Klagewelle gegen Bayer-Konzern: Krebs durch Pestizide?

Erst Agrochemie, dann Chemotherapie? Eine Studie legt nahe, dass Ackergifte Krebs begünstigen. Symbolbild: Rhoda Baer / CC-PD-Mark

Mit steigender Sojaproduktion werden mehr Agrochemikalien gespritzt. Eine Studie legt nahe, dass deshalb mehr Kinder an Krebs sterben. Welche Daten noch fehlen.

Der verstärkte Einsatz von Pestiziden aufgrund des wachsenden Sojaanbaus geht mit mehr Todesfällen bei Kindern unter zehn Jahren einher – das legt eine aktuelle Studie aus den USA nahe, deren Ergebnisse in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht wurden.

Konkret untersuchte das Team um Marin Skidmore von der University of Illinois die Zunahme der Krebssterblichkeit bei Kindern unter zehn Jahren im Amazonas-Gebiet und in dem durch Feuchtsavannen geprägten Cerrado. In beiden Ökosystemen breitet sich der Soja-Anbau immer weiter aus. Zwischen 2008 und 2019 starben hier 123 Kinder an akuter lymphatischer Leukämie – der bei Kindern häufigsten blutbasierten Krebserkrankung.

Die Wissenschaftler sehen einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Expansion der brasilianischen Sojaproduktion und den Todesfällen bei Kindern durch Leukämie in der Region.

Für ihre Studie werteten die Wissenschaftler Gesundheitsdaten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten aus sowie Daten zu Landnutzung, Wasserquellen und Demografie. Der Pestizid-Einsatz sei in den Untersuchungsregionen 2000 bis 2019 um das Drei- bis Zehnfache gestiegen. Im genannten Zeitraum habe sich die Sojaproduktion im Cerrado-Gebiet verdreifacht, im Amazonas-Gebiet stieg sie um das Zwanzigfache. Die Autoren gehen davon aus, dass die Pestizide vor allem über das kontaminierte Flusswasser verteilt werden.

Weil die Hälfte der Menschen in den untersuchten Regionen auf Oberflächenwasser als Trinkwasserquelle angewiesen sind, untersuchten die Wissenschaftler auch Flusswasserproben. Im Ergebnis war die Anzahl der Todesfälle flussabwärts der Anbaugebiete höher als flussaufwärts. Dies deute darauf hin, dass der Abfluss von Pestiziden in das Oberflächenwasser eine Rolle spielt.

Zudem berücksichtigten sie die Entfernungen zu Krankenhäusern. Denn die Nähe zu einem Krankenhaus, das Krebstherapien für Kinder anbietet, würde die Sterblichkeit unwahrscheinlicher machen. Studienautorin Marin Skidmore betont, dass die Studie keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Pestizid-Exposition und Krebstodesfällen herstelle. Allerdings waren andere Risikofaktoren wie Alkohol- und Tabakkonsum oder auch Placebo-Effekte auszuschließen.

Untersucht wurden bisher stets die gesundheitlichen Auswirkungen von Pestiziden vor allem bei akuter hoher Dosierung in Labor- und Tierexperimenten bzw. bei Landarbeitern oder Erntehelfern, die Pestiziden länger direkt ausgesetzt waren. Wie sie sich auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken, war bislang kaum erforscht.

Weil in Brasilien der Sojaanbau innerhalb der vergangenen Jahre rasant zugenommen hat und Pestizide – primär Glyphosat – dort hochdosiert eingesetzt werden, untersuchten die Wissenschaftler in ihrer Studie die langfristigen Auswirkungen niedrigdosierter Pestizidbelastung auf die breite Masse der Bevölkerung.

Welches Pestizid für den beobachteten Anstieg der Todesfälle verantwortlich sein könnte, wird nicht konkret benannt. Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass sich die Einführung von genmodifiziertem Soja, insbesondere die Verwendung von Glyphosat, erhöht habe.

Deutsche Experten kritisieren Schwächen der Studie

Die Studienergebnisse sehen einen vielfach angenommenen, jedoch nie bestätigten kausalen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Glyphosat und dem Auftreten von akuter lymphoider Leukämie, kritisiert Daniel Dietrich vom Fachbereich Biologie an der Uni Konstanz.

Die in der Studie genannten 123 zusätzlichen Todesfälle seien statistisch nur knapp signifikant, bemängelt Jörg Rahnenführer von der Technischen Universität Dortmund. Um die Aussagekraft von Stichproben-Daten besser einschätzen zu können, wäre ein sogenanntes Konfidenzintervall wichtig gewesen.

Die Angabe präziser Zahlen sei bei solch großer statistischer Unsicherheit immer fragwürdig. Ein zweiter Kritikpunkt lautet: Anstatt den genauen Anteil des Gebietes zu benennen, der mit genmodifiziertem Soja bepflanzt wurde und welcher Anteil mit Glyphosat behandelt wurde und in welchen Mengen, hätten sich die Autoren auf Durchschnittswerte und übliche Mengen bezogen.

Matthias Liess vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung hält eine ursächliche Beziehung zwischen Pestizid-Einsatz und der Krankheitslast bei Kindern für plausibel. Der Ökotoxikologe begründet dies damit, dass flussabwärts des Sojaanbaus eine höhere Inzidenz als flussaufwärts beobachtet wurde.

