Kein Frieden ohne Abdullah Öcalan

50 kurdische Politiker drohen, in den Hungerstreik zu treten. Bild: HDP

Hochrangige kurdische Politikerinnen und Politiker kündigen Hungerstreik an, um das Ende der Kontaktsperre zu dem PKK-Gründer zu erzwingen

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Ohne ihn wird es keinen Frieden in der Region geben. Das stellte Hatip Dicle, Co-Vorsitzender der Organisation "Demokratischer Gesellschafts Kongress" (DTK), am vergangenen Mittwoch in einer im kurdischen Diyarbakir öffentlich verlesenen Erklärung unmissverständlich klar. Gemeint ist der seit dem 15. Februar 1999 auf der Gefängnisinsel Imralı inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan.

Nur "Serok Apo" (Serok = Führer; Apo Onkel) könne die kämpfenden Einheiten zu einer Waffenruhe bewegen. Und zwar nicht nur im türkischen Teil, sondern auch im syrischen Rojava, im Irak und im Iran, ergänzte der HDP-Parlamentsabgeordnete Mehmet Ali Aslan: "Millionen Menschen sind bereit, ihm zuzuhören, und jedes Wort zu befolgen, das er sagt." Wenn bis zum kommenden Montag kein Lebenszeichen von Öcalan zu hören sei, drohen 50 hochrangige kurdische Politikerinnen und Politiker in den Hungerstreik zu treten. So lange, bis Angehörigen und Anwälten erlaubt wird, ihn auf Imralı zu besuchen.

Der heute 67-Jährige gründete im November 1978 u.a. mit der am 10. Januar 2013 in Paris ermordeten Sakine Cansiz die Partiya Karkerên Kurdistanê/Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (PKK: (K)eine Erfolgsgeschichte), und wurde zum Vorsitzenden gewählt. Am 15. August 1984 begann die PKK den bewaffneten Kampf.

Zum Antikriegstag, dem 1. September 1998, kündigte Öcalan zum dritten Mal eine einseitige Waffenruhe an. Die Türkei beantwortete dieses Friedensangebot, indem sie Panzer an der syrischen Grenze auffahren ließ und der syrischen Regierung mit Krieg drohte. Die PKK hatte ihr Hauptquartier in der Nähe von Damaskus aufgeschlagen, wo sie auch eine (Aus)Bildungs-Akademie unterhielt. Öcalan verließ daraufhin Syrien, und begab sich nach Italien, wo er Asyl beantragte. Sein Ziel war es, die kurdische Frage nach Europa zu bringen.

Die italienische Regierung wurde jedoch unter Druck gesetzt, u.a. vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der - statt diese historische Chance zu nutzen - von Italien verlangte, Öcalan an Deutschland auszuliefern. Gegen ihn war 1990 ein internationaler Haftbefehl erlassen worden, weil 1984 in Rüsselsheim ein Kurde ermordet worden war. Es wird vermutet, dass er einer von Öcalan angeordneten Racheaktion zum Opfer gefallen ist. Öcalan wird ein autoritärer Führungsstil nachgesagt. Die Rede ist u.a. von Kerkerhaft in der Bildungs-Akademie als Ahndung von Widerspruch gegen das Wort des "Serok", von Vergewaltigung und Folter. Offiziell wird dies indes bestritten.

Nachdem er Italien verließ, kam er zwischenzeitig bei dem russischen Ultra-Nationalisten Wladimir Schirinowski unter. Von Russland aus begab er sich nach Griechenland. Von dort aus wurde er nach Nairobi/Kenia ausgeflogen, von wo aus er am 15. Februar 1999 in die Türkei verschleppt wurde. An dieser Aktion waren verschiedene Geheimdienste beteiligt. In der Türkei wurde er zum Tode verurteilt, aufgrund internationaler Proteste diese jedoch 2002 in lebenslange Haft umgewandelt.

