Kaschmir, Indien und Pakistan: Am Abgrund, mal wieder

Mark Engeler
Unbekannter indischer Soldat in Kaschmir, Bild aus dem Jahr 2015, im Hintergrund Berge.

Indischer Soldat in Kaschmir. Bild (20215): Shutterstock.com

Im Schatten der Supermächte eskaliert der Kaschmir-Konflikt erneut. Nach einem Anschlag reagiert Indien scharf gegen Pakistan. Droht ein Krieg um Wasser? Analyse.

Nach dem Attentat von Pahalgam im indischen Teil Kaschmirs am 22. April mit 26 Toten wächst in Südasien wieder einmal die Kriegsgefahr.

Indien macht von Pakistan unterstützte Militante (Terroristen oder Freiheitskämpfer, je nach Lesart) dafür verantwortlich und reagiert auf scharfe Weise.

Die Gründe dafür können nur vermutet werden, jedoch ist eines sicher: Seit 1971 wurde nicht so massiv auf eine tatsächliche oder eingebildete Provokation Pakistans reagiert. Einige Beispiele aus jüngerer Vergangenheit.

Drei Krisen, drei Beinahekriege – und jedes Mal am Rand des Abgrunds

1999: Im Frühling (Indien und Pakistan waren erst wenige Monate erklärte Atommächte) befielt der spätere Militärdiktator Pervez Musharraf eigenmächtig ohne Einwilligung seiner zivilen Vorgesetzten in der Regierung Pakistans eine Invasion Kaschmirs (die Kargil-Krise), bei welcher als lokale Freiheitskämpfer getarnte Soldaten Pakistans die Waffenstillstandslinie (Line of Control, LoC) nach Indien überschritten.

Erst nach monatelangen Kämpfen gelang es der indischen Armee, die Pakistanis zu vertreiben. Indien erklärte nicht formal den Krieg und auch der Indus Water Treaty (IWT) wurde nicht angetastet.

2008: Der Angriff auf Mumbai. In einer zweifellos vom pakistanischen Militärgeheimdienst ISI geleiteten Operation griffen zehn Attentäter die indische Metropole an und töten über 150 Menschen. Wiederum erklärte Indien (durch Intervention der US-Amerikaner) nicht den Krieg und ergriff auch sonst keine weiteren harten Maßnahmen.

2019: Beim Angriff auf einen indischen Militärkonvoi im kaschmirischen Pulwama sterben 40 Soldaten. Indien schickt zum ersten Mal seit dem Krieg 1971 seine Luftwaffe über die LoC und bombardiert angebliche Terrorausbildungslager.

Pakistan schießt eine indische Maschine ab und nimmt den Piloten gefangen. Man befindet sich am Rande eines Atomkriegs.

Doch der Pilot wird freigelassen, keine Seite erklärt formal den Krieg und auch sonst ist die Episode nach einigen Wochen zumindest medial vergessen.

Vertrag über die Verteilung des Wassers: Der Indus Water Treaty

Über 90 Prozent der Wasservorkommen der 240-Millionen-Nation Pakistan (die fünftgrößte Bevölkerung weltweit) kommt über das Einzugsgebiet des Indus aus Indien (und ein beträchtlicher Anteil davon ursprünglich aus China).

Der Vertrag über die Verteilung des Wassers von Indus und seiner Nebenflüsse wurde 1960 unter Führung der Weltbank unterzeichnet und hat historische Bedeutung: Es musste einfach zu einer Einigung der Anrainer kommen, denn ohne Bewässerung sind die fruchtbaren Böden des Punjab (auf beiden Seiten der Grenze) und weiter südlich in Pakistan in Sindh wertlos.

Landwirtschaft ist und bleibt Pakistans wichtigster Wirtschaftszweig, und ein großer Teil der oft verarmten Bevölkerung lebt direkt vom Land. Pakistan den Hahn abzudrehen, bedeutet über 200 Millionen Menschen die Existenz zu gefährden und letztendlich zu vernichten.

In so einem Fall hätte Pakistan praktisch keine andere Wahl als einen Krieg zu erklären und vermutlich deshalb hat Indien bis vor einigen Tagen selbst in den schwersten Krisen keine Hand an den Indus Water Treaty gelegt.

Im Schatten: Die Supermächte

Die Welt hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nie so schnell und tiefgreifend geändert wie seit dem 20. Januar dieses Jahres, dem Beginn der zweiten Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.

Viel ist unklar, augenscheinlich auch dem Hauptprotagonisten selbst, und über die Gedankengänge in der indischen Regierung kann nur spekuliert werden, es ist jedenfalls nicht bedeutungslos, dass der amerikanische Vizepräsident JD Vance kurz vor der Pahalgam-Attacke in Neu-Delhi war.

