Keine Übersterblichkeit trotz Covid
Tatsächlich erhöht sich mit der Alterung der Gesellschaft die Zahl der zu erwartenden Sterbefälle
"Covid-19 ist ein Totmacher. Noch nie in der Geschichte der Republik sind so viele Menschen in so kurzer Zeit an einer einzigen Krankheit gestorben." Das behauptet die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt in der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen Zeitung. Stimmt das? Nach wie vor sterben die meisten Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und an Krebs, auch im Jahr 2020, dem Jahr eins in der neuen Zeitrechnung von Covid. Aber da die Seite vier der Süddeutschen Zeitung als Meinungsseite firmiert, sollte man sich vielleicht nicht pedantisch mit "Faktenchecks" aufhalten, sondern lieber fragen: Ist dieser aufgeregte Ton angemessen?
Mehr als die Hälfte aller Sterbefälle ereignet sich in Deutschland in der Altersgruppe 80 plus, also der Generation der Über-80-Jährigen. Was würde man erwarten, wenn diese Gruppe aufgrund der demographischen Alterung erheblich ansteigt? Korrekt, dann sollten auch die Todeszahlen deutlich ansteigen, und zwar einfach deshalb, weil die Sterblichkeit bei älteren Jahrgängen deutlich erhöht ist. Das ist seit 2014 noch stärker als in der Vergangenheit der Fall, weil es in den 1930er Jahren einen Babyboom gab, der zu einer außergewöhnlich starken Besetzung der Altersjahrgänge führt, die heute 80 Jahre und älter sind (vgl. Abbildung 1).
Auf diesen Zusammenhang haben jüngst auch Kollegen aus dem Institut für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität in München in einer Stellungnahme sowie Experten des Statistischen Bundesamtes in einem Fachaufsatz hingewiesen.
Auch wenn aufgrund von Covid-19 in einzelnen Kalenderwochen eine erhöhte Sterblichkeit zu beobachten ist, liegt die Gesamtsterblichkeit in Deutschland im Jahr 2020 insgesamt unter dem alterungsbedingten Erwartungswert.
Der Anteil der Generation 80 plus an der Gesamtbevölkerung ist nach Angaben des Bundesamts für Statistik in den letzten zehn Jahren um 36 Prozent angestiegen. Wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Todesfälle auf die Altersgruppe 80 plus entfällt, dann wird man bei sonst ungefähr konstanter Bevölkerungsstruktur einen deutlichen Anstieg der Todesfälle in diesem Zeitraum erwarten.
Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Lebenserwartung ebenfalls gerade auch in den höheren Altersjahrgängen zunimmt, weshalb der Anstieg der zu erwartenden Todesfälle etwas schwächer ausfällt, als allein vom Anstieg der Bevölkerungszahl in den hohen Altersjahrgängen her zu erwarten wäre. Das Ergebnis entsprechender Berechnungen ist in der ersten Tabelle dargestellt. Für die Jahre 2011 bis 2019 wird der errechnete Erwartungswert mit den tatsächlichen Todesfallzahlen verglichen.
Erklärbare Abweichungen
Es ist erkennbar, dass im gesamten Zeitraum die Todeszahlen von Jahr zu Jahr jeweils um ca. 13.000 Fälle pro Jahr angestiegen sind und dabei manchmal unter, manchmal auch über dem alterungsbedingten Erwartungswert lagen. Die Abweichungen vom Erwartungswert nach unten und nach oben erklären sich sehr wahrscheinlich aus den jeweiligen Grippewellen im Winter und den Hitzewellen im Sommer, die von Jahr zu Jahr unterschiedlich ausfallen.
Für 2020 reichen die Angaben des Statistischen Bundesamtes nur bis zur 47. Kalenderwoche. Die restlichen fünf Wochen wurden auf der Basis der Durchschnittswerte der vier vorangegangenen Jahre geschätzt; hinzu kommt ein am "worst case" orientierter Aufschlag für Covid-19, der von Woche zu Woche um 20 Prozent steigend für die letzte Woche des Jahres 4.600 zusätzliche Todesfälle einkalkuliert.
