"Kein Impfzwang"
Ein Geimpfter ist gegen Zwang und Sonderrechte für Immunisierte. Ein persönlicher Kommentar
Am Freitag vor einer Woche hatte ich meine erste Impfung gegen SARS-CoV-2, dabei war ich nicht heiß darauf, weil ich meinem Körper zutraue, dass er auch diesen Erreger meistert. In 20 Jahren Südasien haben mich so viele Krankheiten "weggeknallt", dass nicht einmal Finger und Zehen zum Zählen ausreichen.
Warum soll ich jetzt vor einem Erreger Angst haben, der bei unter 50-Jährigen in Deutschland bisher verhältnismäßig wenig Schaden angerichtet hat?
Und warum sollte ich dann Angst vor einer Impfung haben, deren Nebenwirkungen viel geringer sind als eine direkte Erkrankung mit Covid-19 - das belegen alle bisher veröffentlichen Studien. Ebenso belegen Studien, dass eine Impfung Infektionen mit Covid-19 mindestens milder verlaufen lassen, mindestens.
Der Grund mich impfen zulassen, war also kein persönlicher: Aber ich lebe und arbeite aktuell in Deutschland und hier wird es schon wegen der Altersstruktur der Bevölkerung nur ein verhältnismäßig normales Leben geben, wenn die Todeszahlen heruntergehen und unten bleiben - dabei helfen die Impfungen nachweislich.
So hatte ich auch keine Probleme damit, meine Biontech-Impftermin rückgängig zu machen und den von AstraZeneca zu nehmen, der angebliche "Ladenhüter". Übrigens war der Andrang am Freitag, den 19. Februar, im Impfzentrum Tegel enorm, obwohl nur dieser Impfstoff gespritzt wurde.
Ich hatte mich mit jedem der drei Impfstoffe befasst: Jeder hat Vor- und Nachteile und bei keinem werden meine Gene manipuliert. Also kein Problem (für mich).
Auf- und Abs im "Irrenhaus Deutschland"
Für andere ist es jedoch ein Problem und dafür habe ich Verständnis: Als ich im März 2020 aus Indien nach Deutschland kam, dachte ich, ich wäre in einem Irrenhaus gelandet. Die kompletten Medien waren Angst erstarrt und deren Leser auch. "Normale" gelassene Menschen traf ich nur auf den beinahe verlassenen Straßen: Nein, kein Umarmen und Drücken, sondern entspannte Unterhaltung mit Abstand.
Drei Monate später bemerkte ich, das genaue Gegenteil. Menschen, die noch vor kurzem so taten, als wüte die Pest in Deutschland, wollten jetzt jeden drücken, den sie sahen. Diese Auf- und Abs waren noch öfters zu beobachten. Die Fußball-Bundesliga machte wieder auf und die gleichen Journalisten, die während der Fußball Corona-Pause schrieben, dass der Fußball bedeutungslos geworden sei, und das zu Recht, halfen mit ihren Artikeln, ihn wieder bedeutungsvoll zu machen.
Profi-Fußballer wurden zum Teil mehrmals am Tag getestet, Pflegepersonal, das sich um die Risikogruppen kümmerte, überhaupt nicht.
Im Herbst herrschte plötzlich wieder Panik in der Politik. Trotzdem durften auch in Berlin jeden Tag mehr als zwei Millionen Fahrgäste mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, darunter viele Pendler aus Brandenburg. Wenn dann mal wieder Schienenersatzverkehr war, stand auch ich mit mehr als 1.000 Pendlern dichtgedrängt auf einem S-Bahnhof im Regen und hörte die Corona-Warnmeldungen aus den Lautsprechern: "Bitte achten sie auf Abstand…".
Auch nach Feierabend gab es in der Tageschau wieder von Politikern und Virologen zu hören, wie wichtig es sei, Abstand zu halten, - und zum Ende der Tageschau die Fußballergebnisse und steigende Börsenkurse.
So habe ich natürlich Verständnis, dass es auch viele Menschen gibt, die stark verunsichert sind, die den Virologen und Politikern nichts mehr glauben, oder gar nicht mehr hinhören - wer hat was, wie und warum noch mal wann gesagt?
Die Medien sind im Überlebenskampf gezwungen, Corona jeden Tag neu zu erfinden, teils mehrmals am Tag: An jenem Freitagmorgen, als ich Impfen ging, berichtete der Berliner Tagesspiegel in seinem zu diesem Zeitpunkt meistgelesenen Artikel über die "Astrazeneca-Flaute", dass niemand den Impfstoff von AstraZeneca will und wie man das ändern kann.
Auf der gleichen Online-Seite wurden Zahlen präsentiert, die zeigen, dass AstraZeneca-Impftermine kaum abgesagt werden. Der Riesenandrang eine Stunde später im Impfzentrum Tegel bestätigte dies. Glaubt irgendjemand die Drohung von Berlins-Bürgermeister Müller einen Tag zuvor hätte dies bewirkt?
