Kein totes Mädchen gefunden: Rückruf einer Flüchtlingsgeschichte

An den EU-Außengrenzen sterben regelmäßig Menschen. Aber nicht jeder Bericht hält einer genauen Recherche stand. Und in solchen Fällen gibt es mitunter ein größeres Nachspiel.

Nachdem vor wenigen Wochen Spiegel Online vier Artikel über das Schicksal einer Flüchtlingsgruppe auf einer Insel im Grenzfluss Evros zur Überprüfung vom Netz genommen hatte, sind diese nun endgültig zurückgerufen worden.

Die Behauptung, dass ein kleines Flüchtlingsmädchen namens Maria auf der Insel von einem Skorpion gestochen worden und danach gestorben sei, kann somit nicht gehalten werden.

Kein totes Mädchen an der Außengrenze?

"Maria, fünf Jahre, gestorben an der EU-Außengrenze" war der Titel eines Artikels der Reihe. Die vier Spiegel-Reportagen beschrieben das Schicksal einer Gruppe von 38 Geflüchteten, die mehrere Wochen lang auf einer kleinen, wegen der Strömung ständig ihre Ausdehnung wechselnden Insel im Grenzfluss Evros zwischen der Türkei und Griechenland festsaßen.

Es gab analoge Berichte im britischen Channel 4, bei Al Jazeera und in griechischen Medien. Quelle der Informationen über das Schicksal der Gruppe waren von den Geflüchteten selbst erstellte Fotos und Videos, die mit GPS-Daten getaggt waren, sowie Angaben der NGO "Human Rights 360°". Als Sprecherin der Gruppe trat in den Videos eine Frau auf, die vom Spiegel Baida S. genannt wird. Die Gruppe hatte sich auch an die NGO "Watch the med – Alarm Phone" gewandt.

Zudem hatte der Spiegel-Journalist Georgios Christidis die Gruppe nach deren Rettung selbst aufgesucht und befragt. Dafür hatte er sich als Übersetzer ausgegeben und konnte so die Kontrollen im Flüchtlingszentrum passieren. Human Rights 360° hatte mit einem Eilantrag an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beantragt, dass die griechische Regierung zur Rettung der Gruppe gezwungen würde. Am 15. August trafen die 38 Mitglieder der Gruppe endgültig auf griechischem Boden an, wurden von den Behörden als Asylsuchende registriert und ärztlich untersucht.

Während der angeblichen Robinsonade auf der Evros-Insel sollte noch ein weiteres Kind von einem Skorpion gestochen worden sein, was bei den medizinischen Untersuchungen nicht verifiziert werden konnte.

Ins Rollen kam die Angelegenheit durch einen Telepolis vorliegenden Brief von Immigrationsminister Notis Mitarachi an den Chefredakteur des Spiegel, Steffen Klusmann. Mitarachi schildert in dem Schreiben vom 19. September, wie sein Ministerium durch eine Untersuchung zum Schluss kam, dass die Spiegel-Stories nicht korrekt seien.

Um es vorwegzunehmen: Es gibt Tote an den EU-Außengrenzen, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist darunter nicht das fünfjährige Mädchen mit dem Namen Maria. Das Internetmedium des für seine Regierungsfreundlichkeit bekannten TV-Senders Skai-TV vermeldete zum Beispiel am 16. November 2022, dass bislang 29 ertrunkene Geflüchtete auf der Insel Euböa gefunden wurden.

Von 68 Bootsinsassen konnten nur zwölf gerettet werden. Wochenlang wurden Leichen von Ertrunkenen an griechische Strände gespült. Allein aus der Tatsache, dass es im Fall der fünfjährigen Maria eine offensichtliche Täuschung gibt, sagt nicht aus, dass die EU-Außengrenze keine Todesfalle für Geflüchtete ist.

Zweifel am Tod Marias kamen bereits frühzeitig auf, obwohl selbst Mitarachi nach der Rettung der Gruppe die Suche nach dem angeblich auf der Insel verstorbenen Kind zum Thema machte.

Detailfragen und die abgeflogene Sprecherin der Flüchtlingsgruppe

Die Presseabteilung des Ministeriums versicherte Telepolis, dass dies auch geschehen sei. Der Minister hatte von den Eltern des angeblich toten Kindes eine Vollmacht erbeten, um die Leiche des Kindes, wie er es am 15. August im griechischen Fernsehen ankündigte, über das Internationale Rote Kreuz bergen zu lassen.