Deutlich wird, dass trotz Covid-19 und selbst mit diesem steilen Anstieg der letzten Wochen - anders als etwa 2013, 2015 und 2018 - für das Jahr 2020 nicht mit Übersterblichkeit zu rechnen ist.
Wie ist es möglich, dass es übers Jahr keine Übersterblichkeit gibt, obwohl doch in der ersten und zweiten Welle von einem scheinbar dramatischen Anstieg der "Corona-Toten" berichtet wurde? Die folgende Abbildung zeigt die entsprechenden wöchentlichen Todeszahlen in der Gesamtbevölkerung im Vergleich zum Erwartungswert. Es wird deutlich, dass die Todeszahlen bis in den März hinein deutlich unter dem Erwartungswert lagen, der aufgrund der Grippewellen des Winters gegenüber dem Jahresdurchschnitt deutlich erhöht ist.
Mit der ersten Corona-Welle stiegen die Todeszahlen dann zwar über den Erwartungswert, aber dieser Anstieg fällt nicht allzu deutlich aus. Den Sommer über lagen die tatsächlichen Todeszahlen dann meistens leicht unter dem Erwartungswert, außer in der 33. Kalenderwoche im August, in der eine ausgeprägte Hitzewelle zu verzeichnen war.
Im November stiegen die Todeszahlen dann mit der zweiten Corona-Welle leicht über den Erwartungswert, um dann ab KW 48 je nach Szenario mit 2.000 Covid-Toten nah am Erwartungswert zu verlaufen oder bei einem Anstieg bis auf 4.600 Covid-Tote diesen deutlich zu übersteigen.
Insgesamt ist festzustellen, dass die geschätzte Gesamtsterblichkeit, die sich aus der Addition der Wochenwerte ergibt, in der höheren Variante bei 966.000 und in der niedrigeren Variante bei 958.000 Todesfällen liegt. Damit bleiben beide Varianten unter dem Erwartungswert von 972.000 Toten.
Trotz Covid-19 wird 2020 mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Jahr, dessen Todesfallzahl unter dem alterungsbedingt steigendem Durchschnitt liegen wird.
Natürlich können wir nicht wissen, wie sich die Linie in den nächsten Monaten fortsetzen wird. Hier ist ein Blick in die Vergangenheit hilfreich.
Höhere Todeszahlen Anfang 2021 nicht unwahrscheinlich
Abbildung drei zeigt den Verlauf des Erwartungswerts und der tatsächlichen Todeszahlen über die letzten fünf Jahre. Es wird deutlich, dass die Grippewellen zum Jahreswechsel 2016/17 und zu Beginn von 2018 mit deutlich erhöhten Sterblichkeitszahlen einhergingen, die 2018 sogar über dem Wert liegen, der nun für das Jahresende 2020 in der oberen Variante abzusehen ist.
Insofern ist ein weiterer Anstieg der Todesfälle im Januar und Februar 2021 nicht unwahrscheinlich und läge dabei trotzdem noch in den Bereichen, die wir auch bei heftiger ausfallenden Grippewellen beobachten.
Demgegenüber muss man nun kritisch fragen, warum das Statistische Bundesamt höhere Werte für die Übersterblichkeit durch Corona angibt. Zum Beispiel meldet die bundesdeutsche Statistikbehörde für die 47. Kalenderwoche eine Übersterblichkeit von neun Prozent, während der entsprechende Wert in der hier gewählten Abschätzung nur bei vier Prozent liegt.
