Kein Platz im Hotel Amerika
Seite 3: Vernetzte Welt
- Kein Platz im Hotel Amerika
- Im Exil
- Vernetzte Welt
- Auf einer Seite lesen
Die ersten Monate verbrachte Maria offenbar in New York, um in der Nähe ihres lungenkranken Bruders sein zu können. Nach János' Tod (17.6.1925) unternahm sie ausgedehnte Reisen. Sie berichtete über inhumane Arbeitsbedingungen in den Südstaaten und an der Millionärsküste von Florida, aus der Sicht eines Stubenmädchens über die amerikanische Mittelstandsfamilie, über ein Lynching im mondänen Kurort Aiken, die Sträflingskolonie von Französisch-Guyana, Haiti, den Diamantenabbau und die Zerstörung des Urwalds in Britisch-Guyana, schwarze Arbeiter in Südafrika, die Ausbeutung Südamerikas durch die großen Erdölfirmen aus Europa und den USA, die US-amerikanische Großindustrie, die auf das Erstarken der Gewerkschaftsbewegung im Norden mit der Abwanderung in den Süden reagiert, wo sie die Löhne drücken kann.
In all ihren Berichten kommen zwei Überzeugungen zum Ausdruck, die auch ihre Erzählung "Sandkorn im Sturm" prägen. Arbeiter, Angestellte und Bauern müssen sich organisieren und solidarisch handeln, wenn sie ihre Lage verbessern wollen. Die Vorraussetzung für wahrhaft solidarisches Handeln ist ein Verständnis dafür, dass die Welt ein komplexes System ist, in dem das, was an einem Ende passiert, am anderen Ende gravierende Auswirkungen haben kann. Vieles von dem, was sie berichtet, könnte heute, zu Zeiten von Globalisierung und Finanzkrise, kaum aktueller sein:
Kein Ereignis bleibt isoliert, nirgends, auch in den entferntesten Winkeln der Erde kann etwas geschehen, das nicht alle gleichmäßig anginge. Die Welt ist ein organisches Ganzes, auch wenn sich die einzelnen Teile noch so heftig bekämpfen.
Mehrfach war Maria Leitner Hotelangestellte. Ihre so gewonnenen Erfahrungen verarbeitete sie im Reportageroman Hotel Amerika, den die Linkskurve, das Presseorgan des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, wie folgt ankündigte:
Maria Leitner, Mitbegründerin des kommunistischen Jugendverbandes Ungarns, zieht hier das Fazit ihres Aufenthaltes in Amerika. Die Handlung ist ein Kriminalfall in einem amerikanischen Luxushotel, das zum Symbol der kapitalistischen Welt wird.
Auf die Verbindung der Autorin zur KP wird hingewiesen, weil das Buch in einem kommunistischen Verlag erschien und in der Linkskurve besprochen wurde. Eine kommunistische Agitationsschrift ist der Roman aber nicht. Am heftigsten diskutiert - und dies insbesondere in linken Kreisen - wurde damals darüber, ob es zulässig sei, das ästhetische Repertoire des Romans um das Instrumentarium der Reportage zu erweitern. In den Augen der Traditionalisten minderte das die literarische Qualität.
Der Roman beginnt mit dem Traum der jungen Shirley O'Brien (Nummer 2122) von einem besseren Leben. Dann wacht sie auf. Sie ist noch immer ein Aschenputtel und befindet sich im Personaltrakt des Hotels Amerika. Für das Wäschemädchen beginnt ein neuer Arbeitstag. Im Hotel wird von vielen dienstbaren Geistern die pompöse Hochzeit der verwöhnten Tochter eines Pressemagnaten vorbereitet. Langsam entsteht ein Mikrokosmos der amerikanischen Gesellschaft. "Das Hotel", heißt es einmal
steht jetzt vor ihnen wie eine riesenhafte, ungeheuere, hellerleuchtete Schachtel, in die unzählige Menschen, unzählige Schicksale gepfercht sind, Menschen aus allen Klassen und aus allen Teilen der Welt, Reiche und Arme, Glückliche und Elende. Hier ist alles angehäuft, Hölle und Himmel, Trauer und Glück, Krankheit und Übermut.
Shirley trifft Arbeitskollegen, Vorgesetzte und einen mysteriösen Hotelgast namens Fish, der etwas sagt, das auch das Credo der Autorin sein könnte:
Haben Sie auch manchmal dieses kitzelnde Gefühl, hineinsehen zu wollen in alle Häuser, in alle Wohnungen, Lokale, Geschäfte, in die Warenhäuser, Fabriken, Wolkenkratzer, Hospitäler, hineinsehen in alles: die Gedärme, das Herz, das Gehirn, das ganze Innere, die Triebfeder, die Hintergründe sehen, entdecken, erkennen können? Überkommt Sie nicht auch manchmal diese Neugierde?