Brasilien ist weltgrößter Absatzmarkt für riskante Pestizide

Im Agrar-Imperium Brasilien wird pro Hektar Land siebenmal mehr an gefährlichen Pestiziden ausgebracht als in der Europäischen Union. Jedes Jahr wird schätzungsweise mehr als eine halbe Million Tonnen Chemikalien versprüht. Dabei werden viele Mittel – darunter vor allem auch das umstrittene Glyphosat – hochkonzentriert genutzt. Demzufolge sind hochgefährliche Pestizide praktisch überall im Land verbreitet, konstatiert die konzernkritische Schweizer Organisation Public Eye.

Laut eigener Recherche stehen sieben der zehn meistgenutzten Substanzen im Land auf der Liste des Pesticide Action Network (PAN). Davon werden gigantische Mengen ausgebracht: Allein 2017 wurden 370 000 Tonnen versprüht, glaubt man den Statistiken des brasilianischen Umweltministeriums IBAMA. Besonders brisant: Ein Drittel der dort vermarkteten Pestizide sind in der Schweiz bzw. in der EU nicht zugelassen.

Es gebe wahrscheinlich keinen einzigen Menschen im Land, der nicht in einem gewissen Maße Pestiziden ausgesetzt sei, weiß Ada Cristina Pontes Aguiar. Werde nichts dagegen getan, riskiere man eine regelrechte Epidemie, warnt die medizinische Forscherin an der Universidade Federal do Ceará.

Chronische Krankheiten gefährden Kinder und Landarbeiter

Inzwischen zeigen mehrere Studien, dass die Zunahme von Krebs und anderen chronischen Leiden in Brasilien sehr wohl mit der exponentiellen Zunahme des Pestizideinsatzes zu tun hat. Eine Studie von 2022 bringt so genannte Organochlorpestizide (die meisten der untersuchten Gruppe von Pestiziden) mit erhöhten Krebsraten bei Kindern und Erwachsenen in Verbindung.

Bereits 2013 veröffentlichte das Journal of Toxicology and Applied Pharmacology eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur mit einer ganzen Reihe von Belegen, die hohe Pestizidexpositionen mit chronischen und teils tödlichen Krankheiten – wie verschiedenen Krebsarten, aber auch Diabetes, neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder amyotropher Lateralsklerose (ALS), angeborenen Fehlbildungen und Fortpflanzungsstörungen – in Zusammenhang bringen.

Weltgesundheitsorganisation und Toxikologen aus der ganzen Welt warnen teilweise seit Langem vor den katastrophalen Auswirkungen, die Pestizide auf die Umwelt, die menschliche Gesundheit und die Gesellschaft insgesamt haben.

Wenn Kinder in frühen und kritischen Entwicklungsphasen außergewöhnlichen Risiken ausgesetzt seien, könne dies für sie schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben: von Kopfschmerzen, Hautreizungen oder Übelkeit bis hin zu schweren Organschäden. Laut einem Report des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) von 2021 enden jährlich mindestens 11.000 Vergiftungsfälle tödlich. Betroffen sind vor allem Bauern und Landarbeiterinnen in den armen Ländern des globalen Südens.

Allerdings: Oft ist der kausale Zusammenhang zwischen Pestiziden und chronischen Erkrankungen nicht so einfach zu belegen, da die Symptome sich in der Regel erst nach vielen Jahren entwickeln und durch vielfältige Faktoren verursacht oder begünstigt werden.

USA: Kampf um Schadenersatz geht in die nächste Runde

Während in Brasilien an Krebs Erkrankte einen kausalen Zusammenhang mit Agrochemikalien möglichst zweifelsfrei nachweisen sollen, kämpfen Erkrankte in den USA bereits seit Jahren um Schadenersatz. Wie etwa der 83-jährigen Ernie Caranci, der Glyphosat für sein Krebsleiden verantwortlich macht und den Bayer-Konzern vor einem Gericht in Philadelphia verklagte.

Er bekam kürzlich 25 Millionen US-Dollar Schadenersatz sowie 150 Millionen Dollar Strafschadenersatz zugesprochen. Daraufhin kündigte Bayer an, dieses und ein anderes ähnliches Urteil anzufechten. Zuvor hatte der Konzern, der Glyphosat nach wie vor als ein "sicheres Mittel" verkauft, in neun Fällen gewonnen.

Seit Bayer 2018 mit 60 Milliarden Dollar Monsanto übernahm, brachte ihm der glyphosathaltige Unkrautvernichter Roundup jede Menge Ärger ein: Noch im selben Jahr setzte ein Urteil eine Klagewelle in Gang. 2020 legte Bayer ein milliardenschweres Programm auf, um den Großteil der Klagen – ohne Haftungseingeständnis – beizulegen.

Im Frühjahr sollen von inzwischen 154.000 angemeldeten Ansprüchen rund 109.000 verglichen worden sein oder die Vergleichskriterien nicht erfüllen. Mit einem extra dafür angelegten Budget von 6,4 Milliarden US-Dollar will Bayer die Vergleiche bestehender und künftiger Glyphosat-Klagen bestreiten.