Kinderlähmung bleibt Gefahr: Warum das RKI jetzt zur Polio-Impfung rät
Polio-Viren in Abwasser nachgewiesen. Sie könnten von Schluckimpfungen abgeleitet worden sein. Was passiert, wenn sie bei Ungeimpften zirkulieren?
Poliomyelitis, besser bekannt als Kinderlähmung, galt in Deutschland und anderen westlichen Ländern schon fast als ausgerottet. Der im März gestorbene US-Amerikaner Paul Alexander galt als letzter Mensch, der wegen der Krankheit in einer "Eisernen Lunge" leben musste, nachdem er sich 1952 als Sechsjähriger mit dem Virus infiziert hatte.
Doch vor wenigen hat die Ständige Impfkommission (Stiko) Eltern in Deutschland aufgefordert, den Impfstatus ihrer Kinder zu überprüfen. Denn Polio-Viren wurden in deutschen Klärwerken nachgewiesen – und zwar in sieben untersuchten Großstädten.
Zuerst seien beim Abwasser-Monitoring in München, Bonn, Köln und Hamburg Polioviren entdeckt worden, dann habe es auch in Dresden, Düsseldorf und Mainz positive Testergebnisse gegeben, teilte das Robert Koch-Institut (RKI) mit. Aktuell haben laut RKI nur 77 Prozent der Zweijährigen einen vollständigen Impfschutz.
Vom Schluckimpfstoff abgeleitete Viren
Doch wie besorgniserregend sind die Nachweise im Abwasser, wenn aktuell kein symptomatischer Polio-Fall in Deutschland bekannt ist?
"Generell zeigen Nachweise im Abwasser, dass es Menschen im Einzugsgebiet des Klärwerks gibt, die von der Schluckimpfung abgeleitete Polioviren ausscheiden", führte das Institut aus.
Nachweise von Impfviren im Abwasser seien zwar nicht ungewöhnlich – auch in Ländern, die keine Schluckimpfung mehr nutzen. In Deutschland wird laut RKI seit 1998 ausschließlich IPV-Impfstoff verimpft, durch Reisende seien aber schon mehrfach Impfviren nach Deutschland gebracht und im Abwasser nachgewiesen worden.
"Nachweise von zirkulierenden Schluckimpfstoff-abgeleiteten Viren (cVDPV) sind jedoch ungewöhnlich und können Menschen gefährden, die nicht ausreichend gegen Polio geimpft sind", warnt das Institut.
Bei längerer Virenzirkulation drohen Mutationen
Menschen, die vollständig gegen Polio geimpft wurden, sind sehr gut vor der Erkrankung geschützt. Allerdings könnten auch sie sich mit zirkulierenden Schluckimpfstoff-abgeleiteten Viren infizieren und diese ausscheiden, ohne daran zu erkranken.
Wenn diese abgeschwächten Viren lange Zeit unerkannt unter ungeimpften Menschen zirkulieren, können sie sich laut RKI genetisch verändern und schließlich wieder zu Erkrankungen führen.
An dem Virus erkranken Kinder bis zum Alter von etwa sechs Jahren besonders schwer. Aber auch ungeimpfte Erwachsene kann es hart treffen, wie die 2017 verfilmte Geschichte des Anwalts Robin Cavendish zeigt. Der 1930 geborene Brite hatte sich im Alter von 28 Jahren infiziert, starb 1994 und war die meiste Zeit seines Lebens schwer behindert.
Der Erreger befällt das Zentralnervensystem, führt zu unterschiedlich schweren Lähmungen einzelner Gliedmaßen oder des gesamten Körpers und in manchen Fällen zum Tod.
Überlebende wie Alexander und Cavendish waren lebenslang auf Beatmung angewiesen.