Diese Vollmacht wurde nie erteilt. Das Ministerium drängte die Eltern auch, eine Vollmacht für eine standesamtliche Anfrage in Syrien, dem Herkunftsland des fraglichen Kindes, zu erteilen. Auch dies geschah nicht. Zudem habe Baida S. direkt nach ihrer Ankunft im Flüchtlingslager Drama dieses verlassen, sei in ein Taxi gestiegen und verschwunden, erklärte der Pressesprecher gegenüber Telepolis.

Das Verlassen des Lagers sei legal und kein Verstoß gegen irgendeine Auflage, meinte er, wunderte sich jedoch, woher die Mittel für die Weiterreise per Taxi stammten und warum die Sprecherin ihre Gruppe im Stich ließ.

Der Spiegel schreibt dazu: "Doch wenig später postete sie ein TikTok-Video von einem Flug, der in Athen startet. (…) Wie Baida S. in so kurzer Zeit die nötigen Papiere erhalten konnte, um nach Deutschland zu fliegen, lässt sich nicht aufklären."

Laut dem griechischen Immigrationsministerium hat sie das Asylverfahren in Griechenland nicht weiter verfolgt, weil sie verschwand.

Christidis hatte auch über Twitter erklärt, dass ihm eidesstattliche Erklärungen zur Existenz und zum Tod des Kindes vorlägen. Human Rights 360° selbst hatte, ob wie von der Opposition postuliert unter dem Druck des Ministeriums oder freiwillig, zugegeben, dass die fragliche Flussinsel nicht komplett griechisches Territorium sei.

In seiner Erklärung zum Rückzug der Texte verweist Der Spiegel darauf, dass es von Seiten der griechischen Regierung zynisch sei, darauf zu verweisen, dass eine Rettung von der teilweise auch zur Türkei zählenden Insel im Evros-Fluss nicht möglich sei.

Vom Ministerium erfuhr Telepolis, dass die griechische Regierung befürchtete, mit einem Rettungstrupp auf der Insel eine weitere Eskalation im Streit mit der Türkei auszulösen. Schließlich droht die Türkei Griechenland wiederholt mit dem Casus Belli und einer Invasion: "Wir werden bei Nacht kommen.".

Die Türkei verlangt die Demilitarisierung der griechischen Ägäisinseln und stört sich an Militärpräsenz im Grenzgebiet. Es gibt zudem einen Präzedenzfall von 2018, als zwei griechische Soldaten, die bei ihrer Patrouille im Evros-Gebiet bei Schnee wenige Meter auf türkischen Boden gelangten, von den Militärs des Nato-Partners Türkei festgenommen wurden und monatelang in einem türkischen Gefängnis festsaßen.

Die Gerichtsverfahren gegen die Soldaten sind in der Türkei laut Angaben des griechischen Immigrationsministeriums noch nicht abgeschlossen.

Die Vermutung, die im Gespräch mit dem Presseministerium, aber auch bei Fragen an Immigrationsminister Mitarachi nicht offen ausgesprochen, sondern nur impliziert wird, ist, dass es auch innerhalb der Flüchtlingsgruppen Schleuser geben soll.

Geschlossene Grenzen als Dogma der EU

Hier wäre eigentlich die EU gefragt, die den Flüchtlingspakt mit der Türkei abgeschlossen hat, und deren Entscheidung die geschlossenen Grenzen der Festung Europa sind. So wurde Kroatien, das seine Grenzen gegen Migration rigoros und mit systematischen Pushbacks abschottet, am 1. Januar 2023 in den Schengen-Raum aufgenommen, während Bulgarien und Rumänien dies verwehrt blieb.

Pushbacks werden offenbar nicht als Verstöße gegen EU-Recht sanktioniert. Ebenso wenig wie die Einschränkungen, die es für unabhängige Reportagen an den EU-Außengrenzen gibt. Das gilt für das Evros-Gebiet ebenso wie für die griechischen Grenzinseln oder das polnisch belarussische Grenzgebiet.

Unabhängige Reportagen, bei denen Medienschaffende ohne jegliche Einschränkung, Voranmeldung und Kontrolle im europäischen Grenzgebiet recherchieren konnten, sind mit dem Risiko einer Verhaftung und Anklage behaftet, wie eine britische Journalistin und ein griechischer Fotograf im August 2021 feststellen mussten. Beide hatten eine Erlaubnis eingeholt, waren aber unbegleitet an der griechisch-bulgarischen Grenze in militärisches Sperrgebiet gelangt.

Dem ersten Schock der Inhaftierung und der Anklage wegen Spionage, folgte nach beherztem Einsatz auch des Verbands der griechischen Pressefotografen ein Freispruch. Die abschreckende Wirkung solcher Vorfälle auf Medienschaffende ist enorm. Dies allein der regierenden nationalkonservativen Nea Dimokratia anzulasten, wäre billig.

