Katholizismus und Erster Weltkrieg

Feldgottesdienst - Postkarte des Jahres 1915 (Archiv: Ev. Akademie der Nordkirche)

Abschied von der Militarismus-Kritik und Predigt für die Reinheit der Soldatenherzen, Kirche & Weltkrieg (Teil 2)

Im 1. Teil ("Als die Kirche staatsfern war …") konnten wir sehen, dass es in der nach Rom schauenden Kirche des späten 19. Jahrhunderts noch erstaunliche Ansätze zur Militarismus-Kritik gab.

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist der Katholizismus in Deutschland dann allerdings mit seinem Lieblingsthema beschäftigt: mit sich selbst. Die Moraltheologen haben ihre Lehren längst der Machtdoktrin des preußisch dominierten Kaiserreiches angeglichen. Als Wilhelm II. zu den Waffen ruft, übernehmen die Oberhirten bedenkenlos die staatliche Behauptung, es handele sich um eine gerechte Verteidigung gegen Angreifer.

Ein neuer Sammelband zum Projekt "Kirche & Weltkrieg" enthält hierzu Studien der Theologen Wilhelm Achleitner (Österreich), Heinrich Missalla (1926-2018) und Thomas Ruster. Der Quellenteil umfasst die bislang umfangreichste Edition von Hirtenworten der Jahre 1914-1918, den berüchtigten Traktat "Der Krieg im Lichte des Evangeliums" des bayerischen Oberhirten Michael Faulhaber, Kriegsbetrachtungen von Jesuiten und Texte aus der Zeitschrift "Hochland".

Viele kriegstheologische Beiträge der Bischöfe wirken heute wie bösartige Karikaturen auf das Christentum, ersonnen von Feinden der Kirche.

Die Bergpredigt Jesu wird 1914-1918 gleichsam mit Kriegstinte durchgestrichen und so den Gläubigen dargeboten, die von ihren Hirten eine getreue Auslegung der biblischen Botschaft erwarten. Katholische Stimmen verschweigen oder leugnen die deutschen Massaker in Belgien, beteiligen sich an Voten für eine aggressive Eroberungspolitik, übernehmen die blutige Parole vom "Siegfrieden" und huldigen bis zum bitteren Ende dem Kriegskaiser.

Friedensurkunden des Papstes werden hingegen in Bistumsblättern unterschlagen. Übrig bleibt ein bankrottes Kirchentum, das in den Augen vieler Menschen den Anspruch verspielt hat, Hüterin der Moral zu sein. Zu durchgreifenden Lernprozessen kommt es nicht.

Das gründliche Studium des Ersten Weltkrieges ist Voraussetzung für ein Verständnis des erneuten kirchlichen Versagens 1939-1945 und führt schließlich zum Nachdenken über die Militarisierung der Politik heute.

"Deutsch-katholische Sittlichkeit" 1914-1918

Ein Bischof der vorkonstantinischen Kirche wie Cyprian von Kathargo († 258) wusste noch um jenen Widerspruch des Krieges, der an sich jedem nachdenklichen Menschen ins Auge springen müsste:

"Es trieft der ganze Erdkreis von gegenseitigem Blutvergießen; und begeht der einzelne einen Mord, so ist es ein Verbrechen; Tapferkeit aber nennt man es, wenn das Morden im Namen des Staates geschieht. Nicht Unschuld ist der Grund, der dem Frevel Straflosigkeit sichert, sondern die Größe der Grausamkeit." (Brief an Donatus)

Dieses Kirchenväter-Zitat gelangte wohl noch nie in einen teutonischen Kriegshirtenbrief. Als die deutschen Waffenträger als Angreifer - unter Missachtung völkerrechtlich verbindlicher Vertragsgarantien - am 4. August 1914 das neutrale Belgien überfielen, ermordeten sie in den ersten Wochen mehr als fünftausend Zivilisten, darunter nicht wenige Kinder, Frauen und Greise (auch mehrere Dutzend Priester).

Die deutschen Hirten, der "gerechten Sache" des eigenes Landes gewiss, folgten nun weithin den Lügenberichten aus dem kaiserlichen Militärapparat oder schwiegen über ihre wirklichen Erkenntnisse - und verweigerten den belgischen Bischöfen, die sich als Anwälte der Menschen in ihren Diözesen bewährten, die erbetene Solidarität (u.a. Votum für eine übernationale, neutrale Untersuchung der Massaker).

Von den belgischen Mordopfern auch im Kindesalter war auf den Kanzeln Deutschlands nicht gepredigt worden; doch als man nach Kriegsende im Zuge einer modernen Neuordnung den Verlust des kirchlichen Einflusses in den (staatlichen) Schulen fürchtet, da rufen die bayerischen Bischöfe am 17.12.1918 wider die "blasphemische Freveltat" aus:

"Unsere Zunge soll verdorren oder man soll sie uns ausreißen, ehe daß wir aufhören zu rufen: die Kinder dem Heilande!"

Mit Blick auf die preußische Einstufung des Religionsunterrichtes als Wahlfach Anfang 1919 verstieg sich der Münchener Erzbischof Michael von Faulhaber gar zu dem Urteil, diese Maßnahme sei schwerwiegender "als der Blutbefehl des Herodes".

Angesichts der in kriegstheologischen Erzeugnissen gepriesenen "sittlichen Überlegenheit" Deutschlands bzw. des sogenannten "deutschen Wesens" - sowie der beschworenen "volksmissionarischen Früchte" des Krieges - konnten die Bischöfe einen anderen Schauplatz moraltheologischer Betrachtungen nicht so leicht abhandeln.