Das Statistische Bundesamt bestimmt die Grundlinie anhand einer sehr einfachen Methode, indem es die arithmetischen Mittelwerte aus den Jahren 2016 bis 2019 für die Kalenderwochen berechnet. Allerdings wird im Verfahren des Bundesamtes die Altersverschiebung in der Bevölkerung nicht berücksichtigt, so dass die Grundlinie über alle Jahre gleich ist und immer auf dem mittleren Niveau der Jahre 2016 bis 2019 verharrt (931.000 Tote pro Jahr). Damit liegt sie aber für den Beginn von 2016 um knapp zwei Prozent zu hoch und für das Ende von 2020 um fünf Prozent (d.h. 1000 Tote pro Woche) zu niedrig.
Die Fachabteilung beim Statistischen Bundesamt ist sich dieses Problems durchaus bewusst. In einer Fachpublikation wird entsprechend auch auf den Geburtenanstieg der Altersgruppe 80 plus verwiesen. Dort wird dann auch, wie in der Demographie eigentlich üblich, mit Mortalitätsraten (Tote pro 100.000 der Vergleichsgruppe) gerechnet und nicht mit absoluten Zahlen, die einen Vergleich von unterschiedlichen Jahren nicht zulassen, weil sich die Bevölkerungsstruktur alterungsbedingt oder aus anderen Gründen verändern kann.
Statistikamt: Zahlen vereinfacht oder irreführend?
Auf der Website, die sich an die breitere Öffentlichkeit richtet, werden aber die absoluten Zahlen verwendet. Im Kommentar dazu heißt es, man habe ein möglichst leicht verständliches Verfahren bevorzugt: "Die Betrachtung mit dem Vorjahresdurchschnitt ist für uns eine sehr transparente und nachvollziehbare Vorgehensweise."
Man könnte hier einwenden, dass es sich in dieser Schlichtheit allerdings um ein irreführendes Verfahren handelt. Denn ohne Korrektur für den deutlich verschobenen Altersaufbau der Gesellschaft erhält man viel niedriger liegende Referenzwerte, die eine Übersterblichkeit ausweisen, die es in diesem Ausmaß gar nicht gibt.
Allerdings muss man das Bundesamt auch in Schutz nehmen: Es berichtet in seinen Pressemitteilungen von der Übersterblichkeit in der jeweiligen Kalenderwoche. In der Presse wird dieser Bezug auf bestimmte Kalenderwochen vielfach weggelassen, so dass dann sehr viel dramatischere Schlagzeilen zustande kommen: "46 Prozent mehr Tote in Sachsen während Corona-Pandemie".
Korrekt müsste es heißen: 46 Prozent in der 47. Kalenderwoche. Denn ein paar Wochen zuvor lag die Sterblichkeit in Sachsen noch unter dem Durchschnitt der Vorjahre. Sachsen liegt zwar von allen Bundesländern übers Jahr 2020 gerechnet mit 5,1 Prozent am weitesten über dem Erwartungswert (vgl. Tabelle zwei), und die Entwicklungen in den letzten Wochen mögen dort auch dramatisch gewesen sein. Aber das rechtfertigt dennoch nicht, von einem Massensterben zu sprechen.
Selbstverständlich bleibt abschließend anzumerken, dass wir nicht wissen können, wie viele Tote es 2020 in Deutschland gegeben hätte, wenn keine Eindämmungsmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus Sars-CoV-2 erfolgt wären. Insofern mag man die ausgebliebene Übersterblichkeit vielleicht als Erfolg der Gesundheitspolitik und ihrer Eindämmungsmaßnahmen interpretieren.
Wahrscheinlich war es aber hauptsächlich Glück, dass die erste Welle Deutschland weitgehend verschont hat, während andere Länder viel schwerer getroffen wurden. Bei der zweiten Welle hätte man es – dank der mittlerweile gesammelten Erfahrungen – eigentlich besser wissen können. Gerade die zweite Welle scheint Deutschland nun viel härter als die erste Welle zu treffen.
Man hat sich obsessiv auf die Ansteckungsraten in der Gesamtbevölkerung konzentriert und dabei den Schutz der besonders vulnerablen Gruppen vergessen.
Bernhard Gill ist ein deutscher Soziologe und Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
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