Systemfehler
Es gibt Schreibtisch-Journalisten, die verlauten lassen, dass so ein Lockdown im 21. Jahrhundert kein Problem sei: Mit Homeoffice, Netflix und Lieferservice; denen ist scheinbar auch nicht bewusst, wer ihnen unter welchen Bedingungen die Pakete und das Essen liefert. Ich höre schon beinahe dieselbe Rechtfertigung der Lieferando-Fangemeinde wie bei den billigen T-Shirts aus Bangladesch: Aber wie sollen diese armen Ungebildeten denn ihr Geld verdienen, wenn wir nicht ihre Klamotten kaufen?
Mein Verständnis für Zweifler heißt nicht, dass ich ihnen Recht gebe. 50-jährige Mittelständler, die plötzlich aufwachen, weil sie vor dem Nichts stehen, und schreien: "Die Politik und die Konzerne arbeiten zusammen." Ach nee, auch schon gemerkt? 50 Jahre lang war alles in Ordnung, bis auf die blöden Ökos, die der Wirtschaft schaden, und nun ist plötzlich ALLES eine Verschwörung? "Bill Gates regiert die Welt" oder "Corona gibt es nicht".
Doch sie als verrückte Verschwörer hinzustellen ist billig, einfach und kontraproduktiv. Natürlich ist es ein Problem für die Demokratie, wenn Staaten und Organisationen auf Gelder von Einzelpersonen wie Bill Gates angewiesen sind. Gerade wenn diese Personen auch so reich werden konnten, weil sie es verstanden haben, wie man ganz legal wenig Steuern zahlt. Dass Gates dann mitbestimmen will, was mit seinen Milliardenspenden passiert, ist menschlich und keine Verschwörung; aber es ist undemokratisch.
Das Problem ist nicht Bill Gates, sondern ein Systemfehler, dass es so weit gekommen ist, dass gewählte Regierungen immer mehr an Macht verlieren, private Konzerne und Superreiche immer einflussreicher werden und die Demokratie in Richtung Oligarchie driftet.
Pflegepersonal und anständige Löhne
Gerade Menschen, die der Arbeit wegen täglich rausmüssen und sich einem erhöhten Risiko einer Infektion ausgesetzt sehen, haben Verständnis verdient, wenn sie Zweifel haben. Auch mein Arbeitgeber im Pflegebereich scheint das so zu sehen und überlässt jedem Mitarbeiter die Entscheidung, ob er sich impfen lässt.
Natürlich sind einige meiner Kollegen irritiert: Erst Anfang dieses Jahres wurde meinem Arbeitgeber kostenlos Material zur Verfügung gestellt, dass sich die Mitarbeiter vor jedem Einsatz testen können. Schnellstmögliche Testungen von Pflegepersonal für Risikogruppen hätte Tausende Tote verhindert. Alkoholverbot oder 500 Euro Strafe für den, der sich nach 21.00 Uhr Zigaretten kauft oder mal die Beine vertreten will, haben es wohl nicht.
Auch wenn ich kein Impfverweigerer bin, kann auch ich Populisten wie Söder nicht mehr ernst nehmen. Dass so jemand womöglich Bundeskanzler wird, ist auch ein Grund, warum ich meinem Arbeitgeber nicht mit Namen erwähne: Ich bekomme einen anständigen Stundenlohn weit über Mindestlohn. Auch Nacht- und Wochenendzuschläge. Bei Noteinsätzen wird mir die Anfahrt bezahlt. Dazu regelmäßig bezahlte Schulungen.
Für alle jüngeren Leser: So etwas war in Deutschland bis zur Agenda 2010 auch für Mitarbeiter von Branchen normal, die heutzutage auch am Wochenende für 9,50 hinter der Theke stehen. Bei dem, was nach der Pandemie kommt, ist mir völlig klar, dass korrekte Arbeitgeber wie meiner vom Aussterben bedroht sind, weil andere Unternehmer kommen werden und "unsere" Leistung billiger anbieten - natürlich auch auf Kosten der Angestellten.
So geht mir auch das ständige Loben auf die Nerven, wenn andere erfahren, dass ich im Pflegebereich arbeite: "Ich kann froh sein, dass ich in der heutigen Zeit bei so einem Arbeitgeber beschäftigt bin", lautet meine Erwiderung. Dann schiebe ich hinterher, dass ich unter den Arbeitsbedingungen, die in den meisten Pflegeeinrichtungen herrschen, nicht arbeiten würde: "Dann lieber sofort nach Afghanistan."
Natürlich ist der letzte Satz eine Übertreibung: Wenn schon gefährlich, dann sollte es als "ehrenamtlicher" Auslandsjournalist zumindest günstig sein - Afghanistan ist nicht nur gefährlich, sondern auch teuer. Schon Pakistan-Reportagen konnte ich nicht kostendeckend verkaufen, seit selbst "meine" Schweizer Zeitung ihr Budget stark kürzen musste.