Das ultramontane Kirchengefüge band die Menschen insbesondere auch durch seine Höllenpredigt gegen alle Sexualität außerhalb von sakramentaler Ehegemeinschaft und Zeugungsabsicht - bei gleichzeitigem Angebot eines Schutzbriefes ("Beichtsakrament") zur Abwehr der in der Katechese von der Kirche selbst produzierten seelischen Todesangst vor ewiger Verdammnis.

Die entsprechenden kriegsfreundlichen Dispositionen der schon in Kindertagen internalisierten rigiden Sexualmoral sind gut bekannt. Der Kreuzfahrer, so heißt es in einem Hirtenbrief, weiß um das Geheimnis der Reinheit: "Ich bin stark, weil ich keusch bin!"

Man darf nicht fluchen oder schmutzige Witze erzählen, dafür aber - wie in Belgien - ein ganzes Dorf ohne größere Bedenken abfackeln oder niederknallen … Dass Soldaten sich im Rahmen eines von der "rechtmäßigen Obrigkeit" verordneten Krieges gegenseitig die Gedärme mit dem Bajonett aus dem Leib reißen, konnte aus moraltheologischer Sicht problemlos toleriert werden - nie und nimmer aber z.B. eine gegenseitige zärtliche Berührung von zwei Männern (gar im Genitalbereich).

Unkeusche Soldaten als "Schädlinge der Gesellschaft"

In Bamberg hatte Dompfarrer Geiger schon im Dezember 1914 die "Schamlosigkeit eines großen Teiles des Frauengeschlechtes" und die "Pest der schlechten Presse" beklagt, wobei er in antisemitischer Diktion ein radikales Vorgehen gegen Urheber von 'schlechtem' Schrifttum forderte: "Solche Bücherschreiber, solche Verleger, die die Lüge und den Schmutz im Volke verbreiten, um sich Geld zu machen, das sind Seelenmörder, Judasse sindʼs, für die der Strick zu gut ist!" (Der "Massenmord der Seelen" in der Heimat sei schlimmer als das blutige Töten an der Kriegsfront.)

Während riesige Schlachtfelder von toten Soldaten übersät sind, zeigen sich Bischöfe dann zutiefst besorgt über ein mögliches Konkubinat der zahllosen Kriegerwitwen. Als im weiteren Kriegsverlauf staatlich-militärische Stellen nüchtern über Geschlechtskrankheiten aufklären und Kondome empfehlen, dämmert auch den katholischen Kirchenleitungen, was an sich jedem Zivilisationskundigen bekannt ist: Bordelle gehören zur Militärapparatur jedes modernen Krieges.

Als Soldaten machen auch fromme junge Männer aus geschlossenen konfessionellen Milieus Bekanntschaft mit Prostitution und anderen Formen zwischenmenschlicher Sexualität, die der Katechismus als todbringende (z.T. unaussprechliche) Sünden klassifiziert.

Schon im März 1915 richten die Kardinäle Franziskus von Bettinger und Felix von Hartmann eine dramatische Klage an den deutschen Kaiser:

"Hunderte unserer Soldaten lassen sich umgarnen von weiblichen Wesen, die man nur als den Abschaum und Auswurf der von uns bekriegten Völker bezeichnen kann […] Während das Vaterland dringend ihrer Dienste bedürfte, liegen sie auf ehrlosem Krankenbett und fallen als Untaugliche und Schädlinge der Gesellschaft zur Last."

Sexuelle Gewalt von deutschen Soldaten in den überfallenen Ländern ist in diesem Kontext kein Thema für die Kirchenmänner.

Übernatürliche Vorteile des frühen Soldatentodes

Der durch das Bußsakrament vorbereitete Soldatentod, so lautet ein pastoraler Trost an die trauernden Hinterbliebenen, kann noch rechtzeitig vor Unkeuschheit und ewigem Höllenfeuer bewahren. Er ist aber auch als ein Straf- und Sühnemittel zu denken, wie Fürstbischof Franziskus (Brixen) am 26.1.1918 ausführt:

Die apostolische Drohung: Wer den Tempel Gottes schändet, den wird er zugrunde richten, ist an der ganzen Menschheit in diesem Kriege auf haarsträubende Weise in Erfüllung gegangen. Ich frage, drängt sich bei dem Anblicke der Tausend und Millionen Soldaten, die in der Blüte der Jugend und im kräftigsten Mannesalter gefallen oder verstümmelt und, von Strapazen aufgerieben, einem lebenslänglichen Siechtume überliefert·sind, nicht unwillkürlich der Gedanke von Strafe und Sühne auf? Ja dieser gräßliche Krieg ist eine unerhörte Strafe für die entweihte Jugend der Menschheit, zugleich aber auch Sühne dafür.

Fürstbischof Franziskus (Brixen), 26. Januar 1918

Doch kein Christenmensch durfte im Angesicht des Todes den Trost verlieren, wozu der Breslauer Bischof Adolf von Bertram ausführte:

"Sollte der eine oder andere sein Leben lassen müssen, nun, so weiß er, es war Gottes heiliger Wille […] Halten Sie dieses Kreuzesbanner stets vor Augen. In diesem Zeichen werden auch wir siegen."

Mit einem stattlichen Staatskirchengehalt und in geschützten Mauern eines Bischofspalais ließ sich der Krieg eben auch mit ganz anderen Augen betrachten.

Katholizismus und Erster Weltkrieg. Forschungen und ausgewählte Quellentexte. (Kirche & Weltkrieg - Band 4). Hg. P. Bürger. Norderstedt 2021. ISBN: 978-3-7534-2805-5 (Paperback, 580 Seiten, Preis 19,80 Euro). Inhaltsverzeichnis und Autorenübersicht hier auf der Verlagsseite.