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Kanada: Sag mir, wer die Kinder sind

Eine der ehemaligen "Residential Schools" in British Columbia. Foto: Vancouver Public Library Historical Photographs / CC0 1.0

Seit Ende Mai wurden in Kanada rund 1.200 anonyme Gräber indigener Kinder entdeckt - im Umfeld ehemaliger Spezialschulen, die der kulturellen Umerziehung dienten

Innerhalb von etwa sechs Wochen wurden im Umfeld ehemaliger kanadischer Missionarsschulen anonyme Gräber von rund 1.200 indigenen Kindern entdeckt. Sie alle sind Opfer eines kulturellen Völkermords. Sie alle waren Angehörige indigener Völker (Natives), die von ihren Familien getrennt und zwecks kultureller Umerziehung in "Residential Schools" zwangsinterniert wurden. Diese Internate wurden größtenteils von der katholischen Kirche im Namen der kanadischen Regierung betrieben - zum Teil noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die grausigen Funde sind ein Relikt aus dem Kolonialismus, der das Leben der Natives bis heute bestimmt. Insgesamt wird die Zahl der namentlich bekannten und unbekannten Kinder, die in Kanadas "Residential Schools" gestorben sind, bisher auf mindestens 4.100 geschätzt. Von einer hohen Dunkelziffer muss ausgegangen werden. Bereits 2015 hatte die "Wahrheits- und Versöhnungskommission" den Abschlussbericht [1] einer entsprechenden Untersuchung vorgelegt.

Seit etwa 12.000 Jahren besiedeln die First Nations [2] das Gebiet. Der Begriff "First Nations" umfasst alle indigenen Völker mit Ausnahme der Inuit und der Métis. Vor 5.000 Jahren kamen die Inuit dazu, ab dem späten 15. Jahrhundert landeten die Europäer an der Ostküste des heutigen Kanada, um 1600 begannen sie mit der Kolonialisierung, zunächst Franzosen und Briten, die Franzosen traten das von ihnen kolonialisierte Territorium jedoch 1763 an Großbritannien ab. Mit der Besiedelung durch die Europäer bildete sich eine neue Ethnie heraus: die Métis, die Nachfahren europäischer Pelzhändler und indigener Frauen.

1867 gründeten drei britische Kolonien die "Kanadische Konföderation", 1931 erhielt das Land gesetzgeberische Unabhängigkeit von Großbritannien, heute ist Kanada eine parlamentarische Monarchie, nominelles Oberhaupt ist Königin Elisabeth II.

Die "christliche Zivilisation" gewaltsam durchsetzen

Die Ureinwohner galten unter europäischen Siedlern als unzivilisiert. Letztere machten es sich daher zur Aufgabe, ihnen Manieren, Kultur und Bildung nach christlicher Provenienz beizubringen. Die Kinder wurden statt in ihrer Muttersprache in Englisch beziehungsweise Französisch unterrichtet. Somit wurden sie komplett von ihren Angehörigen entfremdet.

Es war ein gigantisches staatliches Umerziehungsprogramm, das größtenteils in die Hände der katholischen Kirche gelegt wurde, um die Kinder "an die christliche Zivilisation heran" zu führen, wie es der katholische Sender Domradio.de [3] Anfang Juli formulierte. Eine 1991 in Kanada eingerichtete Untersuchungskommission [4] nannte das in ihrem Bericht "kulturellen Triumphalismus". Ein kultureller Völkermord, der nicht nur soziales Leben vernichtete, sondern auch physisches, was heute als unbestreitbare Tatsache gilt.

Dass Menschen je jünger, desto formbarer sind, war damals schon bekannt. Also wurden im großen Stil Kinder aus ihren Familien herausgenommen und in den eigens dafür gegründeten "Residential Schools" interniert. Insgesamt sollen etwa 150.000 Kinder in diesen Schulen unterrichtet worden seien. Die Gründung der ersten Schulen Mitte des 19. Jahrhunderts ging mit dem Versuch einher, aus den Nomadenstämmen sesshafte Bauern zu machen. Die Lebensweise der Natives passte so gar nicht zu den Vorstellungen der Siedler, auch finanzielle Anreize fruchteten nicht so recht, also mussten andere Saiten aufgezogen werden.

Ein gigantisches Umerziehungsprogramm begann

Dem "Assembly of First Nations" [5] (Versammlung der First Nations) zufolge, wurde 1857 der "Gradual Civilization Act" (Gesetz zur schrittweisen Zivilisierung) verabschiedet, die Grundlage der gewaltsamen Assimilierung, die dann in den folgenden Jahrzehnten folgte. Den Zeitraum zwischen 1870 und 1910 bezeichnen sie als "die Periode, in der beide, sowohl Regierung als auch Missionare, die Einheimischen am unteren Rand in die neu entstandene kanadische Gesellschaft eingliedern wollten". 1920 wurde der Schulbesuch für alle Kinder zwischen sieben und 15 Jahren in Kanada Pflicht.

