Kampf um die Westsahara
Der seit 30 Jahren bestehende Konflikt über das von Marokko annektierte Land flackert wieder auf
Auslöser der Demonstrationen in El Ayun war die Verlegung eines Häftlings in die marokkanische Küstenstadt Agadir. Einige Hundert Menschen zogen durch das Stadtzentrum, verbrannten marokkanische Fahnen und forderten die Unabhängigkeit der Westsahara, das Marokko 1975 nach dem Ende der spanischen Besetzung in sein Staatsgebiet integriert hatte. Einen Tag später protestierten saharaouische Studenten an der Universität der marokkanischen Hauptstadt Rabat. Wie in Marokko üblich wurde gegen die Demonstranten, die die "Rechtsordnung" des Staates infrage stellen, brutal vorgegangen. Insbesondere die vor kurzem neu geschaffene marokkanische Polizeieinheit "Groupes Urbaines de Securite" ist für zahlreiche Verletzte und willkürliche Verhaftungen verantwortlich. Ein Anti-Terrorgesetz aus dem Jahr 2003, das als Reaktion auf die Bombenattentate in Casablanca gemacht wurde, gibt die Handhabe für das strikte Vorgehen.
Besorgt um Menschenrechtsverletzungen flogen am vergangenen Sonntag eine Gruppe spanischer Journalisten, Vertreter von NGOs und einige Politiker nach El Ayun, der im Nordwesten gelegenen Hauptstadt der Westsahara. Da diese "unabhängige" Gruppeninformationsreise von einem "Komitee für die Solidarität mit dem Volk der Saharawis" organisiert war, verweigerten die marokkanischen Behörden die Einreise. Die Maschine wurde zurück auf die Kanarischen Inseln geschickt. Zwischen den spanischen und marokkanischen Außenministerien wurde daraufhin ausgehandelt, dass nur eine offizielle Delegation des spanischen Parlaments in die Westsahara einreisen dürfe. Trotz dieser Abmachung versuchte zwei Tage später eine Gruppe von Abgeordneten aus Katalonien ihr Glück am Flughafen von El Ayun und wurde prompt zurückgewiesen.
Der "Grüne Marsch" und der Kampf um die Unabhängigkeit
In Sachen Westsahara versteht Marokko keinen Spaß. Unter der Regentschaft von Koenig Hassan II. war das insgesamt 266.000 Quadratkilometer große Gebiet besetzt worden. Rund 300.000 Menschen aus ganz Marokko waren beim "Grünen Marsch" im November 1975 in die Wüstenstaat eingezogen, nachdem die spanischen Truppen ihre Garnisonen verlassen hatten. Die Westsahara galt als letzter Überrest des europäischen Kolonialismus in Nordafrika. Für Marokko ist nichts nahe liegender, als daraus marokkanisches Staatsgebiet zu machen. Als Erinnerung an die Befreiung der Westsahara gibt es in jeder größeren marokkanischen Stadt eine Strasse des "Grünen Marsches".
Unabhängigkeitsbestrebungen für einen eigenen Staat der Saharouis kamen 1973 mit der Gründung der Polisario (Populäre Front für die Befreiung Sag via el Hamra und dem Rio Oro) auf. Die Nomaden der Saharaouis hatten sich in den 60er Jahren in der Westsahara niedergelassen. 1976 erfolgte die Gründung einer "Arabischen Demokratischen Republik Sahara". Der Präsident der Republik, gleichzeitig auch der Generalsekretär der Polisario, ist seitdem Mohammed Abdelaziz. Angesichts der jüngsten Ereignisse, die er als größte Proteste der letzten sechs Jahre bezeichnete, drohte er mit erneutem Guerillakrieg gegen Marokko. Bei den Feierlichkeiten zum 32. Jahrestag der Polisario sagte er, dass "das Volk der Sharaouis nicht endlos inaktiv bleiben kann. Sie werden für ihre nationale Rechte eintreten und das mit allen legitimen Mitteln, die den bewaffneten Kampf mit einschließen".
Für Marokko ein Grund mehr, alle Proteste im Keim zu ersticken. 14 Jahre lang hatte der Krieg in der Westsahara mit der Polisario gedauert, bis 1991 ein Waffenstillstand vereinbart wurde. Es heißt, rund eine Million Dollar habe der Krieg dem marokkanischen Staat täglich gekostet. Von 1983 an wurde ein 2.500 km langer Wall quer durch die Sahara, entlang der algerischen Grenze gebaut. Ein drei Meter hoher Sandwall, mit Bunkern, Elektrozäunen und Landminen, der ungefähr zwei Drittel der Westsahara vom äußerst spärlich besiedelten östlichen Teil abtrennt.
