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Kapitolsturm: Trotz Rekordstrafe für Proud-Boys-Anführer, USA weiter in Extremisten-Krise

David Goeßmann

Enrique Tarrio und die Proud Boys bei einer Rally in Virginia, Januar 2020. Bild: Anthony Crider / CC BY 2.0

Enrique Tarrio muss für viele Jahre ins Gefängnis, wegen seiner Rolle beim versuchten Staatssturz. Auch Trump muss sich vor Gericht verantworten. Warum die Gewalt trotzdem weitergeht.

Der ehemalige Vorsitzende der rechtsradikalen, gewaltbereiten US-Miliz Proud Boys, Enrique Tarrio, wurde gestern wegen aufrührerischer Verschwörung und der Anführung einer gescheiterten Verschwörung zur Verhinderung der Machtübergabe von Donald Trump an Joe Biden zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt [1]. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass Tarrio an der Planung beim Angriff auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 beteiligt gewesen ist.

Die Staatsanwaltschaft beantragte eine Haftstrafe von 33 Jahren. Der Richter Timothy Kelly stimmte dem nicht zu, auch wenn er schließlich die längste Strafe im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das US-Kapitol verhängte. Vier weitere Mitglieder der Führung der Proud Boys waren vorher schon wegen aufrührerischer Verschwörung für schuldig befunden und verurteilt worden [2], drei davon letzte Woche.

Ethan Nordean und Joseph Biggs, zwei der führenden Köpfe der rechtsextremen Organisation, wurden zu 18 bzw. 17 Jahren Haft verurteilt. Zachary Rehl, ein örtlicher Anführer der Proud Boys, wurde zu 15 Jahren hinter Gittern bestraft, während Dominic Pezzola, ein Mitglied auf niedriger Ebene und der einzige Angeklagte, der von der Anklage der aufrührerischen Verschwörung freigesprochen wurde, für zehn Jahre ins Gefängnis muss.

Tarrio war wenige Tage vor den Unruhen in Washington D.C. verhaftet worden [3], weil er das Black-Lives-Matter-Banner einer Kirche dort verbrannt und große Mengen an Gewehrmagazinen in die Hauptstadt gebracht hatte. Ein Richter wies daraufhin an, dass er die Stadt zu verlassen habe.

Während des monatelangen Prozesses wies die Staatsanwaltschaft nach, dass Tarrio im Vorfeld des 6. Januar an der Schaffung einer Kommandostruktur innerhalb der Proud Boys beteiligt war, die den Mitgliedern der Organisation vorschrieb, wie sie bei der Teilnahme an großen Kundgebungen vorzugehen haben.

Obwohl er sich am 6. Januar nicht in Washington aufhielt, drückte Tarrio seine Unterstützung für die Angreifer online aus und stand mit seinen Mitangeklagten vor Ort in Kontakt, so die Staatsanwaltschaft.

Die Proud Boys haben beim Angriff auf das Kapitol an der Spitze des Mobs gestanden [4], durchbrachen die Absperrungen und die Polizeikette und schlugen Fenster ein, um Randalierer in das historische Gebäude zu lassen. Dies führte schließlich dazu, dass der Kongress evakuiert und die Bestätigung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2020 vorübergehend ausgesetzt wurde.

Fünf Menschen starben im Zuge des Angriffs [5], 138 Sicherheitskräfte wurden verletzt [6] und vier Polizeibeamte, die das Kapitol versuchten zu schützen, haben sich innerhalb der nächsten sieben Monate das Leben genommen [7].

Die von Tarrio geleitete Organisation Proud Boys sei "nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein", wenn es um die Gewalt am 6. Januar gehe, sagte Staatsanwalt Conor Mulroe [8]. Die Gruppe "spielte eine wesentliche Rolle bei diesem ersten Einbruch" im Kapitol, fügte er hinzu. "Die Aktionen dieser Gruppe waren am 6. Januar absolut entscheidend und folgten direkt auf die Verschwörung und Planung von Enrique Tarrio".

Mehr als 1.100 Personen [9] wurden im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Kapitol angeklagt. Mehr als 600 wurden verurteilt, mehr als die Hälfte zu Haftstrafen.

Tarrios Anwälte bestritten vor Gericht [10], dass die Proud Boys geplant hätten, das Kapitol anzugreifen. Sie argumentierten, dass die Staatsanwälte Tarrio als Sündenbock für Trump benutzen, der am 6. Januar auf einer "Stop the Steal"-Kundgebung in der Nähe des Weißen Hauses sprach und seine Anhänger aufforderte, "wie die Höllenhunde zu kämpfen".

Proud Boys und Trump haben Gewalt normalisiert

Andy Campbell, leitender Redakteur bei der HuffPost und Experte für Rechtsextremismus, argumentiert [11], dass die Proud Boys als Bande jedoch nach ihren eigenen Richtlinien beim Angriff gehandelt hätten. Dabei seien sie Trump, Tucker Carlson und den aufhetzenden Republikanern sicherlich gefolgt. Aber das sei kein "Unfall" gewesen, wie jetzt vor Gericht behauptet werde, sondern Programm.

So habe Enrique Tarrio schon vor dem 6. Januar in Kontakt mit Roger Stone gestanden [12], einem von Trumps Top-Vertrauten. Im Interview hätte Stone Campell gegenüber eingestanden, dass er die Proud Boys seit Jahren politisch berate und ihnen dabei helfe, sich zu einer politischen Maschine zu entwickeln. Diese Leute hatten, so Campell, einen direkten Draht zu Trump.

