Khuzestan hat Durst
Seite 2: Durst im Schiitentum
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Vor knapp 1400 Jahren wurde Imam Hussein, der dritte Imam der Schiiten, mit 72 seiner Gefährten bei der Schlacht von Karbala getötet. Überliefert ist auch, dass sie vor ihrer Ermordung starken Durst erleiden mussten. Daran wird jährlich am Trauerfeiertag Aschura erinnert.
In verschiedenen Städten gibt es große Zeremonien, bei denen die in schwarz gekleideten Trauernden sich kasteien: Männer schlagen sich mit Ketten auf Brust und Schultermund, Frauen weinen. Kleriker zitieren Gedichte über den Durst. Die meist von Weinen begleiteten Gesänge handeln davon, dass der Kalif Yazid und seine Kämpfer so hartherzig waren, dass sie Imam Hussein sogar vor seiner Enthauptung keinen Tropfen Wasser gegeben haben.
Der Kalif Yazid wird allein deshalb in schiitischen Büchern so grausam dargestellt, weil er auch den kleinen Kindern in der Schlacht von Karbala kein Wasser gegeben haben soll. Dass man Imam Hussein und seine Gefährten getötet hat, ist die eine Sache, aber dass man sie "mit durstigen Lippen" getötet hat, wird als noch viel schrecklicher angesehen.
Sobald die Trauerredner den Begriff "durstige Lippe" aussprechen, weinen sie selbst und die trauernde Bevölkerung weint auch ganz heftig mit. Es ist unvorstellbar, wie viele Feindschaften und Kriege es zwischen den Schiiten und Sunniten wegen der Schlacht von Karbala im ganzen Nahen Osten gegeben hat und leider weiter geben wird.
Durst in Khuzestan
Nun werfen Iraner:innen Ali Khamenei, dem geistlichen Führer, der selbst oft wegen der durstigen Märtyrer in Karbala weint, "Heuchlerei" vor. Sie vergleichen ihn mit Kalif Yazid und fragen, was der Unterschied ist zwischen den Menschen im heutigen Khuzestan und Imam Hussein in Karbala?
Warum hat die schiitische Führung im Iran so eine große Empathie für Menschen, die vor 1.400 Jahren durstig getötet wurden, aber nicht für die Millionen Menschen, die aktuell bedroht sind, wegen Wassermangels ihre Existenz verlieren? Stattdessen werden sie von den Sicherheitsbehörden als Feind dargestellt, um jegliche Gewalt gegen sie zu rechtfertigen.
Als 1979 Ayatollah Khomeini an die Macht kam, hat er der Bevölkerung Irans kostenloses Wasser und Strom versprochen. Die Menschen haben ihm damals geglaubt. Sie wussten nicht, dass auch 43 Jahre später Wasser und Strom alles andere als kostenlos sein und teilweise sogar ausfallen würden.
Zurzeit versuchen beinahe alle Menschen im Iran die durstigen Menschen in Khuzestan zu unterstützen. Viele schicken sogar Wasserflaschen nach Khuzestan. Jedoch werden die Autos wieder aus Khuzestan zurückgeschickt. Sie sagen, dass Khuzestans Flüsse nicht mit Mineralwasser-Flaschen wieder aufgefüllt werden können.
Das falsche Wassermanagement solle sofort korrigiert werden, damit das iranische Hochland am persischen Golf schnell wie möglich gerettet wird. Dabei geschieht etwas Unerwartetes: Eine beispiellose Solidarität unter den Iraner:innen innerhalb und außerhalb Irans. Wer hätte gedacht, dass eines Tages ausgerechnet "Durst" wie ein großes Feuer die Säulen der schiitischen Regierung im Iran bedrohen würde?
Ayeda Alavie ist freie Autorin und Übersetzerin. In Iran hat sie zahlreiche literarische Beiträge für Kinder und Jugendliche geschrieben und wurde mehrmals dafür ausgezeichnet. Sie lebt seit 2000 in Deutschland. Mehr auf ihrer Homepage