Die Kinder seien von Priestern, Polizisten und indigenen Kollaborateuren gewaltsam aus ihren Familien genommen worden, so die Organisation. 1931 existierten 80 dieser Schulen, 1948 waren es 72 mit 9.368, im Jahr 1979 noch zwölf mit 1.899 Schülerinnen und Schülern. 1980 wurden Vorwürfe laut, dass die Kinder verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt seien - darunter auch sexualisierte Gewalt. 1996 wurde die letzte der über die Jahre insgesamt rund 130 Einrichtungen geschlossen.

2008 wurde die "Truth and Reconciliation Commission of Canada" (TRC) (Wahrheits- und Versöhnungskommission) nach südafrikanischem Vorbild gegründet, um die Verbrechen aufzuarbeiten. Der damalige kanadische Premierminister Stephan Harper [6] erkannte eine "anhaltende und zerstörerische Wirkung auf die eingeborene Kultur, ihr Erbe und ihre Sprache" an. Sowohl Staat als auch Kirche stellten Gelder für die Aufarbeitung der Geschehnisse sowie Sozialprogramme für die indigene Bevölkerung zur Verfügung. Von einem Verbrechen wollte aber niemand sprechen.

2009 drückte der damalige Papst Benedict XVI. sein Mitgefühl aus, sein Nachfolger Papst Franziskus entschuldigte sich später - 2015 - für die "schweren Sünden aus der Kolonialzeit".

Eine bis 2015 dauernde Untersuchung kam zu dem Schluss, dass insgesamt mindestens 4.100 namentlich bekannte und unbekannte Kinder in den Einrichtungen für immer verschwunden waren. Die Eltern wurden gar nicht benachrichtigt, ihnen wurde gesagt, die Kinder seien an verschiedenen Erkrankungen verstorben oder sie seien weggelaufen. Es wird eine hohe Dunkelziffer verschwundener Kinder vermutet. Um die Kosten so niedrig wie möglich zu halten, seien die Kinder in namenlosen Gräbern verscharrt worden, statt sie an ihre Familien zurückzugeben.

Die Wut richtete sich gegen Kirche und Monarchie

Nach dem ersten Fund am 27. Mai 2021 wurde in der direkten Umgebung aller ehemaligen "Residential Schools" in ganz Kanada nach weiteren Gräbern gesucht. Knapp sechs Wochen später wurden etwa 750 anonyme Gräber gefunden, wenige Tage später noch einmal 182.

Die Funde erschütterten das Land, insbesondere die indigene Bevölkerung. Es kam zu Protesten und auch gewaltsamen Ausschreitungen, die sich nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die britische Monarchie richtete: Kirchen gingen in Flammen auf und royale Denkmäler wurden vom Sockel gestürzt.

Der indigene Widerstand wächst

Die Native-Aktivistin Erica Violet Lee wies im Guardian [7] die Bezeichnung der Einrichtungen als Schulen zurück - es seien "Gefängnisse" und "Zwangsarbeiterlager" gewesen. Sie schrieb:

Wir alle hatten die Geschichten gehört, lange bevor sie in diesem Sommer rund um die Uhr von jedem Nachrichtensender in Kanada berichtet wurden. Lange bevor Bodenradargeräte das Vorhandensein nicht gekennzeichneter Gräber bestätigten, wussten wir, dass unsere vermissten Familienmitglieder nicht einfach "verschwunden" waren oder versucht hatten, aus den Internaten zu fliehen, und dabei scheiterten, trotz dessen, was uns Missionare und Regierungsbeamte gesagt hatten. Indigene Gemeinschaften sind notwendigerweise eng verbunden, und wir leben in der Geschichte unseres Volkes trotz aller Bemühungen, unser Wissen, unsere Kulturen, Sprachen - und unser Leben - auszurotten.

Die Schulen seien gegründet worden, um "indigene Völker aus unserem Land zu entfernen und uns in die kanadische Gesellschaft zu integrieren. Weder die Kirche noch der Staat sind unschuldig am anhaltenden Völkermord an unserem Volk." Sie selbst sei in einer städtischen Grundschule mit dem Singen von "Oh Canada" und "God Save the Queen" auf Versammlungen aufgewachsen. In der Kantine mussten vor dem Essen christliche Lieder gesungen werden. Sie beschrieb auch die brutale Ausbeutung der indigenen Bevölkerung:

Ich erinnere mich, gehört zu haben, wie Angehörige des Volkes der Cree, darunter auch kleine Kinder, in brutaler Sommerhitze auf Zuckerrübenfarmen arbeiten mussten. Dies war in den 1940er- bis mindestens in den 1980er-Jahren gängige Praxis: Bauern lockten enteignete und hungernde Indigene mit falschen Versprechungen zu Saisonarbeit und zwangen die Arbeiter dann, zwölf bis 14 Stunden am Tag mit wenig oder keinem Lohn zu arbeiten. Sie schliefen in Lastwagen, Zelten oder leeren Getreidekisten. Wenn sie sich in nahegelegene Städte wagten, wurden sie mit Schlagstöcken verjagt. Wenn sie versuchten, woanders zu gehen, konnten ihre Kinder weggenommen werden.