Denn schon unter der nominell links geführten Regierung von Alexis Tsipras kam es 2018 zur Festnahme einer deutschen Journalistin und ihres Kollegen, die für die ARD im Grenzgebiet am Evros unterwegs und in ein Sperrgebiet geraten waren.

Es geht nicht immer so glimpflich aus. Der griechische Menschenrechtler Panayote Dimitras steht unter der Anklage der "Bildung einer kriminellen Vereinigung", was ihm bis zu zwei Jahrzehnte Zuchthaus einbringen kann. Er ist gegen Kaution auf freiem Fuß, darf das Land aber nicht verlassen. Sein Vergehen? Er dokumentiert Pushbacks und beobachtet dafür auch die Aktionen der uniformierten griechischen Staatsdiener.

Weil Dimitras über eine NGO für seine Tätigkeit Geld erhält, macht er dies in Augen der griechischen Strafverfolger "gewerblich", was die Anklage der "kriminellen Vereinigung" stützen soll. Zudem soll er "die Daten von Angehörigen dritter Staaten aufnehmen und deren illegales Eindringen nach Griechenland erleichtern".

Weil die Geflüchteten die Daten an Dimitras übermitteln und den Tipp dafür auch von türkischen Schleusern erhalten, sieht sich Dimitras auch dem Vorwurf der Schleusertätigkeit ausgesetzt. Zudem, so kommentieren rechtskonservative Medien, diffamiert die Tätigkeit Dimitras den griechischen Staat.

Das griechische Immigrationsministerium versichert, dass es keine journalistischen Recherchen behindern würde, aber auch die Rechte der Geflüchteten auf Privatsphäre im Blick habe. Tatsächlich gelangte nach Christidis‘ verdecktem Besuch im Lager die Journalistin Vassiliki Siouti mit einer offiziellen Erlaubnis ins gleiche Lager und befragte die vom Spiegel porträtierte Gruppe.

Siouti erklärt in ihrem Beitrag, dass sie die ihr seitens der Direktion des Lagers auferlegten Beschränkungen hinsichtlich der Veröffentlichung von Fotos achten würde.

Siouti konnte keine Beweise für die Existenz der toten Maria finden. Lediglich einer der Geflüchteten gab ihr gegenüber an, es habe das Kind gegeben und es sei von einem Insekt gestochen worden. Siouti traf auch auf Baida S., die ihr jedoch unter Berufung auf den Anwalt einer NGO ein Gespräch verweigerte.

Sie zeigt in ihrem Artikel ein von ihr erstelltes Foto von Baida S. Auch sie hatte im August über die Gruppe der 38 berichtet und dabei die Dramatik der Situation, wie sie sich darstellte, beschrieben.

Siouti kommt zu dem Schluss:

Flüchtlinge sind Opfer und es ist menschlich, dass sie versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen. Auf ihrem Rücken wurden jedoch nicht nur politische und diplomatische Spiele inszeniert, sondern auch ein riesiges Handels- und Ausbeutungsunternehmen des Flüchtlingsdramas (3.000 Euro sind der Tarif für ihren Transport von der Türkei nach Griechenland, sagten uns Flüchtlinge im Lager).

Ebenso wurden unzählige Fake News verbreitet, um dieser Ausbeutung zu dienen. Aus diesem Grund muss jeder, der das menschliche Drama der Flüchtlinge, das keine gefälschten Nachrichten braucht, respektiert, alle Nachrichten, die ihr Leben betreffen, untersuchen und dokumentieren. Und wo es eine ungerechte Tat gibt, muss es Strafen geben.


Vassiliki Siouti, Journalistin

Innenpolitische Konsequenzen

Innenpolitisch feiert die Regierung den endgültigen Rückzug der Spiegel-Artikel als Triumph. Im Fernsehen wird in mehreren Sendern erklärt, der Spiegel habe sich bei der griechischen Regierung entschuldigt. Printmedien berichten ähnlich.

Nur, dass sich auch bei aufmerksamem Lesen der jüngsten Stellungnahme des Spiegel keine wirkliche Entschuldigung herauslesen lässt. Erneut gibt es also "Fake News". Die Regierung geht noch einen Schritt weiter. Weil die negativen Schlagzeilen zum Schicksal der Geflüchteten an der EU-Außengrenze zur Türkei deren Narrativ dienten, sei die Opposition, die in Griechenland gegen die restriktive Flüchtlingspolitik argumentiert, die "fünfte Kolonne der Türkei", meint Wirtschaftsminister Adonis Georgiadis.

Mehrere Regierungsvertreter verlangen nun, dass sich die Opposition in Griechenland ebenso, wie es der Spiegel vorgemacht haben soll, bei der Regierung entschuldigt.