Kinderarbeit als Wirtschaftsmotor: Ein Tabu in der Schweizer Vergangenheit
Kinderarbeit prägte die Schweiz bis 1980. "Verdingkinder" mussten für Familien schuften. Könnte diese dunkle Vergangenheit eine Lösung für heutige Probleme sein?
In Deutschland war durch den Zweiten Weltkrieg und die Kriegsgefangenschaft eine ganze Generation ausgedünnt worden und stand weder in der Landwirtschaft noch in der aufblühenden Industrie zur Verfügung.
In der Innerschweiz gab es bis in die Zeit um 1980 zahlreiche Kinder aus armen Familien, die zum Lebensunterhalt ihrer Familien aktiv beitragen mussten und dafür auf eine Schulbildung verzichten durften.
Verdingkinder: Die vergessene Geschichte der Schweizer Kinderarbeit
Bevor die Schweiz auf die Idee kam, Gelder von allerlei Potentaten einzusammeln, unabhängig davon, wie diese zu ihrem Reichtum gekommen waren, hatte man sich im Alpenstaat über viele Jahrzehnte schon im Wegschauen perfektioniert.
Das heute vielfach ob seiner ach so demokratischen Struktur gelobte Land, das als eines der letzten in Europa das Frauenwahlrecht einführte, war über lange Zeit ein stark patriarchalisch geprägtes, eher rückständiges Land. So wurde im Jahr 1959 das Frauenwahlrecht, das bereits vom Parlament beschlossen worden war, von 69 Prozent der Schweizer Männer in einem Volksentscheid vom Tisch gefegt.
Am 7.Februar 1971 dann endlich der Erfolg für die Schweizer Frauen: Die Stimmbürger nahmen das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht für Frauen mit 65,7 Prozent Ja- zu 34,3 Prozent Nein-Stimmen an – 53 Jahre nach Deutschland, 52 Jahre nach Österreich, 27 Jahre nach Frankreich und 26 Jahre nach Italien. Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, Glarus, Obwalden, Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Uri lehnten das Begehren nach wie vor ab.
Schweizer Bundeskanzlei
Im Kanton Appenzell mussten die Frauen sogar bis 1990 auf das volle Wahlrecht warten, weil man dort überzeugt war: "Die Frauen sollen in der Küche regieren". Arbeitskraft ja, aber mehr nicht. Das galt vielfach auch für Kinder aus benachteiligten Familien, auch wenn diese in der Schweiz geboren waren und die Schweizer Staatsangehörigkeit besaßen.
Ein 1876 verabschiedetes Arbeitsverbot für Kinder unter 14, galt nur für die Arbeit in der Fabrik, nicht jedoch für Verdingkinder. Neben Kindern aus den armen innerschweizerischen Kantonen stammten viele auch aus unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen in der Stadt.
"Du bist nichts, du kannst nichts, du wirst nichts", war eine übliche Aussage, um Kinder aus benachteiligten Familien zu brechen und in der Folge als Leibeigene auszubeuten. Ohne ihre Kindersklaven schien die Schweiz damals wirtschaftlich nicht überleben zu können.
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Viele der Verdingekinder wurden nicht nur aus der Innerschweiz, sondern auch aus Vorarlberg und Tirol zu Arbeit ins reiche Oberschwaben geschickt. Erst in den vergangenen Jahren wurde ihre Geschichte aufgearbeitet, so zum Beispiel im Band "Die Schwabengänger aus Graubünden: Saisonale Kinderemigration nach Oberschwaben".
Ursprünglich wurden die Kinder auf den Hütekindermärkten in Ravensburg oder mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt auf dem Bodensee dann in Friedrichshafen wie Sklaven angeboten. Später konnte man die Kinder dann schon fürs kommende Jahr vorbestellen.
Auch wenn diese Zeit der Hütekindermärkte um 1930 endete, waren die Verdingkinder gerade in der wirtschaftlich lange Zeit unterentwickelten Innerschweiz ein Thema, mit welchem sich in der inzwischen prosperierenden Schweiz niemand abgeben wollte.
In der Schweizer Öffentlichkeit ist dieses eher düstere Kapitel der Schweizer Geschichte noch nicht lange Gesprächsstoff. Der Umgang der Schweiz mit seinen benachteiligten Bevölkerungsgruppen zeigte sich nicht nur bei den Kindern, die bis weit ins 20. Jahrhundert auf Schweizer Dorfplätzen versteigert und zur Kinderarbeit gezwungen, misshandelt und missbraucht wurden, sondern auch bei Kindern, die auf staatliche Anweisung zur Adoption freigegeben oder gleich abgetrieben wurden.
Die Aufarbeitung dieser unsäglichen schweizerischen Geschichte begann erst 2014 mit den Initiativen von Guido Fluri, der selbst unter den Eingriffen des Schweizer Staates zu leiden hatte und sich dennoch mit Glück und Geschick zum Multimillionär emporarbeitete.
Die Schweiz ist kein Einzelfall bei der Kinderarbeit
In Deutschland sollte die Beschäftigung von Zustellern von Printerzeugnissen und damit auch von Minderjährigen sogar staatlich subventioniert werden und war über Jahre von der Pflicht zum Mindestlohn befreit. Viele Austräger von Zeitungen und Anzeigenblättern sind Schüler, die sich damit ein Taschengeld verdienen wollen. Mit der Einführung der Ganztagsschulen wurde dieser Markt jedoch ein wenig enger.
Seit viele Migranten in den USA als Illegale verfolgt werden, sehen sich gerade kleinere Arbeitgeber nur mithilfe von Kinderarbeit in der Lage, ihr Angebot aufrechtzuerhalten. Für manche Jobs gibt es kaum erwachsene Bewerber. Und dazu kommt dann noch die illegale Beschäftigung von Kindern in Bundesstaaten, welche die ihr Arbeitsrecht noch nicht gelockert haben.
Auch im Lieferkettengesetz der EU war Kinderarbeit ein Thema und so verwundert der Widerstand von FDP und Familiengesellschaften kaum, ist doch die ehemalige FDP-Funktionärin Marie-Christine Ostermann über ihre Rullko Kaffeerösterei vom Thema Kinderarbeit durchaus tangiert.
Wenn Kinderarbeit in der Lieferkette kein Thema sein soll, warum soll dann einheimischen Arbeitgebern die Kinderarbeit untersagt bleiben? Das könnte man dann als ungerechtfertigte Benachteiligung deutscher Steuerzahler betrachten und sukzessive wieder erlauben.
Dies gilt gerade dann, wenn der Arbeitskräftemangel hierzulande anhält und man keine Arbeitskräfte aus dem Ausland mehr anwerben will oder einfach nicht mehr kann, weil Deutschland kein beliebter Arbeitsplatz mehr ist.