Ich will nicht behaupten, dass ich Beweise dafür habe, dass sie an jenem Tag mit Trump gesprochen oder ihn informiert haben – das wissen wir noch nicht. Aber sicherlich wusste Trump, dass da draußen eine Straßenbande und ein Haufen Randalierer darauf warteten, sich auf sein Wort hin zu mobilisieren. Kurz nachdem Trump eine Nachricht auf Twitter gepostet hatte, in der er seinen Anhängern mitteilte, dass es am 6. Januar in Washington zu wilden Protesten kommen würde, schrieb Joseph Biggs an Enrique Tarrio und ermutigte ihn, "radikale und echte Männer" zu finden, die diesem Aufruf zum Handeln folgen sollten.

Als Trump am 6. Januar gesagt wurde, dass bewaffnete Männer zu seiner Kundgebung kommen würden, war seine Antwort: "Zwingt die Leute nicht, durch Metalldetektoren zu gehen."

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump muss sich nun ebenfalls im Zusammenhang mit dem Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol und versuchter Einflussnahme auf das Ergebnis der US-Wahl 2020 vor Gericht verantworten [13]. Heute wird dem Ex-Präsidenten in Atlanta im Bundesstaat Georgia zudem in einem weiteren Prozess die Anklage verlesen [14].

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem versuchte Wahlmanipulation vor. Trump wird voraussichtlich nicht persönlich vor Gericht erscheinen. Er und seine 18 Mitangeklagten hatten sich bereits im Vorfeld für nicht schuldig erklärt.

In dem Verfahren geht es darum, dass Trump und seine Vertrauten versucht haben sollen, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2020 in Georgia nachträglich zu manipulieren. Unter anderem soll Trump den Wahlleiter des Bundesstaates angerufen und ihn gebeten haben, so viele Stimmen zu finden, wie er für einen Sieg brauche.

Gegen den Ex-Präsidenten der USA laufen inzwischen insgesamt vier Strafverfahren. Bei den republikanischen Wählern gilt er dennoch als beliebt: Laut einer aktuellen Umfrage des Fernsehsenders CNN [15] bevorzugen mehr als die Hälfte der Parteianhänger Trump als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr.

Doch selbst wenn die Anführer der Proud Boys im Gefängnis sitzen, organisiert die rechtsextreme Organisation weiter [16]. Sie tyrannisieren Pro-Choice-Demonstrationen, positionieren sich vor Abtreibungskliniken, treten auf bei Schulratssitzungen und mobilisieren für die Republikaner wie Ron DeSantis, auch wenn sie im Moment nicht für Trump Werbung machen. Aber das kann sich im Verlauf des Wahlkampfs noch ändern.

Andy Campell sieht daher kein Ende der gesellschaftlichen Unruhen und der Gefahr eines Bürgerkriegs in den USA:

Selbst wenn sich die Proud Boys morgen auflösen oder ihren Namen ändern würden, was ich nicht erwarte, ändert das nichts an der Tatsache, dass wir uns in einer tief verwurzelten extremistischen Krise befinden, die hinaufreicht auf die höchsten Ebenen des rechten politischen Spektrums und des Regierungsapparats. Die Proud Boys haben, wie Richter Kelly richtig feststellt, die Tradition der friedlichen Machtübergabe zerstört. Sie haben die Gewalt so weit normalisiert, dass man sich vor Wahllokalen, Abtreibungskliniken und politischen Versammlungen in den USA fürchten muss, weil es diese extremistischen Gruppierungen gibt. Diesen Schaden haben die Proud Boys angerichtet und tun es weiter.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spiegel.de/ausland/sturm-auf-das-us-kapitol-proud-boys-anfuehrer-zu-22-jahren-haft-verurteilt-a-1814bb28-5800-4c79-b451-f85f8f9d9c37
[2] https://www.nbcnews.com/politics/justice-department/proud-boy-ties-record-longest-jan-6-sentence-seditious-conspiracy-case-rcna103070
[3] https://edition.cnn.com/2023/09/05/politics/enrique-tarrio-sentencing-proud-boys-seditious-conspiracy/index.html
[4] https://www.telepolis.de/features/US-Ausschuss-will-zeigen-Trump-hat-zum-Staatsstreich-aufgerufen-Update-7133936.html?seite=all
[5] https://www.theguardian.com/us-news/2021/jan/08/capitol-attack-police-officer-five-deaths
[6] https://www.nytimes.com/2021/02/11/us/politics/capitol-riot-police-officer-injuries.html
[7] https://www.washingtonpost.com/local/public-safety/police-officer-suicides-capitol-riot/2021/02/11/94804ee2-665c-11eb-886d-5264d4ceb46d_story.html
[8] https://edition.cnn.com/2023/09/05/politics/enrique-tarrio-sentencing-proud-boys-seditious-conspiracy/index.html
[9] https://www.theguardian.com/us-news/2023/sep/05/enrique-tarrio-proud-boys-sentenced-jan-6-attack
[10] https://www.theguardian.com/us-news/2023/sep/05/enrique-tarrio-proud-boys-sentenced-jan-6-attack
[11] https://www.democracynow.org/2023/9/1/proud_boys_leaders_january_6th_sentencing
[12] https://www.democracynow.org/2023/9/1/proud_boys_leaders_january_6th_sentencing
[13] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/anklage-donald-trump-sturm-us-kapitol-100.html
[14] https://www.n-tv.de/politik/Trump-windet-sich-Georgia-beisst-sich-fest-article24374768.html
[15] https://edition.cnn.com/2023/09/05/politics/cnn-poll-trump-primary-criminal-charges/index.html
[16] https://www.democracynow.org/2023/9/1/proud_boys_leaders_january_6th_sentencing