Kasachstan: "Deshalb genießen die Behörden kaum Vertrauen"
Welche Hintergründe hatten Proteste und Unruhen in Kasachstan und wie ist die Lage nun? Ein Gespräch mit der Journalistin Ajsulu Tojschibekowa aus Almaty
Die Unruhen vom Jahresanfang in Kasachstan wurden inzwischen von Polizei und Militär beendet. Die Diskussion über Ursachen und Konsequenzen ist bereits Teil der Geopolitik. Eines der Zentren der Proteste war die Millionenmetropole und frühere kasachische Hauptstadt Almaty. Telepolis sprach mit der örtlichen Journalistin Ajsulu Tojschibekowa über die Vorgänge in ihrem Land. Sie arbeitet für die dort wichtige russischsprachige Onlinezeitung Vlast.
Almaty war ein Zentrum der Proteste in Kasachstan. Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?
Ajsulu Tojschibekowa: Ich habe das Umfeld meiner eigenen Wohnung seit dem Abend des 5. Januar nicht mehr verlassen. In den ersten Tagen nach den Krawallen, als der friedliche Protest in solche Krawalle umgeschlagen war, hörten wir Knall- und Explosionsgeräusche.
Dann wurde offiziell eine Anti-Terror-Operation in der Stadt angekündigt. Davor, in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar, hörten wir auch explodierende Blendgranaten, aber von den Aufständischen war hier nichts zu sehen. Ich habe in all den Tagen ehrlich bereits jedes Zeitgefühl verloren.
Zerstörte Geldautomaten, geplünderte Geschäfte
Was haben Sie von den Gewalttätigkeiten gehört?
Ajsulu Tojschibekowa: Wir leben etwa fünf Minuten zu Fuß von einer der Hauptstraßen der Stadt entfernt. Die Geschäfte in dieser Straße wurden durch Plünderungen schwer beschädigt. Die angrenzenden kleinen Gassen blieben aber unberührt, da es dort vor allem Wohngebäude gibt.
Wir telefonierten mit Freunden, die im Stadtgebiet mehr unterwegs waren. Sie erzählten von zerbrochenen Fenstern und zerstörten Geldautomaten. Auf einigen Straßen gibt es jetzt Kontrollpunkte des Militärs, aber ich habe sie nicht persönlich gesehen.
Wie funktioniert die Versorgung der Bevölkerung? Es war in Presseberichten zu lesen von Hamsterkäufen? Funktioniert das Internet?
Ajsulu Tojschibekowa: Die von mir nächsten Lebensmittelgeschäfte arbeiteten ohne Unterbrechung. Am 5. und 6. Januar herrschte Aufregung, die Leute kauften alles auf, bis nichts mehr übrig war. Es kam auch eine Lieferung mit Brot und so hatten wir es besser als andere Einwohner von Almaty, die wirklich weder Eier noch Milch bekommen konnten.
Allgemein normalisiert sich die Lage. Die Müllabfuhr arbeitet wieder, öffentliche Verkehrsmittel fahren seit Montag auch wieder. Das Internet funktionierte kabelgebunden erstmals wieder am 10. Januar bis gegen Mittag. Messengerdienste sind wieder verfügbar. Wir konnten unsere Familie kontaktieren und stapelweise liegen gebliebene Nachrichten lesen. Ein offizielles Ende des Militäreinsatzes steht aber noch aus.
Ausländische Truppen schützen strategische Objekte
Die Proteste wurden von Polizei und Militär beendet. Waren daran auch Truppen aus anderen Staaten wie Russland beteiligt?
Ajsulu Tojschibekowa: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ich unterstützte die friedlichen Proteste, die bereits mit Tränengas und Blendgranaten zerstreut wurden. Die Plünderungsaktionen folgten später ab 5. Januar durch bewaffnete Leute oder "Terroristen", wie sie der Präsident nennt.
Über eine Beteiligung ausländischer Truppen an Kampfhandlungen weiß ich nichts. Ich habe auch keine solchen Truppen direkt gesehen. Nach offiziellen Angaben schützen sie wichtige strategische Objekte, während die kasachische Polizei ihre Operationen in Eigenregie durchführt.
Viele Menschen waren mit der Herrschaft von Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew unzufrieden und Demonstranten skandierten Parolen gegen ihn. Nun hat er seine verbliebene Macht an Präsident Tokajew verloren. Haben die Menschen jetzt Hoffnung auf eine optimistischere Zukunft oder betrifft ihre Unzufriedenheit die ganze politische Elite?
"Die Armen werden sozial praktisch nicht geschützt"
Ajsulu Tojschibekowa: Nursultan Nasarbajew war nur bis März 2019 Präsident, behielt aber weiter seinen Einfluss. So blieb er bis 2021 Vorsitzender des Parlamentes und der Regierungspartei, bis diesen Januar leitete er den Sicherheitsrat. Diesen Posten hat am 5. Januar der nun aktuelle Präsident Tokajew von sich aus übernommen.
So hat Nasarbajew die Macht nicht wirklich "aufgegeben". Natürlich haben die Bürger Kasachstans Fragen an ihn. Sie haben sie aber auch an Tokajew, da sich viele Probleme im sozialen und wirtschaftlichen Bereich angesammelt haben und durch die Pandemie verschärft wurden.
Es gibt in Kasachstan sowohl reiche als auch arme Menschen. Die Armen werden sozial praktisch nicht geschützt. Deshalb genießen die Behörden kaum Vertrauen. Ich persönlich möchte glauben und hoffe, dass die Regierung Kasachstans nach einer so schweren Krise, die uns alle viel gekostet hat, den Weg zu politischen und sozialen Reformen einschlägt, auf die alle warten. Man kann nicht in einem Land ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft leben.
Es laufen Untersuchungen, wer hinter der Gewalt steckt
Halten Sie weitere Gewaltausbrüche oder Demonstrationen in Almaty für wahrscheinlich? Oder haben sich die Proteste erschöpft?
Ajsulu Tojschibekowa: Diese Frage kann ich noch nicht beantworten, da wir immer noch in der "Tragödie von Almaty" leben, wie Präsident Tokajew sie genannt hat. In der Stadt Aktau dagegen verliefen die Kundgebungen friedlich. Das ist wichtig und ich hoffe, dass die Kasachen auch weiter friedlich protestieren dürfen. Das ist ein Bestandteil eines gesunden Staates - das Recht auf friedliche Versammlung steht in unserer Verfassung und ist ein Menschen- und Bürgerrecht.
In Russland sprach Wladimir Präsident Putin von gut ausgebildeten Provokateuren, die lokale Proteste gewalttätig machten. Tokajew spricht sogar von einem Putschversuch. Kennen Sie Hinweise auf eine Provokation von außen?
Ajsulu Tojschibekowa: Tokajew hat beim Online-Gipfel des von Russland geführten Sicherheitsbündnisses OVKS das Geschehen als "Aggression gegen Kasachstan" bezeichnet. Eigentlich weiß niemand, wie es genau abgelaufen ist oder wer dahintersteckt.
Das muss im Rahmen der jetzt angelaufenen Ermittlungen geklärt werden. Ich hoffe, dass diese Untersuchungen gründlich sind und zur Wahrheit führen. Der Leiter des Nationalen Sicherheitskomitees, Karim Massimow, eine zentrale Figur der kasachischen Politik, wurde wegen Hochverrat inhaftiert. Noch liegt kein abschließendes Untersuchungsergebnis vor, wir können also nur abwarten.
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