Damit aber enden die Gemeinsamkeiten. Herr Fish hat etwas herausgefunden, das Maria Leitner bestimmt veröffentlicht hätte: Strong, der Vater der Braut, lässt seine Zeitungen für eine Friedenskonferenz werben, veröffentlicht aber gleichzeitig die Schriften eines japanischen Kriegstreibers und sorgt so für Aufträge an die Rüstungsindustrie, mit der er unter einer Decke steckt. Fish versucht dagegen, Strong mit seinem Wissen zu erpressen. Der Verleger ist übrigens eine Mischung aus Joh Fredersen, dem Herrscher von Metropolis und William Randolph Hearst, der eines der realen Vorbilder für Orson Welles' Citizen Kane war. Das Hotel Amerika mit seinem pompösen Dachgarten, in dem die Reichen feiern, während die Armen weiter unten für den reibungslosen Ablauf sorgen müssen, ist Maria Leitners Version der Stadt Metropolis.
Gegen die Verdummung
Shirley begreift allmählich, dass es noch andere Träume gibt als den, selbst ein reicher Hotelgast zu werden, während die anderen weiter für einen Hungerlohn schuften müssen. Ihre wichtigste Begegnung an diesem Arbeitstag im Hotel ist die mit Fritz, einem gelernten Dreher aus Deutschland. Fritz musste sich als Küchenjunge verdingen, weil er in seinem alten Betrieb eine Gewerkschaft organisieren wollte. Als das Personal verdorbene Kartoffeln essen soll, kommt es zu einer spontanen Arbeitsniederlegung. Der vom Aufstand der Matrosen in Panzerkreuzer Potemkin inspirierte Streik bleibt ein Strohfeuer. Wer wie Shirley gewagt hat, den Mund aufzumachen, wird entlassen. Aber einige von den Angestellten begreifen, dass sie mehr sind als eine Nummer:
Es beginnt [Shirley] klar zu werden, dass der ganze große Betrieb nur durch die Arbeitenden in Bewegung ist, dass ohne sie alles stillstehen müsste, ohne sie, die am schlechtesten leben. Es fällt ihr ein, dass sie sich doch noch mit dem neuen Küchenjungen unterhalten müsste, bevor sie für immer fortgeht. Was meinte er, als er sagte, sie müsse noch viel lernen, aber dann könnte sie viel tun für alle?
Im Frühjahr 1931 kam in Berlin Der Weg der Frau auf den Markt. Im sechsten Heft wurde Maria Leitner mit einem Porträtphoto als ständige Mitarbeiterin der neuen Zeitschrift vorgestellt:
Maria Leitner schildert in spannenden Reportagen fremde Erdteile und die Gegensätze von Luxus und Armut in Amerika.
Sie selbst steuerte zur Werbekampagne für die Zeitschrift einen Text bei, in dem sie die Notwendigkeit einer solchen Publikation auf dieselbe Weise begründete, wie heute Frauen in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak erklären, warum sie für eine weibliche, wenig gebildete Zielgruppe Zeitschriften oder Radioprogramme machen:
Die Frage, warum die Frauen in so großen Massen im reaktionären Lager stehen, wird viel diskutiert. [...] Gegen den Verdummungsfeldzug der Reaktion ist es um so schwerer anzukämpfen, weil die Mehrzahl der Frauen (Hausfrauen, Heimarbeiterinnen, Angestellte und Arbeiterinnen der Kleinbetriebe) viel isolierter von ihren Klassengenossen leben als die Männer. Ich glaube, dass Der Weg der Frau besonders geeignet ist, auch diese Frauen für die proletarische Sache zu gewinnen und ihnen ihre Lage klar zu zeigen.
Wegen solcher Äußerungen wird Maria Leitner gelegentlich in die "Frauenliteratur"-Schublade eingeordnet. Das wird ihr nicht gerecht. 1932 erschien beim Agis Verlag (Berlin und Wien) das Buch Eine Frau reist durch die Welt, in dem ausgewählte Reportagen versammelt sind. Wenn der Titel nicht wäre und wenn viele der Tätigkeiten, die sie als weiblicher Wallraff ausübte, nicht typische Frauenberufe gewesen wären, würde man sich schwer tun zu entscheiden, ob da eine Frau oder ein Mann schreibt. Ihr genau beobachtender, analytischer Blick hat nichts mit dem Geschlecht zu tun.
Teil 2: In geheimer Mission im Dritten Reich