Zehn Jahre lang war Öcalan einziger Gefangener auf der Gefängnisinsel Imralı. Immer wieder war er Schikanen ausgesetzt. So wurden z.B. Besuche von Angehörigen und Anwälten unterbunden. Als Begründung wurde meist schwerer Seegang angegeben. So dass es häufiger zu längeren Zeitspannen kam, in denen es keinen Kontakt zu Öcalan gab. Die Kontaktsperre wurde meistens allerdings dadurch beendet, dass er gewichtige und wegweisende Worte an die Kurdinnen und Kurden richtete.

Zwischenzeitig ging es ihm gesundheitlich sehr schlecht. Die Vermutung wurde geäußert, der türkische Staat versuche das durch internationale Proteste verhinderte Todesurteil zu vollstrecken, indem Öcalan vergiftet werde.

Im Zusammenhang mit dem Erfolg der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 wurde bekannt, dass es geheime Verhandlungen der türkischen Regierung mit Öcalan über einen Friedensprozess in der Türkei gegeben habe, bei denen der HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş als Unterhändler fungiert haben soll.

Nachdem der ehemalige Ministerpräsident und jetzige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, seiner Wut über den Wahlerfolg der HDP mit der erneuten Entfachung des Krieges in Kurdistan freien Lauf ließ, scheinen diese Verhandlungen indes beendet und der Kontakt zu Öcalan nicht mehr möglich.

Der HDP-Abgeordnete Aslan machte sehr deutlich, dass es ohne Einbeziehung Öcalans weder Friedensverhandlungen in der Türkei geben werde, noch die jüngeren bewaffneten Konflikte in Syrien beendet werden könnten. "Ich hoffe, dass (der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan) nicht mit diesem Wahnsinn fortfährt, da es nicht nur für die Türkei und den Nahen Osten gefährlich ist, sondern auch für Europa. Wenn dieser Krieg weitergeht , werden drei oder vier Mal so viele Flüchtlinge vor den Toren Europas stehen", so Aslan.

Ein breites Bündnis kurdischer Organisationen steht hinter dieser Aktion. Darunter auch der Freie Frauen Kongress (KJA) mit dem Motto: "Ich stehe zu meinem Führer, meiner Heimat und meiner Freiheit."

Ob das indes alle linken und fortschrittlichen Kräfte in der Türkei so sehen, mag bezweifelt werden. Die Fokussierung der politischen Aktivitäten in der gegenwärtigen Situation auf den einzigen politischen Gefangenen Abdullah Öcalan, wo Tausende allein in den letzten Wochen willkürlich verhaftet wurden, birgt vermutlich einigen Zündstoff. Zwar ist die HDP eindeutig pro-kurdisch, aber so breit aufgestellt, dass sie selbst von dem Grünen-Politiker Cem Özdemir unterstützt wird. Außerdem hat die Vergangenheit bewiesen, dass derartige Solidaritäts-Aktionen mit Öcalan zu Selbstmord-Aktionen, z. B. Selbstverbrennungen, geführt haben. Auch wenn er selbst immer bekräftigt hat, dass er nicht möchte, dass jemand das Leben für seine Freiheit opfert.

Zudem ist es überhaupt nicht abschätzbar, wie der türkische Staat auf 50 hungerstreikende hohe kurdische Funktionäre reagiert. Erdoğan hat nichtigere Anlässe für militärische Angriffe genutzt. Begrüßenswert wäre, wenn die EU die Freilassung Öcalans zur Bedingung für die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei machen würde. Und wenn europäische Politikerinnen und Politiker sich hinter ihre kurdischen Kolleginnen und Kollegen und deren Forderung stellen.

Die Verhaftungswelle in der Türkei geht unterdessen munter weiter. Am vergangenen Mittwoch wurde die prominente türkische Sprachwissenschaftlerin und Publizistin Necmiye Alpay verhaftet. Außerdem wurde die Kielerin Yüksel C. festgenommen. Sie ist Kurdin und Mitglied der Linkspartei in Schleswig-Holstein. Sie befand sich im Urlaub in der Türkei. Beiden Frauen wird Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (gemeint ist die PKK) vorgeworfen. Mit Hinweis auf den Ausnahmezustand waren am 1. September Anti-Kriegstags-Kundgebungen u. a. in den Städten Cizre, Urfa, Batman, Antalya verboten worden.