Die Vereinten Nationen sind bislang gescheitert
Rund 100.000 Kriegsflüchtlinge leben noch heute im algerischen Tinduf. Dort befindet sich auch der Hauptsitz der Polisario, die Algerien von Beginn des Konflikts an militärisch und logistisch unterstützte. Ohne algerische Hilfe wäre der Unabhängigkeitskampf schon längst beendet und hätte unter Umständen gar nicht stattgefunden. Zum 32. Jahrestag der Polisario lobte der Präsident Algeriens, Abdelaziz Bouteflika, den "Befreiungskampf der Polisario gegen die ausländische Okkupation". Daraufhin vereisten erneut die Beziehungen zu Marokko, das als Geste der Versöhnung erst vor kurzem die seit Jahrzehnten zu Algerien geschlossene Grenze wieder eröffnet hatte. Das seit zehn Jahren zum ersten Mal wieder in Libyen geplante Gipfeltreffen nordafrikanischer Staaten musste wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen Marokko und Algerien verschoben werden. "Das Treffen wird auf nächstes Jahr verschoben", sagte der mauretanische Außenminister Vall Ould Bellal, "um den strittigen Parteien Zeit zu geben, ihre Konflikte zu lösen".
Die UNO versuchte mehrfach den Konflikt zu lösen. 1991 gründete man die "UN-Mission für ein Referendum in der Westsahara". Entsprechend einer Resolution des UN-Sicherheitsrates von 1990 sollte die Bevölkerung selbst über ihre Zukunft entscheiden: Unabhängigkeit oder Integration in den marokkanischen Staat. Dem Referendum sollte eine mehrjährige "Übergangszeit" vorangehen, in dem ein nationaler "Identifikationsprozess" stattfindet und zudem entschieden wird, wer an der Abstimmung teilnehmen darf. Gerade wegen der Stimmberechtigung gibt es bis heute keine Einigung. Die Polisario will alle in der Westsahara lebenden Marokkaner von der Wahl ausschließen, während Marokko für eine Abstimmung der Gesamtbevölkerung eintritt.
Ein Kompromissvorschlag vom UN-Gesandten James Baker im Jahr 2000 scheiterte am Veto Algeriens und der Polisario. Drei Jahre später, im Juli 2003, sollte die Westsahara semi-autonomes Gebiet von Marokko werden und nach spätestens fünf Jahren sollte das Referendum stattfinden. Diesmal lehnte Marokko ab und begründete es mit "Sicherheitsbedenken". James Baker resignierte daraufhin. Der Nachfolger Alvaro de Soto aus Peru konnte bisher nichts Nennenswertes erreichen. Nach dem Regierungswechsel in Spanien fühlt sich Marokko in seiner Position gestärkt. Der spanische Regierungschef Jose Luis Zapatero ist um gute nachbarschaftliche Beziehungen bemüht. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Jose Marie Aznar unterstützt er nicht mehr die Interessen der Polisario. Als Gegenleistung verpflichtet sich Marokko, die Immigration aus der Westsahara auf die Kanarischen Inseln zu unterbinden. Spanien wird für die Lieferung neuer europäischer Überwachungssysteme sorgen. Zudem werden in Kürze 20 Panzer vom Typ M60 A3 geliefert, die Marokko in der Westsahara an der Grenze zu Algerien stationieren will.
Nach den Ereignissen in El Ayun ist das Referendum in noch weitere Ferne gerückt. Solange die Polisario mit Unterstützung Algeriens agiert, wird es auf absehbare Zeit keine Lösung geben. Marokko wird seinen Anspruch auf das phosphatreiche Gebiet mit Ölvorkommen vor der Küste nicht aufgeben. Man hat bereits Verträge zur Förderung vergeben. Obendrein ist die nationale Einheit des Volks der Saharaoui eine Fiktion geworden. Mittlerweile sind mindestens ein Drittel der rund 270.000 starken Bevölkerung in der Westsahara Marokkaner. Viele Saharaouis wohnen und arbeiten im Norden von Marokko, die großen Wert auf ihren Dialekt und ihre Kultur pflegen, sich aber als Marokkaner fühlen. Von einem Befreiungskampf wollen sie nichts wissen. "Die Polisario hat wenig mit Demokratie zu tun", sagte ein Saharaoui aus El Ayoun, der seit einigen Jahren ein Lebensmittelgeschäft in Tanger betreibt. "Die Polisario, das ist wie eine kleine Sekte." Schmunzelnd fügt er hinzu: "Und was soll man von einem Präsidenten halten, der seit fast 30 Jahren im Amt ist?"