Kinderarmut auf Rekordniveau: Bertelsmänner vergießen Krokodilstränen
Neue Studie: Nie lebten mehr Kinder und Jugendliche auf Hartz-IV-Niveau als heute. Der Bertelsmann Stiftung missfällt das. Dabei war sie treibende Kraft des Verarmungsprogramms.
Die Zahl der in Deutschland von Armut "bedrohten" Kinder und Jugendlichen ist weiter gestiegen. Wie die Bertelsmann Stiftung am Donnerstag mitteilte, galten 2021 knapp 2,9 Millionen Heranwachsende sowie weitere 1,55 Millionen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren als "armutsgefährdet". Dabei habe sich die Lage aufgrund der jüngsten Krisen – Corona und Rekordinflation – weiter zugespitzt.
"Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat zugleich deutlich schlechtere Zukunftsaussichten", so Anette Stein, Direktorin für "Bildung und Next Generation" bei der Gütersloher Denkfabrik. "Das ist sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Gesellschaft als Ganzes untragbar."
Ampel plant Kindergrundsicherung
An die Bundesregierung appellierte sie, rasch Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die im Koalitionsvertrag versprochene Kindergrundsicherung müsse "schnellstmöglich" und mit der erforderlichen Ausstattung beschlossen werden. Mit dem Instrument, das sich derzeit in Vorbereitung befindet, wollen die Ampel-Parteien verschiedene Hilfen – Kindergeld, Kinderzuschlag, Zuwendungen im Rahmen des neugeschaffenen Bürgergelds – zu einer Leistung bündeln. Zentraler Maßstab müsse dabei sein, dass die Maßnahme Armut "wirksam vermeidet", erklärte Stein.
Nach dem heute durch die Stiftung veröffentlichten "Factsheet Kinder- und Jugendarmut in Deutschland" betrug die Quote von Kindern und Jugendlichen im Hartz-IV-Bezug im Sommer 2022 in Westdeutschland 13,4 Prozent, im Osten der Republik gar 16 Prozent. Auch auf kommunaler Ebene zeigten sich "gravierende Unterschiede": Im bayerischen Roth waren lediglich drei Prozent auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II angewiesen, in Gelsenkirchen im Ruhrpott waren es 42 Prozent.
Elendshochburg Bremen
Nimmt man die Anteile der "Armutsgefährdeten" im Alter bis 18 Jahre, kommt der Freistaat im Süden als "Spitzenreiter" auf 13,4 Prozent, im Stadtstaat Bremen sind dagegen 41,1 Prozent betroffen. Die anderen Länder bewegen sich relativ homogen in einer Bandbreite zwischen 17,2 Prozent in Brandenburg und 25,2 Prozent in Sachsen-Anhalt.
Auch bei der Aufschlüsselung nach Kindern und Jugendlichen in SGB-II-Haushalten rangieren Bayern mit 7,3 Prozent oben und Bremen mit 31,9 Prozent unten in der Skala. Eine Armutshochburg mit 25,7 Prozent ist ebenso das Land Berlin.
Zu den Leidtragenden zählen nach Angaben der Stiftung, insbesondere junge Menschen aus Haushalten mit alleinerziehenden Müttern oder Vätern sowie Familien mit drei oder mehr Kindern. Die aufwändige Sorge- und Betreuungsverantwortung mache es den Eltern häufig unmöglich, voll erwerbstätig zu sein, viele seien von Sozialleistungen abhängig. Das größte "Armutsrisiko" haben gemäß der Analyse Angehörige von Mehrkinderfamilien mit alleinerziehendem Elternteil. 86 Prozent dieser Gruppe gelten als "armutsgefährdet".
Sprache verschleiert Misere
Dabei trägt der Behördenjargon noch dazu bei, die Situation zu beschönigen. Begrifflichkeiten wie "armutsgefährdet" oder von "Armut bedroht" verschleiern die schlichte Tatsache, dass die fraglichen Menschen zum Betrachtungszeitpunkt einfach arm sind. Die dafür maßgebliche sogenannte Armutsschwelle bezieht sich auf Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) aller Haushalte beträgt. Für Einpersonenhaushalte lag die Grenze 2021 bei 1.148 Euro, bei Alleinerziehenden mit drei Kindern bei 2.410 Euro.
Die sprachliche Relativierung begründet etwa das Statistische Bundesamt damit, dass es sich bei Armut nicht um einen Dauerzustand handeln müsse. Wer heute wenig Geld habe, dem könne es morgen schon wieder besser gehen. Das stimmt zwar, erklärt aber nicht, warum Armut deshalb kein "Istzustand" sein soll. Zumal diese in Deutschland gerade durch die Rekordteuerungsraten bei Energie und Lebensmitteln ein seit Jahrzehnten nicht dagewesenes Niveau erreicht.
Wie aus dem Report hervorgeht, stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Hartz-IV-Haushalten leben, zuletzt zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder an und belief sich im Juni 2022 auf 1,9 Millionen oder 13,9 Prozent. Die Zunahme sei vor allem auf die aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen zurückzuführen.
Problemfall junge Erwachsene
Ein unterschätztes "Armutsproblem" bescheinigt die Bertelsmann Stiftung der Altersgruppe der zwischen 18- und 25-Jährigen. Während von den bis 18-Jährigen "nur" 20,8 Prozent im Jahr 2021 in Armut lebten, betraf dies unter den jungen Erwachsenen 25,5 Prozent. SGB-II-Leistungen beanspruchten von ihnen jedoch nur sieben Prozent.
Was überraschend anmutet, erklärt sich dadurch, dass der Personenkreis für gewöhnlich eine Ausbildung oder ein Studium absolviert und zum ersten Mal eine eigene Wohnung bezieht, hier greifen andere sozialstaatliche Maßnahmen – oder eben nicht.
So galten nach einer Mitteilung des Statistischen Bundesamts vom November 37,9 Prozent der Studierenden im Jahr 2021 als "armutsgefährdet". Eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands vom Mai 2022 hatte zudem ergeben, dass nahezu die Hälfte der Begünstigten von Bundesausbildungsförderung (BAföG) im Jahr 2020 von Armut betroffen waren.
"Wir reden hier nicht nur über Zahlen, wir reden über Menschen, die ausgegrenzt werden und Tag für Tag ums Überleben kämpfen", kommentierte am Donnerstag Heidi Reichinnek, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag die Neuigkeiten aus Gütersloh. "Denn Armut heißt gerade in Kombination mit der aktuellen Inflation, am Ende des Monats kein Essen mehr zu haben, die Heizung nicht anstellen zu können und von sozialer Teilhabe (...) ausgeschlossen zu sein."
Bertelsmänner zum Vergessen
Die Bundesregierung müsse hier "endlich umsteuern", bekräftigte die Politikerin, wobei die Einführung einer Grundsicherung ein wichtiger Schritt, aber nicht ausreichend sei, "denn Kinderarmut ist immer Armut der Eltern". Deshalb brauche es "gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf".
Zur Erinnerung: Die Bertelsmann Stiftung war eine treibende Kraft hinter der "Agenda 2010" von Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sowie im Speziellen der Hartz-Gesetze, mit denen der Niedriglohnsektor in Deutschland massiv ausgebaut wurde, haufenweise prekäre Beschäftigungsverhältnisse ohne soziale Absicherung entstanden und auf Jobverlust der rasche Absturz in Armut folgte. Damit wurde erst der Boden für die vielen Missstände bereitet, die die Bertelsmänner heute in immer neuen Studien "beklagen". Es gibt gewiss glaubwürdigere Kritiker.
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