entferntesten, wie er dieselbe auch keinem anderen gestattet haben würde; ... und kam so zu dem Entschluss, dass alle in den Tod gehen müssten.

Flavius Josephus, Bellum Judaicum [3], Siebentes Buch, 8. Kapitel

Das Beispiel des Peloponnesischen Kriegs, an dessen Anfang die Belagerung der Stadt Potidaia steht, die von Athen belagert wurde. Nach zwei Jahren ergab sich die Stadt, zuvor aber war es wegen einer Hungersnot bereits zu Kannibalismus gekommen. Zum berühmtesten Ereignis dieses Kriegs wurde die Belagerung und Eroberung der Kykladeninsel Melos, die damit endete, dass sämtliche Männer hingerichtet wurden, Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft.

Das Beispiel Karthago. Die raffgierige Oberschicht Karthagos griff nach der Weltmacht und den römischen Rivalen an, und opferte ihre Jugend in einem grausamen Krieg. Drei "punische Kriege" zwischen Rom und Karthago endeten mit der vollständigen Zerstörung Karthagos 146 v. Chr. Rom vernichtete Stadt und Kultur so perfekt, dass es heute nur spärliche Überreste der eingeebneten Stadt und minimale schriftlichen Nachrichten aus Karthago selbst gibt.

Das Beispiel Magdeburg. Während des Dreißigjährigen Krieges stürmten die kaiserlichen Truppen unter General Tilly am 20. Mai 1631 die Stadt. Die Magdeburger wehrten sich in einem erbitterten Häuserkampf. Doch Brände zerstörten die Stadt fast vollständig.

Die Soldaten wüteten grausam unter der Bevölkerung, am Ende kamen 20.000 Menschen um. Tilly hatte seinen Söldnern, die seit Monaten keinen Sold mehr gesehen hatten, eine dreitägige Plünderung versprochen. Der Feldherr opferte Magdeburg, die Stadt war fortan nur noch eine Provinzstadt, und das Wort "magdeburgisieren" ging in die Geschichte ein.

Das Beispiel Breslau. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Ostfront wurde Breslau im Januar 1945 zur "Festung Breslau" erklärt, und sämtliche männlichen Einwohner dienstverpflichtet. Frauen und Kinder wurden aus der Stadt geschickt, Jugendliche ab 12 Jahren allerdings als Volkssturm bewaffnet. Danach begann der Häuserkampf. Am Ende waren von 30.000 Gebäuden über 20.000 zerstört, und 50.000 Menschen bei der Schlacht um Breslau getötet worden.

Was soll nun mit Charkow, Mariupol und Kiew geschehen? Will man sie zur "Festung" erklären, ihr Magdeburgisieren in Kauf nehmen? Werden sie aussehen "wie Aleppo"? Wenn das der Fall sein sollte, tragen daran nicht nur die Angreifer die Schuld, sondern auch jene, die einen Kampf fortführen, obwohl er längst verloren ist?

Ein Kämpfen "bis zum letzten Mann" scheint nicht denkbar, jedenfalls nicht in einer modernen Gesellschaft und einer modernen Medienwelt. Es gibt nur zwei historische Beispiele für Regierungen, die in der Neuzeit auch dann nicht kapituliert haben, wenn ein Krieg verloren war: Der Irak unter Saddam Hussein und das Deutschland Adolf Hitlers.

Es bleibt nur eine Alternative: Die Kapitulation

Wenn man diese Beispiele nicht zum Vorbild nehmen und realisiert sehen will und ein weiteres Ansteigen der Opferzahlen nicht in Kauf nehmen möchte, wenn auch der kollektive Selbstmord einer Bevölkerung kein Ausweg ist, dann bleibt nur eine Alternative: die Kapitulation.

Eine Kapitulation der Ukraine wäre ein ziviler Akt und zum jetzigen Zeitpunkt vor einer endgültigen Entscheidung der Kampfhandlungen wäre dies ein Akt ohne Beispiel. Ein ehrenhafter Akt. Und ein Akt der Humanität. Er würde die Ukrainer ins Recht setzen, mehr als sie es jemals waren, er würde ihre westlichen Verbündeten wie die deutsche Bundesregierung beschämen.

Er würde die Pläne all jener durchkreuzen, die in der Ukraine nur einen Spielstein in ihrem "great game" um die Vormacht in Eurasien sehen, ebenso wie all jene, die die Ukraine "entwaffnen" wollen. Sie können dies auch dann tun, allerdings nicht durch einen Krieg, sondern durch einen direkten Zerstörungsakt, der die Verantwortung wesentlich deutlicher machen würde.

Ein zynisches Kalkül

Mit jeder Haubitze, die Deutschland liefert, mit jedem Bundeswehr-Stahlhelm, mit jeder Tonne Benzin halten wir einen Krieg am Laufen, an dessen Weiterlaufen wir kein ernsthaftes Interesse haben. Mit jeder dieser Lieferungen treiben wir zudem die Zahl der Opfer, zivile wie militärische, nach oben. Menschen werden getötet und verstümmelt, Leben in vielfältigster Weise zerstört.

