"Keine klaren Sachbeweise, dass Amri der LKW-Fahrer war"

Das beschädigte Führerhaus der Sattelzugmaschine nach dem Anschlag am Breitscheidplatz. Bild: Emilio Esbardo / CC-BY-SA-4.0

Thomas Moser über Medien und Arbeit im NSU- und im Amri-Untersuchungsausschuss: Auf der politischen Ebene gab es keine Resonanz

Ich habe auf tagesschau.de einen Bericht vom 29. Juni über den Abschluss des Amri-Untersuchungsausschusses gelesen, dass es zwar noch offene Fragen gebe, das Problem sei vor allem der Behördenwirrwarr gewesen. Ist das so?

Thomas Moser: Eine der Erkenntnisse von vier Jahren Untersuchungsarbeit ist, dass maßgebliche Sicherheitsbehörden Bescheid gewusst haben über Amri und Co.. Amri ist für mich kein Einzeltäter gewesen, sondern hat sich in einem Personenkreis bewegt. Maßgebliche Behörden haben Akten über Amri und Co. geführt.

Sie hatten Sachbearbeiter, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Sie hatten Informationsbeschaffer und Auswerter, die die Informationen eingeschätzt haben. Ich spreche beispielsweise vom Bundesamt für Verfassungsschutz, von der Generalstaatsanwaltschaft, von der Staatsschutzabteilung in Berlin, vom Landeskriminalamt in Berlin und vom Bundeskriminalamt, die zusammen gearbeitet haben. Sie hatten einen klaren Überblick über Amri und Co.

Eine der Lücken, die sich auftun, ist, bis wann vor dem Anschlag die Informationsdichte verlorenging. Erklärt wird das dadurch, dass Amri aus dem Schirm geraten sei, ich und andere kritische Beobachter vermuten aber, dass Informationen zurückgehalten werden. Man hatte Amri und Co. unter Kontrolle. Das Narrativ stimmt nicht, dass er falsch eingeschätzt wurde, vom Schirm gelaufen ist, es keinen Kontakt mehr gab und er sich individuell radikalisiert hat.

Wer könnte denn ein Interesse und welches daran haben, Informationen zurückzuhalten? Bestimmte Sicherheitsbehörden?

Thomas Moser: Die Frage, welche Interessen Behörden hatten, etwas anders darzustellen, als es in Wirklichkeit war, ist der zweite Schritt vor dem ersten. Sie haben das Interesse, wenn es eine eigene Verantwortung in welcher Weise auch immer gibt. Das ist Teil der alternativen Hypothesenbildung. Möglicherweise waren sie verstrickt in die Vorgänge, hatten sie V-Leute in der Gruppe, besaßen sie ein Vorwissen usw.. Das sind Hintergründe, die dazu führen, dass Behörden nicht rechtsstaatlich handeln, sondern Dinge zurückhalten, manipulativ handeln und rumtricksen, wodurch sie auch die öffentlichen Aufklärer in eine falsche Richtung laufen lassen.

Meine Haupterkenntnis ist, dass die Täterschaft nicht geklärt ist. Im Buch versuche ich herauszuarbeiten, worauf sich die Annahme stützt, dass Amri nicht der Haupttäter ist, der den Lastwagen gefahren hat. Man kann nicht beweisen, dass er ihn gefahren hat, man kann aber auch nicht beweisen, dass er es nicht getan hat. Es gibt aber mehr Indizien dafür, dass er ihn nicht gefahren hat.

Man kann so gut wie sicher sagen, dass Amri ein Tatbeteiligter und Teil einer Gruppierung war. Wenn er den Lastwagen nicht gefahren hat, dann haben wir schon mindestens zwei Täter. Mit der Behauptung, Amri sei der Haupttäter gewesen, wird dieses Szenario in den Schatten gestellt. Man will den Fokus nicht darauf lenken, dass es eine Tätergruppierung gab, also muss eine Wahrheit in den mutmaßlichen Mittätern versteckt sein, die jemandem unangenehm ist.

Bündnis 90/Die Grünen haben eine sehr gute Aktenarbeit gemacht

(Der Fall, Erg. d. R.) Amri hat den "Vorteil", dass er erschossen wurde und nicht mehr aussagen kann, während es bei anderen im Umkreis noch möglich wäre. Ist im Untersuchungsausschuss etwas herausgekommen, was der Bremsschuh dafür war, nicht das Umfeld zu beleuchten?

