Keine Koalition in Sicht: Niederlande erwägen außerparlamentarische Regierung

Im Plenarsaal der Den Haager Tweede Kamer könnte Fraktionszwang bald der Vergangenheit angehören. Foto: Husky / CC-BY-4.0

Update. Statt einer Minderheitsregierung könnte eine scheinbar chaotische Lösung in Den Haag zur Chance für mehr direkte Demokratie werden. Sonst bleiben Neuwahlen.

In Deutschland wurde gerade ein neuer Bundestag gewählt. Mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen - "Ampel", "Jamaika" oder eine andere Überraschung - witzelt man, ob Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch die nächste Neujahrsansprache halten wird. Hier in den Niederlanden drängt sich die entsprechende Frage auch allmählich auf, doch ist sie weniger witzig.

Gewählt wurde das neue Parlament - die Tweede Kamer in Den Haag - nämlich schon am 17. März. Tatsächlich ist Ministerpräsident Mark Rutte mit seinem dritten Kabinett aber schon seit Januar 2021 nur noch geschäftsführend im Amt. Damals trat die gesamte Regierung wegen der sogenannten Kindergeldaffäre ("Toeslagenaffaire") zurück.

Der Rücktritt der Regierung

Zur Erinnerung: Um (angeblichen) Sozialbetrug zu härter bekämpfen, wurden vor Jahren die Kriterien für das niederländische Kindergeld verschärft. Mit dem Ausfüllen der Anträge hatten vor allem bildungsfernere Familien ihre Schwierigkeiten.

Bei festgestellten Fehlern (oder selbst Fehlerchen) stellten die Behörden aber nicht nur die Zahlungen ein, sondern forderten ausgezahlte Gelder sogar rückwirkend zurück - unter Umständen zehntausende Euro. Das gefährdete die Existenz vieler Familien. Dazu kam der Vorwurf des Sozialbetrugs. Auch die Gerichte stützten diese harte Vorgehensweise.

Eine unabhängige Untersuchung kam 2020 aber zum Ergebnis, das Vorgehen der Behörden habe oftmals rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Besonders brisant: Auf der Jagd nach (angeblichen) Sozialbetrügern hatten Beamte umstrittene Merkmale verwendet, etwa die Staatsbürgerschaft der Familien. Die Datenschutzbehörde nannte das rechtswidrig und diskriminierend. Den Opfern sollen nach ihrem teils jahrelangen Kampf gegen die staatlichen Windmühlen immerhin 30.000 Euro Schadensersatz ausgezahlt werden.

Mit Blick auf die planmäßigen Wahlen im März 2021 war dieser Rücktritt, um die Regierungsgeschäfte nur noch geschäftsführend im Amt zu tätigen, eher symbolischer Natur. Vielleicht war er auch vor allem strategisch motiviert, um das Thema so gut wie möglich aus dem Wahlkampf zu halten.

Wirklich abgedankt haben deswegen nur der Staatssekretär des Finanzministeriums, Menno Snel, sowie der Wirtschaftsminister Eric Wiebes, der früher diesen Staatssekretärsposten innehatte. Über das Afghanistan-Debakel stürzten jüngst noch die Außen- und Verteidigungsministerinnen und kürzlich wurde eine Staatssekretärin entlassen, die in einem Interview die Corona-Maßnahmen des Kabinetts kritisiert hatte.

Wahlergebnisse

Bei den Wahlen im März wurde Ruttes wirtschaftsliberale VVD mit 21,9 Prozent beziehungsweise 34 Abgeordneten jedenfalls wieder stärkste Kraft, hatte im Vergleich zu 2017 sogar 0,6 Prozent zugelegt. Ein größerer Wahlsieger war die bürgerlich-liberale D66 mit 15,0 (plus 2,8) Prozent und 24 Sitzen. Auf Platz 3 landete Geert Wilders' rechtspopulistische PVV mit 10,8 (minus 2,3) Prozent und 17 Sitzen.

Da es in den Niederlanden keine Hürde für den Stimmenanteil gibt, sind im Parlament nun ganze 17 Parteien vertreten, darunter etwa 50Plus, eine Partei für Ältere, die Bauernpartei BBB sowie die Antidiskriminierungspartei BIJ1 (gesprochen bei-een, was man mit "beieinander" übersetzen könnte) mit jeweils nur einem Sitz.

Angesichts dieser Verhältnisse dürften sich manche Politiker der größeren niederländischen Parteien eine Fünfprozenthürde wie in Deutschland wünschen. Doch selbst dann säßen in der Tweede Kamer immer noch acht Parteien: neben den bereits genannten drei größten noch die christdemokratische CDA, die sozialistische SP, die sozialdemokratische PvdA, die grün-linke Partei GroenLinks sowie das rechtspopulistische Forum voor Democratie (in der Reihenfolge ihrer Fraktionsstärke).