Klare Kante an falscher Stelle: inhumanes Österreich?

Bild: Pixabay.com

Dass sich Österreich an der Aufnahme einer kleinen Zahl von Schutzbedürftigen aus Lesbos, unter diesen zahlreiche Kinder, nicht beteiligt, passt so gar nicht in das Bild des gemütlichen kleinen Nachbarn. Passt es doch. Denn im freundlichen Kleinstaat im Herzen Europas herrscht Wahlkampf

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Man stelle sich vor, Berlin hätte etwa 17 Millionen Einwohner, der Großraum Berlin gar 24 Millionen. Eine Megacity bzw. Metropolregion in der Größe von Los Angeles oder Shanghai. Das entspricht, übertragen auf Österreich, in etwa der Bevölkerungsverteilung: In Wien lebt mehr als ein Fünftel der Bevölkerung, im Großraum Wien fast ein Drittel.

Wien wählt Mitte Oktober, eine für Österreich relevante Wahl; das wäre in Deutschland mit einem 17-Millionen-Berlin auch der Fall. Derzeit wird im Alpenland unter anderem um rechte Wählerstimmen gekämpft. Denn nach dem Auseinanderbrechen der ÖVP-FPÖ Koalition aufgrund des sog. "Ibiza-Skandals" beherrschen strukturelle Schwächen samt Spaltungstendenzen den Polit-Alltag der FPÖ.

Die von Merkel über Seehofer bis Söder zurecht kritisierte unnachgiebige Haltung der österreichischen Regierung hinsichtlich der Aufnahme einer vergleichsweise geringen Anzahl schutzbedürftiger Familien und Kindern aus Moria kann damit zu einem Teil erklärt werden.

Das Rote Wien einst und heute

Wien wurde von Deutschland und anderen EU-Staaten mit einer Covid-19-Reisewarnung belegt. Es wurde auf der Corona-Landkarte zu einem "roten Wien". Unter völlig anderen Vorzeichen war es das bereits vor genau 100 Jahren, das "Rote Wien": ein ungeheurer politisch-kultureller Aufbruch nach dem Zusammenbruch des dysfunktional gewordenen Habsburgerreiches im Zuge des Ersten Weltkriegs.

Das Rote Wien, im Zeitraum zwischen 1919 und 1934, zeichnete sich u.a. durch sozialen Wohnbau in bis dahin ungekannten Dimensionen aus; die Erhöhung der Sozialbudgets um mehrere Hundert Prozent brachte nicht nur kostenlose Gesundheitsversorgung, sondern führte auch zur Halbierung der Säuglingssterblichkeit. Es waren die Jahrzehnte der großen Bildungsreformen, teils getragen und flankiert von wirkmächtigen Persönlichkeiten wie Sigmund Freud und Alfred Adler. Es war das Wien von Ludwig Wittgenstein und jenes des Wiener Kreises, einer Vereinigung deutscher und österreichischer Intellektueller verschiedenster Disziplinen, von Philosophie über Mathematik und Physik bis Nationalökonomie, von Moritz Schlick über Rudolf Carnap und Kurt Gödel bis Otto Neurath. Der einzige Kreis, den es in Wien heute noch zu geben scheint, ist das Rund der Covid-19-Ampel; das einstmals Rote Wien leuchtet heute in banalem Corona-Rot.

Die durch Covid-19 erzwungene Verlangsamung, bis hin zum Stillstand, macht zahlreiche politische Versäumnisse und viele Mängel sichtbar. Wie mit weggezogener Decke liegt Österreich da. Ein Land ohne nennenswerte strategische Entwürfe in Wirtschafts- und Technologiefragen und ohne substanzielle Reformpläne im Sozial- und Bildungsbereich, die gewichtige Zurüstungen für die Zukunft darstellten. Keine brisanten Ideen, geschweige denn programmatische Großtaten. Stattdessen ad hoc-Maßnahmen und verwaltungstechnische Scharmützel.

Österreich und der hybride Populismus

Wie in zahlreichen anderen Staaten wird heute auch in Österreich Politik immer häufiger mit herabgesetzter Wahrheitsfähigkeit gleichgesetzt. Das Denken in Feindbildern lebt seit der Flüchtlingskrise von 2015 wieder auf, Stereotype bleiben überaus stark verankert. Positionen einer Partei werden bis zur inhaltlichen Schmerzgrenze mit populistischen Versatzstücken anderer Parteien aufgeladen, sprachlich umcodiert und gewaltsam in die je eigene Parteilinie gezwängt.

Dabei gründet der hybride Populismus auf einer polymorphen Struktur. Elemente divergierender politischer Ausgangspositionen werden zu einer Mischposition synthetisiert. Je nach soziopolitischer Opportunität und wirkungspsychologischer Erwartungshaltung finden sich darin inhaltliche Teilaspekte übernommen und vermengt. Er ist eine Verkörperung von vollkommen variablem, situationsbezogenem Eintreten für beliebige Teile der Gesellschaft, passend für alle Diskursräume. Hybrider Populismus tritt auch zutage, wenn Politiker kein Problem darin sehen, offene Widersprüche in einen Satz zu verpacken, überzeugt davon, Wahres zu verkünden - ein elendes Schauspiel, das fast täglich wie eine Belästigung aus Washington in die Welt gezwitschert wird.

Darüber hinaus äußert sich populistische Hybridität im Amalgamieren von Partei, politischem Programm und Bewegung zu einer Leitfigur, als Überidentifikation und Überpersonalisierung. Das gab es in der politischen Geschichte immer wieder. Neu ist, dass das Politprogramm flexibel geworden ist, flüssig, variabel, biegsam, austauschbar. Und sogar jene Worte, die am Wahlabend "mit großer Demut" gesprochen werden, sind gleichgültig, wenn nur die Bilder stimmen.