Daneben werden auch ihre Werke und Umwelten zerstört, und ihre Zukunftschancen durch die immensen finanziellen Werte, die hier für Aufrüstung und Zerstörung verbrannt werden. Es sind sinnlose Opfer, es sind sinnlose Zerstörungen, zudem Zerstörungen, deren Wiederaufbau in den nächsten Jahrzehnten von genau jenen bezahlt werden wird, die zuvor die Mittel zu ihrer Zerstörung bereitgestellt haben. Auch darum ist all dies ein zynisches Kalkül. Es ist ein Kalkül, das den Entscheidern vor allem an der "Heimatfront" und in deren Medien nutzt.

Lassen wir einmal die ganzen wohlfeilen Thesen, wo die Freiheit nun verteidigt und wo sie geschändet wird und ob die Demokratie tatsächlich die beste aller Staatsformen ist. Und falls sie das ist, ob es sich deswegen auch lohnt, dass die Demokraten für diese Demokratie massakriert werden.

Oder ob es sich vielleicht empfiehlt, beim Studium historischer Ereignisse zu erkennen, dass sich die Vernunft in der Weltgeschichte früher oder später durchsetzt, auch ohne dass sie massive Opfer fordert.

Das französische Beispiel im Zweiten Weltkrieg zeigt, dass andere Kapitulationen möglich sind, dass man Widerstand auch anders führen könnte. Auch das fordert Opfer. Trotzdem dürfte eine Partisanenarmee aus Freiwilligen, die sich aktiv zum Widerstand entschließen, eine Resistance, die mit Sabotageakten agiert, einer zusammengesprenkelten Armee genannten Bürgerwehr vorzuziehen sein.

Der wilde Westen

Der Haupteinwand gegen sämtliche vorgenannte Überlegungen besteht darin, dass man die Existenz des Westens, so wie er in Teil 1 [4] beschrieben wurde, als solche bestreitet. Tatsächlich könnte man "den Westen" auch stattdessen als Zusammenfassung zweier in der Praxis kollidierender Interessenlager begreifen.

Darin stünden dann einerseits die Europäer, für die alles das gilt, was wir skizziert haben. Aber hinter den Europäern stünde eine größere, vollkommen autonom und nicht in Absprache mit ihren Verbündeten agierende Macht: die Vereinigten Staaten von Amerika.

Das Kriegsziel der Amerikaner wäre nach diesem Szenario ein vollkommen anderes: Es läge darin, Russland in der Ukraine in einen möglichst langwierigen Abnutzungskrieg zu verwickeln, der das russische Militär dauerhaft bindet und schwächt und das politische und ökonomische System Russlands durch die Sanktionen und ihre Folgen massiv belastet.

Die USA haben in dieser Sichtweise keinerlei Interesse an einem schnellen Frieden, es sei denn an einem zu ihren Bedingungen. Ihr Interesse liegt in einer Schwächung Russlands.

Wer sind die Kriegsgewinnler?

Der Vorteil dieser Sichtweise ist, dass sie durch die Tatsachen gedeckt wird. Tatsächlich erscheint sowohl das diplomatische Vorgefecht zum 24.2 2022 als auch die jetzige Kriegsführung in ihrer Taktik bislang komplett durch die Amerikaner bestimmt worden zu sein.

Die USA, nicht Europa, nicht Russland, und selbstverständlich nicht die Ukraine sind bisher die ausschließlichen Profiteure der Ukraine-Krise: Die Führungsrolle der USA in der westlichen Allianz ist so unangefochten wie seit Jahrzehnten nicht; die "hirntote" (Emmanuel Macron) Nato wurde zum Leben erweckt, die Integration der Ukraine in EU und Nato erscheint so nahe wie noch nie, Nord Stream 2 ist scheintot, Russland zum Paria der Weltgemeinschaft erklärt, und die Aktien der US-amerikanischen Rüstungsunternehmen steigen und steigen.

Nimmt man Carl von Clausewitz' Aussage ernst, nach der es sich bei einem Krieg um einen Akt der Gewalt handelt, "um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen" dann entspricht der derzeitige Krieg genau den Interessen der USA.

Sobald die Ukraine, ihre Führung wie ihre Bürger, dies erkennen, kann ihre vernünftige Antwort nur wiederum lauten, wie oben unter anderen Voraussetzungen beschrieben: Kapitulation. Die Ukraine hat in diesem Krieg nichts zu gewinnen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6546743

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Kapitulieren-oder-sterben-6546719.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Kapitulieren-oder-sterben-6546719.html
[3] https://homepage.rub.de/michael.luetge/Josephus%20Bellum%20judaicum.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Kapitulieren-oder-sterben-6546719.html