Kettensäge statt Sozialstaat: Was Christian Lindner von Milei lernen will
Liberal-konservative Ideen prägen deutsche Politik. Christian Lindner (FDP) schlägt vor, radikale Politiker wie Argentiniens Milei als Vorbild zu nehmen. Welche Folgen hat das?
„Wir sollten in Deutschland ein kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen“, fordert der ehemalige Finanzminister Christian Lindner (FDP) in einer TV-Sendung. Welchen Umgang Musk mit seinen Beschäftigten pflegt, zeigen Erfahrungen der Belegschaft im Tesla-Werk Brandenburg. Einen Tarifvertrag lehnt er ab, die Ursachen für hohe Krankenquoten sieht er nicht in den Arbeitsbedingungen, die Verantwortung schiebt er zu den betroffenen Arbeitern.
Wer Lindner mit seinen Wahlkampfforderungen als Auslaufmodell sieht, da dessen Partei nach der nächsten Bundestagswahl allmählich aus der Parteienlandschaft verschwinden wird, muss realisieren, dass es andere einflussreiche Milei-Anhänger hierzulande gibt.
Dazu zählt Stefan Kooths, Leiter der Konjunkturprognose beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Der deutsche Ökonom zeichnete Argentiniens Präsidenten im Sommer mit dem Hayek-Preis aus. Ökonomen wie der Chefvolkswirt der Commerzbank Jörg Krämer loben die gesunkene Inflationsrate des Landes. Im November sank die Jahresinflation auf 193 Prozent, stieg aber im Vergleich zum Vormonat wieder um 2,7 Prozent.
Die Folgen der Politik Mileis
Am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember, übernahm Javier Milei 2023 die Präsidentschaft in Argentinien. Das Symbol der Kettensäge für seine Politik ist nicht nur Wahlkampfgag: 30.000 Staatsbedienstete wurden bis jetzt entlassen, der Peso als Sofortmaßnahme um mehr als 50 Prozent abgewertet, öffentliche Bauaufträge auf Eis gelegt. Sein Credo „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“) hat Folgen für die Menschen – landesweite Demonstrationen zeigen die Empörung.
Eine Studie der Menschenrechtsorganisation CELS ergab, dass der Verkauf von Getränken um 26 Prozent, von Milch um zwölf Prozent, Fleisch um neun Prozent sowie von Früchten und Gemüse um je sieben Prozent zurückgegangen ist. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel mehr als verdoppelt – mit einem Plus von 111 Prozent.
Torge Löding, der für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires vor Ort ist, berichtet:
Durch das Zusammenstreichen der öffentlichen Subventionen sind überdies die Preise für öffentlichen Transport, Strom, Gas und Wasser geradezu explodiert. Und aufgrund der Abschaffung von Mietpreisbremse und mieterfreundlichen Gesetzen hat der Mietmarkt sich zwar belebt, aber davon profitieren lediglich jene, die hohe Mieten in US-Dollar zahlen und sich auf befristete Mietverhältnisse einlassen können.
In der Frankfurter Rundschau heißt es:
Die Renten sind seit Jahresbeginn um mehr als ein Drittel geschrumpft. 56 Prozent der 46 Millionen Argentinierinnen und Argentinier sind arm, fast ein Drittel extrem arm. Millionen würden ohne Unterstützung verhungern. Täglich kommen Tausende Bedürftige hinzu, denn Mileis "Ministerium für Humankapital" sperrte Nahrungsmittelhilfen für Suppenküchen und versuchte so, die vielen Nichtregierungsorganisationen zu entmachten, die über Jahre die Nahrungshilfe organisierten.
Die Regierung stellt sogar den gesellschaftlichen Konsens zur Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur infrage und streicht den hierzu tätigen Nichtregierungsorganisationen die Gelder.
„Disruption“ als politische Forderung
Lindner trägt aber noch weitere Forderungen vor. Seine Ideen knüpfen an aktuelle Diskussionen deutscher Unternehmenslenker an. „Wir brauchen vor allem Disruption“, fordert der FDP-Chef.
Übersetzt werden kann das englische „disrupt“ mit „unterbrechen“ oder besser: „zerstören“. Diese disruptiven Veränderungen entstehen, wenn existierende Strukturen nicht mehr fähig sind, neue Entwicklungen zu verarbeiten. Disruptive Technologien verdrängen bisher übliche Technik innerhalb kurzer Zeit.
Anne M. Schüller, Bestsellerautorin und Businesscoach, erläutert:
Eine Disruption ist im Gegensatz zu evolutionären Konzepten und transformativem Wandel das Auftauchen einer bahnbrechenden Neuheit. Dabei werden etablierte Unternehmen, tradierte Technologien, übliche Dienstleistungen und althergebrachte Wertschöpfungsketten durch etwas radikal Neues abgelöst und meist verdrängt.
Beispiele gibt es viele: Der klassische Versandhandel wurde Opfer der Disruption: Quelle und Neckermann sind heute weitgehend Geschichte, Amazon der große Player. Ein weiteres Beispiel zeigt die Musikbranche. Das Aufkommen des digitalen Musikvertriebs, zum Beispiel in Form eines iTunes-Music-Stores, führte zur schrittweisen Zerschlagung der lokalen Musikgeschäfte und des CD-Versands.
„Disruption“ als „Kettensäge“ für den Sozialstaat
Wird „Disruption“ in Zusammenhang mit der „Kettensäge“ eines Milei gebracht, wird die politische Zielsetzung deutlich. Denn „insbesondere in der Klimapolitik, beim Bürokratieabbau, in der Sozialpolitik“ brauche es „frischen Wind“, erklärt Lindner seine Vorstellungen.
Vordenker dieses Ansatzes lassen sich beim Fraunhofer-Institut finden. Die Digitalisierung „leitet einen epochalen Wandel unserer wirtschaftlichen Systeme ein“, heißt es in der Blog-Reihe „Disruption“, die bereits 2017 Ideen dazu veröffentlichte. „Jenseits aller Unsicherheit und Zukunftsfragen bieten die transformativen Entwicklungen auch viele Chancen – aber nur für diejenigen, die sich dem Wandel proaktiv stellen und selbst vorangehen wollen“.
Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO) gibt hier die Linie vor: „Digitale Disruption ist kein Schicksal, sondern ein Gestaltungsraum“. Das Fraunhofer-IAO ist für viele Unternehmensführungen erster Ansprechpartner bei Fragen der Digitalisierung, es hat für die Bundesregierung die Studie „Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0“ erstellt.
Das klingt noch recht abstrakt – Unternehmensvertreter von Bertelsmann, Beiersdorf, BMW, Bayer-Konzern, Münchener Rückversicherung, Telekom und TUI verdeutlichten bereits vor Jahren im Positionspapier „Arbeit in der digitalen Transformation“ ihre Forderungen hinsichtlich „disruptiver Veränderungen“:
Die heutigen Arbeitszeitregelungen stammen größtenteils noch aus dem Industriezeitalter und begrenzen die Möglichkeiten des flexiblen und selbstbestimmten Arbeitens. Neue, dem gesellschaftlichen Wandel angepasste Regelungen zu Höchstarbeitszeit, Mindestpausen, Ruhezeiten sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen sollten größere Freiräume zur Arbeitszeitgestaltung schaffen […].
Wer diese Logik weiterdenkt und auf Sozial- und Rentenrecht bezieht, versteht, wie ein „disruptiver Umbau des Staats“ im Sinne der Unternehmenslenker aussehen kann.