Walzer der Folgenlosigkeit

Dass in Österreich aus zahlreichen Ressorts, von Corona abgesehen, kaum Themen nach außen drangen, ist zum einen nicht verwunderlich. Zum anderen offenbart es jedoch auch die Tatsache, dass im Alpenland seit bald einem Jahrzehnt an sich wenig Inhaltliches vorliegt. Kaum gewichtige Programme, denkwürdige Visionen oder unkonventionelle Konzepte, die erarbeitet worden wären, um nun zu rascher Umsetzung zu gelangen. Österreich, der kleine Staat ohne Plan B, mit Spontanpolitik aus dem Augenblick heraus.

Bis dato schien Österreich eine Art Präzedenzfall für Konsequenzlosigkeit zu sein. Fast ununterbrochen wurde der "Walzer der Folgenlosigkeit" getanzt; geübt und perfektioniert in Jahrhunderten der fatalen Habsburger-Monarchie. Das könnte sich in Zeiten wie diesen ändern, wenn die Alpenrepublik sich in der EU zunehmend isoliert und sich zusätzlich zur pandemischen auch in eine Polit-Quarantäne setzt.

"Österreich ist eine Insel der Seligen", bemerkte Papst Paul VI. bereits im Jahre 1971. Und Österreich nahm diese Höflichkeit begierig ernst. Doch Herodot und Pindar schilderten die Insel der Seligen ganz anders: Diese läge im Ozean, irgendwo am Westrand der Erde; auf ihr lebten die von den Göttern mit besonderer Gunst bedachten Helden glückselig vor sich hin. In diesem Bild des elysischen Deliriums fühlte sich Österreich viele Jahre hindurch vollumfänglich erkannt und adäquat gewürdigt.

Schattenboxen gegen die EU

Doch jeder Trip ist irgendwann zu Ende, auf das Delirium folgt der Turkey. In der Außenpolitik mangelt es mittlerweile seit Jahren, abgesehen von vermarktbarer Ein-Satz-Flüchtlingspolitik, an gerichteter Aktivität und strategischer Planung. Keine wertvollen Zurufe für die Weltprobleme mehr, die zumindest in den weltpolitischen Diskurs einfließen könnten. Jetzt ist die Leitung tot.

Österreich wird auf europäischer Ebene mit Lächerlichkeiten, wie dem populistischen Agitieren als Teil der "sparsamen Vier" assoziiert, einem offenkundigen Schattenboxen gegen die EU, um innenpolitisches Kleingeld zu sammeln. Nun kommt sogar noch das Element der Hartherzigkeit gegenüber schutzbedürftigen Kindern hinzu. Klare Kante an falscher Stelle, ein wahres PR-Desaster.

Auch die Wissenschaftspolitik arbeitet sich, anstatt belangvolle, weit in die Zukunft reichende Entwürfe zu entwickeln, primär an der Fehlentscheidung "Bologna-System" ab. Österreichs Universitäten träumen höchstens noch vom humanistischen Bildungsideal humboldtscher Prägung. In der Praxis wurden sie bereits zu Ausbildungscentern für die Wirtschaft degradiert. Visionen? Fehlanzeige.

Die Kultur, stets Trägerin und Transmitter von Identität, liegt am Boden und röchelt. Als geistiges Hintergrundleuchten in einer Gesellschaft absolut unverzichtbar, fristet sie, trotz neuen Staatssekretariats, nach wie vor ein Schattendasein in der aktuellen Koalition aus ÖVP und Grünen. Eine Branddecke der Ignoranz droht alles Kulturelle zu ersticken. Dennoch hält die Koalition der grassierenden kulturellen Hungersnot nur wenig mehr als punktuelle Almosen entgegen.

Dahinschmelzende Ideen

Grüne Impulse und Visionen schmelzen unter den Sachzwängen koalitionären Wohlverhaltens derzeit wie Eisberge auf dem Weg zum Äquator. Und selbst die Rechten Österreichs wirken nach dem Ibiza-Skandal wie um sich schlagende Ertrinkende, die in Wien mit populistischen Spaltbildern wieder einmal die gefährliche, große Hinwendung an das Volk versuchen; so als fokussierten sie nur noch auf die Zielgruppe der Apolitischen und Desinformierten.

Dass die Sozialdemokratie, u.a. aufgrund ihres nicht stattfindenden Erneuerungsprozesses, nicht in der Lage ist, aus diesem österreichischen Ideenvakuum zu profitieren, ist genau genommen eine Schande für eine ideologiehistorisch so überreiche Partei. Falls die SPÖ auf Bundesebene jemals wieder Lust verspüren sollte, in der inhaltlich entleerten Politlandschaft Regierungsverantwortung zu übernehmen, erschiene ein umfassender Erneuerungsprozess samt Führungswechsel unumgänglich.

K(r)ampf um Wien

Der Wiener Wahlkampf verläuft seltsam unaufgeregt, mit Verbalradikalismen hier und da, wie ungemütliches Kaffeetrinken in der Sackgasse. Kaum ein Slogan der Sinn oder Mut machte; der artikulationsfähige Teil der Gesellschaft scheint keine politische Zielgruppe mehr zu sein.

"Wenn wir klar denken, müssen wir uns umbringen", sagt Bruscon, der Theatermacher des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard. Sollte diese Methode des geistigen Überlebens nicht zumindest metaphorisch in Betracht gezogen werden?

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler. Sein neuer philosophischer Essay "Uneigentlichkeit" erschien 2020 im Verlag Königshausen & Neumann.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.