"Ich will meine linken Autonomen zurück?"
Ich bin auch gegen Sonderrechte für Geimpfte. Warum Sonderrechte vergeben oder Zwang gegen Impfverweigerer androhen, obwohl es bis jetzt noch nicht einmal genug Impfstoff für alle gibt? Warum soll ich belobigt oder privilegiert werden, nur weil ich eher geimpft wurde als eine Verkäuferin oder ein Polizist?
Was müssen die gedacht haben, als bei den Querdenker-Demos eine Ältere mit einem Kreuz in der Hand um ihren Füßen lag und ein junges Blumenmädchen ihnen ohne Maske ein Küsschen auf die Backe gab: "Ich will meine linken Autonomen zurück?"
Dazu leben wir noch in einer Demokratie; auch wenn die Auslandspolitik der BRD anderes vermuten lässt, so dürfen zumindest die Menschen in Deutschland fast alles sagen und haben Wahlfreiheit.
Natürlich ist das anstrengend und oft laufen Dinge langsam und nicht perfekt, dies eigentlich nie. Können sie auch nicht, weil erst diskutiert wird (sollte) und nicht gleich "gehängt". Wenn sich wirklich raustellen sollte, dass sich sehr viele Menschen in Deutschland nicht impfen lassen, dann hat die Gesellschaft als Ganzes versagt: Sie hat es nicht geschafft, die anderen zu überzeugen. Ich sage jedoch voraus, dass Impfverweigerer eine kleine Minderheit sein werden.
Einiges läuft schwer schief in Sachen Demokratie
Ja, die Diktatur China kann Pandemie besser. China kann auch Kapitalismus besser. Das "Modell China" läuft der Demokratie in Südasien sogar immer mehr den Rang ab. China kommt den ausländischen Regierungen nicht mit Moral: Solange Chinesen nicht vor Ort erschossen werden und der Geschäftspartner nicht das "chinesische Volk" beleidigt, ist es Peking völlig egal, wie andere ihre Bevölkerung regieren.
Bei Deutschland und dem Westen sind immer mehr ausländische Regierungen schwer irritiert: Da kann die eine Regierung eine Diktatur sein, Frauen und Minderheiten unterdrücken, und trotzdem wird mit ihr Geschäfte gemacht. Andere Regierungen, die ihre Frauen und Minderheiten weit besser behandeln, auch ohne lupenreine Demokratien zu sein, werden hingestellt, als wären sie der Satan persönlich.
Sollte sich in Deutschland herausstellen, dass auch hier die Mehrheit der Menschen schwer irritiert ist von der eigenen Politik, gibt es halt auch hier einen Trump. Die Trumps dieser Erde sind nicht die Krankheit, sie sind nur die Symptome eines kranken Systems. Zwang in Sachen Impfen einzusetzen, ist auch ein Zeichen, dass einiges schwer schief läuft in Sachen Demokratie.
Ich möchte aber nicht in einer Diktatur leben und ich würde mich freuen, wenn auch andere Menschen nicht in Diktaturen leben müssen. Aber bevor ich anderen Ländern die Demokratie schmackhaft mache, versuche ich doch dafür zu sorgen, dass es viele sichtbare Anreize gibt, ebenfalls "Demokratie zu leben".
Wirtschaftswachstum? Großes Auto? Kreuzfahrten? Das waren die "demokratischen" Anreize von gestern. Dafür braucht es nachweislich keine Demokratie mehr.
Abgasfreie Städte ohne Stau. Ökologisch nachhaltiges Wirtschaften. Wirklich freies, buntes Leben auf der Straße: Frau und Frau, Mann und Mann, Arm in Arm. Braun-Weiß- Gelb- oder Schwarzhäutige Arm in Arm. Ein Bauarbeiter, Künstler und ein ITler zusammen an einem Tisch in ihrem Kiez-Café. Verzeihen Sie, ich lebe in Berlin, da gibt es das noch. Ja, auch hier wollen immer mehr nur unter ihresgleichen bleiben und damit meine ich die Klasse, nicht die Hautfarbe.
Aber in Berlin ist Toleranz trotzdem fast überall zu spüren: Auch beim Späti-Hopping durch fast leere Straßen, brauche ich um 22.10 Uhr keine Angst haben, von Polizisten mit 500 Euro bestraft zu werden. Auch an dem Wintersonntag im Februar "schoss" die Polizei niemanden vom zugefrorenen Plötzensee.
Ja, es war bestimmt mühsam für die Beamten, die Abstandsregeln bei einigen ausgelassenen Eisliebhabern einzuhalten, aber mit Freundlichkeit schafften sie das (meistens). Ja, auch der Autor war auf dem Eis und springt auch im Winter durch das Eis in den Kanal - nein, auch der Autor ist kein perfekter Mensch.