Thomas Moser: Es ist allerdings nicht der Vorteil für Amri, dass er erschossen wurde, sondern ein Vorteil für das BKA. Vor allem die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen haben eine sehr gute Aktenarbeit gemacht. Konstantin von Notz sagte beispielsweise: Wenn Amri nicht erschossen worden wäre, sondern man ihn geschnappt und vor Gerichte gestellt hätte, würde er mit der vorhandenen Indizienlage nicht verurteilt werden können. Es gibt keine klaren Sachbeweise, dass er der LKW-Fahrer war.

Jetzt hat der Untersuchungsausschuss vier Jahre lang mit einem Tausende von Seiten langen Bericht in diesen Amri-Komplex hineingebohrt, aber das wird wohl keine Folgen haben. Welchen Sinn machen solche Untersuchungsausschüsse? Wenn die Behörden nicht mitspielen, ist der Ausschuss lahmgelegt und wird zur Inszenierung einer Aufklärung?

Thomas Moser: Es gibt zwei Ebenen, die die Arbeit der Ausschüsse aufgreifen müssen. Die eine Ebene ist die Presse, die darüber berichtet. Ich bin selber Pressevertreter und will jetzt keine uferlose Schelte begehen, aber die Art und Weise, wie Kollegen und ich berichtet haben, war doch sehr unterschiedlich. Wir saßen in derselben Sitzung wie in der vom März 2020, als die Tatortermittler über ihre Arbeit im LKW berichtet haben.

Da kam heraus, dass es von Amri im Führerhaus des Lastwagens keine Fingerabdrücke und belastbaren DNA-Spuren gab. Das fand ich hoch elektrisierend, aber es wurde von niemandem berichtet, obwohl Kollegen in dieser Sitzung saßen und hätten berichten können.

Die zweite Ebene ist die politische. Auch bei diesem Ausschuss konnte man wieder sehen, dass die Vertreter der Parteien, die in ihm sitzen, isoliert werden. Auch bei den NSU-Untersuchungsausschüssen konnte man sehen, dass Parteienvertreter gebohrt und herausgefunden haben, dass es V-Leute gab, aber auf der politischen Ebene gab es keine Resonanz.

Die Bundestagsfraktionen verteidigen ihre Abgeordneten im Ausschuss nicht, sie machen die Ergebnisse nicht bekannt und verbreiten sie, sondern man lässt die arbeiten und isoliert sie in gewisser Weise.

Ein Feigenblatt für eine wirkliche Aufklärung?

Das würde dann ja letztlich bedeuten, dass die Untersuchungsausschüsse ein Feigenblatt für eine wirkliche Aufklärung sind. Man lässt sie arbeiten, die Ergebnisse verschwinden dann in den Schubladen und das Problem ist gelöst.

Thomas Moser: Die Gefahr besteht. Die Exekutive geht immer in die Richtung, die Ausschüsse als Feigenblatt zu behandeln. Auch die Abgeordneten der Regierungsfraktionen haben nicht das große Interesse aufzudecken, was das Innenministerium verbrochen hat.

Wenn man das zu Ende denkt, kann man das auch auf Parlamentarier beziehen, die auf dem Sprung in die Regierung sind oder damit rechnen, in der nächsten Regierung zu sein. Sie wollen auch nicht zu großen Flurschaden anrichten. Es hängt auch davon ab, wie ernst sich die Abgeordneten selbst nehmen, ob sie das Feigenblatt sein oder ob sie wirklich aufklären wollen.

Der Amri-Ausschuss kam ein kleines bisschen weiter als die NSU-Untersuchungsausschüsse. Einige Abgeordnete nahmen auch bereits an den NSU-Ausschüssen teil und waren daher mit bestimmten Wassern gewaschen. Dazu kam, dass sich einige Verletzte und Angehörige von Opfern immer wieder eingemischt haben. Sie sind immer wieder in die Sitzungen gegangen, so beschwerlich und mitnehmend das auch war, und haben sich gezeigt. Deswegen kann man auch nicht so schnell zum business as usual übergehen, wenn die Angehörigen dabei sind und ihre Fragen stellen.