Sicher ist jedenfalls, dass die USA einen raueren Kurs gegen China steuern und sich dabei viel stärker als früher auf Indien als Alliierten in der Region Südasien stützen, da Indien und China seit ihrem Krieg 1962 Kontrahenten sind und sich ihr Verhältnis in den letzten Jahren deutlich verschlechterte.

Indiens größter Widersacher ist und bleibt aber Pakistan, und das beruht auf Gegenseitigkeit.

China ist der wichtigste Alliierte Pakistans

Wiederum darf man China als den wichtigsten Alliierten Pakistans bezeichnen, während von der früheren Achse USA-Pakistan praktisch nichts mehr übrig ist.

Indien könnte also versucht sein, dank verstärkter US-Unterstützung, seinen ungeliebten, um nicht zu sagen verhassten Nachbarn, der ohnehin eine innere Schwächephase durchlebt, so stark wie nie unter Druck zu setzen.

Allerdings muss in Neu-Delhi klar sein, was eine tatsächliche (aktuell technisch nicht umsetzbare) Blockade des Indus für Pakistan bedeutet. Und es sollte nach all den Fiaskos der jüngeren Geschichte (USA in Irak und Afghanistan, Russland in der Ukraine, Israel in Gaza) eindeutig sein, dass ein Landkrieg gegen Pakistan (wo zwar wenig funktioniert, aber die Armee schon) ins Nirgends führen würde.

Die Pahalgam-Attacke

Zur Stunde ist nicht gesichert, wer genau hinter der Terrorattacke von Pahalgam steckt. Natürlich ist Fakt, dass Pakistan seit 1989 Militante (Freiheitskämpfer, Terroristen) im indischen Teil des ehemaligen Fürstentums Jammu&Kaschmir unterstützt.

Deren Aufkommen hat jedoch in allererster Linie mit dem Gebaren verschiedener indischer Regierungen zu tun. Pakistan hat den Konflikt nicht entfacht, es schürt ihn "nur", wobei in den letzten Jahren die Unterstützung deutlich zurückging, da viele Ressourcen zur Unterdrückung der eigenen Bürgerkriege gegen Paschtunen und Balochen eingesetzt werden müssen.

Für Pakistan gab es keine "Friedensdividende" nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul, ganz im Gegenteil. Und ohne die Methoden des ISI, des pakistanischen Geheimdienstes, in irgendeiner Form zu entschulden oder weg zu erklären, muss darauf hingewiesen werden, dass auch die Geheimdienste Indiens zu jeder Taktik greifen.

Kaschmir ist spätestens seit 1989 ein selten schmutziger Krieg, wo viele der beteiligten Parteien ihr eigenes Süppchen kochen. So wenig der ISI im Bilde ist, was alle seine formellen und informellen Befehlsempfänger tun, so wenig weiß es die Gegenseite vom indischen RAW (Research&Analysis Wing, der Auslandsgeheimdienst).

Nichts ist einfacher, als in einem Landstrich wie Kaschmir nach über 35 Jahren (mancher sagt seit 1947) Aufruhr, mit Millionen verzweifelter, verarmter Menschen und Waffen im Übermaß, eine Handvoll Terroristen zu organisieren. Jedenfalls deutet bis jetzt anders als 1999, 2008 und 2019 kein "smoking gun" auf eine Involvierung Islamabads hin.

Irgendeine Verbindung könnte es wohl geben, doch es ist kaum vorstellbar, dass Pakistan sich in seiner aktuell hoch prekären Situation zu so einer Provokation Indiens hinreißen ließe. Wiederum ist die indische Regierung imstande, ihre Bevölkerung massiv zu täuschen.

Noch heute glaubt der Großteil der Inder, dass bei den Luftangriffen auf die angeblichen Ausbildungslager in Pakistan 2019 Hunderte Terroristen getötet wurden. Das ist nachweislich nicht geschehen.

Oder eben doch: Das Wasser

Allerdings könnte Indien Wasser nicht nur als Druckmittel einsetzen, sondern es explizit darauf abgesehen haben, da der Indus auch für mehrere hundert Millionen Inder überlebensnotwendig ist. Experten warnen schon lange vor Wasserknappheit und -konflikten in Südasien.

Die Wassermenge im Indus und seinen Nebenflüssen wird aufgrund des Klimawandels abnehmen, der Bedarf jedoch massiv steigen. Die einseitige Kündigung des Indus Water Treaty sollte aber auf keinen Fall zur Lösung der eigenen Wasserprobleme in Betracht gezogen werden.