"Kein einziges ukrainisches oder russisches Leben darf mehr geopfert werden"

Bild: UN Photo/Eskinder Debebe

Der britische Musiker und Aktivist Roger Waters über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Appell für Waffenstillstand vor UN-Sicherheitsrat. Rede hatte für Debatten gesorgt.

Telepolis dokumentiert in deutscher Übersetzung eine Rede des britischen Musikers und Aktivisten Roger Waters vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Mitbegründer der Band Pink Floyd war dem Gremium am 8. Februar 2023 per Video zugeschaltet. Eingeladen hatte ihn zur Debatte "Bedrohungen für den internationalen Frieden und die Sicherheit" die Delegation der Russischen Föderation.

Dies sorgte in westlichen Staaten für teils harsche Kritik. Beanstandet wurde von politischer Seite und in Medien auch Waters These, der Angriff Russlands auf die Ukraine vor knapp einem Jahr sei "nicht unprovoziert" gewesen.


Sehr geehrte Frau Präsidentin,

Exzellenzen,

sehr geehrte Mitglieder des Rates,

sehr geehrte Damen und Herren.

Ich fühle mich zutiefst geehrt, dass ich heute die einmalige Gelegenheit habe, vor Ihren Exzellenzen zu sprechen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, werde ich mich bemühen, das auszusprechen, was meiner Vermutung nach viele unserer Brüder und Schwestern in der ganzen Welt bewegt, sowohl hier in New York als auch jenseits des Ozeans.

Ich möchte sie in diese heiligen Hallen einladen, um ihre Meinung kundzutun. Wir sind hier, um über Möglichkeiten für den Frieden in der vom Krieg zerrissenen Ukraine nachzudenken, insbesondere angesichts der hier bereits thematisierten zunehmenden Menge an Waffen, die in dieses gebeutelte Land gelangen.

Jeden Morgen, wenn ich mich an meinen Laptop setze, denke ich an unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine und anderswo, die sich ohne eigenes Verschulden in verheerenden und oft tödlichen Umständen befinden.

Fern von hier, in der Ukraine, mögen sie Soldaten sein, die einen weiteren tödlichen Tag an der Front durchleben müssen.

Oder Mütter oder Väter, die sich die schreckliche Frage zu stellen gezwungen sind: Wie kann ich heute mein Kind ernähren?

Oder Zivilisten, die nicht wissen, ob es heute wieder einen Stromausfall geben wird, wie es in Kriegsgebieten immer wieder vorkommt, die wissen, dass es kein frisches Wasser gibt, kein Brennmaterial für den Ofen, keine Decken – nur Stacheldraht und Wachtürme und Mauern und Feindschaft.

Oder sie sind hier bei uns in einer reichen Großstadt wie New York. Aber auch hier können unsere Brüder und Schwestern in eine Sackgasse geraten.

Vielleicht haben sie, egal, wie hart sie ihr Leben lang gearbeitet haben, auf dem schlüpfrigen und schwankenden Deck des neoliberalen kapitalistischen Schiffes, das wir städtisches Leben nennen, den Halt verloren und sind über Bord gegangen und ertrunken.

Vielleicht sind sie krank geworden, vielleicht haben sie einen Studienkredit aufgenommen, vielleicht haben sie eine Rückzahlung verpasst, weil das Geld nicht gereicht hat. Aber jetzt leben sie auf der Straße, in einem Haufen Pappe, vielleicht sogar in Sichtweite dieses UN-Gebäudes.

Egal, wo auf der Welt sie sich befinden, ob im Kriegsgebiet oder nicht, zusammen sind sie eine Mehrheit, eine stimmlose Mehrheit.

Und ich werde heute versuchen, in ihrem Namen zu sprechen.

Wir, das Volk, wollen in Frieden leben, unter gleichberechtigten Bedingungen, die uns eine echte Chance geben, für uns und unsere Lieben zu sorgen.

Wir sind fleißig und bereit, hart zu arbeiten. Alles, was wir brauchen, ist ein fairer Peitschenknall (engl.: crack of the whip; deutsch: eine faire Chance). Aber vielleicht ist das nach 500 Jahren Imperialismus, Kolonialismus und Sklaverei eine unglücklich gewählte Redewendung.

Wie auch immer, bitte helfen Sie uns. Um uns zu helfen, müssen Sie sich vielleicht mit unserer misslichen Lage auseinandersetzen. Vielleicht müssen Sie uns für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken und Ihre eigenen Ziele für einen Moment zurückstellen.

Was sind eigentlich Ihre Ziele?

Und jetzt richte ich meine Fragen vermutlich besser an die fünf ständigen Mitglieder dieses Rates.

Was sind Ihre Ziele, was ist der Goldtopf am Ende des Regenbogens? Mehr Profit für die Kriegsindustrie, mehr Macht auf globaler Ebene, ein größeres Stück des globalen Kuchens? Ist Mutter Erde ein Kuchen, den es zu verschlingen gilt? Ein größeres Stück des Kuchens für die einen bedeutet weniger für alle anderen.

Was wäre, wenn wir heute, an diesem sicheren Ort, neue Wege beschreiten würden, um unsere Fähigkeit zur Empathie zu entwickeln, um uns zum Beispiel in andere hineinzuversetzen, zum Beispiel in die andere Seite? Wenn wir Verständnis für die sprachlose Mehrheit aufbringen würden, der Mitgefühl fremd ist?

Die Mehrheit ohne Stimme ist besorgt, weil sie Ihre Kriege – ja, Ihre Kriege –, diese ewigen Kriege, nicht gewollt hat. Sie ist besorgt, dass Ihre Kriege den Planeten zerstören. Dass unsere Heimat, die wir mit allen anderen Lebewesen teilen, auf dem Altar zweier Götter geopfert wird: den Kriegsgewinnen, die in die Taschen sehr, sehr weniger fließen, und dem hegemonialen Streben des einen oder anderen Imperiums nach unipolarer Weltherrschaft.

Bitte versichern Sie uns, dass dies nicht Ihre Vision ist, denn dieser Weg führt in keine gute Richtung, dieser Weg führt nur in die Katastrophe. Jeder auf diesem Weg hat einen roten Knopf in seiner Aktentasche. Je weiter wir diesen Weg gehen, desto näher kommen die nervösen Finger diesem roten Knopf und desto näher kommen wir alle dem Armageddon.