Einige der Geschichten, die über die Missionarsschulen erzählt würden, handelten von "einheimischen Kindern, die Gräber für andere Kinder ausheben." Die indigenen Kinder hätten ihr Leben nie "verloren"; es sei ihnen vorsätzlich und gewaltsam gestohlen worden.

Ebenso ging das Land der Indigenen - von Kanada bis in die USA und darüber hinaus - nie "verloren"; sie wurden und werden gewaltsam kolonisiert. Die Wörter, die wir verwenden, sind wichtig für das Leben der Ureinwohner, weil diese Wörter die Vergangenheit, die Gegenwart und das Mögliche definieren.

Die Wunden seien tief, so die Autorin. Doch trotz aller Bemühungen, trotz aller Gewalt, trotz der indigenen Kollaborateure, die in den Reservaten patrouillierten, sei es nicht gelungen, das kulturelle Erbe der indigenen Bevölkerung komplett zu zerstören. Die Spiritualität, "unsere Zeremonien und unsere Sprachen wurden bewahrt und im Untergrund praktiziert." Ihre Vorfahren hätten nicht aufgegeben und ihre Generation müsse den Widerstand fortsetzen.

Der Nationalfeiertag wurde zum Tag der Besinnung

Anlässlich des "Canada Day", dem Nationalfeiertag am 1. Juli, rief die Organisation "Idle no more" (Sei nicht länger untätig) unter anderem in sozialen Netzwerken zum "Cancel Canada Day" auf, einen Protesttag gegen die kolonialistische Selbstbeweihräucherung:

Die jüngste Entdeckung … hat uns daran erinnert, dass Kanada nach wie vor ein Land ist, das seine Grundlage auf der Ausrottung und dem Völkermord indigener Nationen, einschließlich der Kinder, aufgebaut hat. Wir weigern uns, untätig zu sitzen, während Kanadas gewalttätige Geschichte gefeiert wird.

Landesweit sollten Aktionen durchgeführt werden, in "jedem traditionell indigenem Territorium, städtisch oder ländlich, von Küste zu Küste zu Küste." Native-Organisationen riefen laut Guardian [8] alle Menschen in Kanada dazu auf, statt zu feiern, den Tag reflektierend zu verbringen und um die Kinder zu trauern, die niemals nach Hause zurückkehrten. Es sei wichtig, "dass wir diese Geschichte, den Schmerz und das, was den indigenen Völkern in diesem Land angetan wurde, anerkennen".

Auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau mahnte:

Am kommenden Kanada-Tag, denke ich, müssen wir uns alle verpflichten, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Kanada besser zu machen, während wir diejenigen respektieren und ihnen zuhören, für die es noch kein Tag zum Feiern ist.

Möge diese Besinnlichkeit lange anhalten und auch nach good old Europe rüberschwappen - von dort aus die Kolonialisierung Kanadas begann und dessen Verstrickung in diese Verbrechen ebenfalls bis heute nicht aufgearbeitet wurde. Es wäre interessant, sich die damals beteiligten Akteure einmal genauer anzusehen. Bekanntermaßen war es übliche Praxis in der katholischen Kirche, einschlägig auffällig gewordene Priester nicht juristisch zu belangen, sondern sie zu versetzen - auch über die Landesgrenzen hinaus. Wer weiß, wie viele Deutsche an den Gewalttaten beteiligt waren, die Verbrechen zu nennen weder Papst Benedict XVI. noch sein Nachfolger Papst Franziskus über die Lippen brachten.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6141118

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.trc.ca/assets/pdf/Volume_4_Missing_Children_English_Web.pdf
[2] http://data2.archives.ca/e/e448/e011188230-01.pdf
[3] https://www.domradio.de/themen/weltkirche/2021-07-08/wut-nach-graeberfunden-kanadas-indigene-klagen-katholische-kirche
[4] http://data2.archives.ca/e/e448/e011188230-01.pdf
[5] https://web.archive.org/web/20100503175242/http:/www.afn.ca/residentialschools/history.html
[6] https://www.rcaanc-cirnac.gc.ca/eng/1100100015644/1571589171655
[7] https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/jul/06/native-children-didnt-lose-their-lives-at-residential-schools-their-lives-were-stolen?fbclid=IwAR11UxQfAnXBc8MMfP5qtem5E6AyZei-LY37cFbFTdMsrvE9fb40UHXiCZA
[8] https://www.theguardian.com/world/2021/jun/30/cancel-canada-day-unmarked-graves-indigenous-people