Klassenkampf 4.0: Wie Digitalisierung die Überwachung am Arbeitsplatz befeuert

Chip in Form eines Vorhängeschlosses / Kontake zeichnen Arbeiter

Digitalisierung ermöglicht Unternehmen die Überwachung von Beschäftigten. Neue EU-Regeln zur KI sollen schützen. Doch was passiert in der Praxis?

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben in diesem Jahr die Verordnung für Künstliche Intelligenz (EU-KI-Verordnung) einstimmig gebilligt. Kaum veröffentlicht, wurde die Verordnung gelobt: "Heute ist ein guter Tag für Innovationen und Grundrechte in Europa", begrüßte Bundesjustizminister Marco Buschmann die Neuerung.

Die Wirkung für die Beschäftigten wird eher begrenzt sein. Zwar müssen die Unternehmen eingesetzte KI-Software in Risiko-Kategorien einsortieren.

Vor der Nutzung eines Hochrisiko-KI-Systems am Arbeitsplatz müssen Arbeitgeber die Arbeitnehmervertreter und betroffenen Arbeitnehmer informieren.

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Und: Social Scoring mithilfe KI und Emotionserkennung am Arbeitsplatz soll so untersagt sein. Jetzige Meldungen erinnern an erste Meldungen zur EU-Grundverordnung zum Datenschutz. Auch diese wurde als Durchbruch bezeichnet, sollte die Belegschaften vor Überwachung schützen. Dass rechtliche Ansprüche nicht immer zu Veränderungen im betrieblichen Alltag führen, zeigen aktuelle Beispiele.

Bewerber sind über Google-Recherche zu informieren

Dass Datenschutz sehr komplex ist, zeigt allein der Umfang der EU-KI-Verordnung. Sie umfasst 460 DIN-A4-Seiten, davon 260 Seiten Gesetzestext, 40 Seiten Anhänge und 160 Seiten Erwägungsgründe. Der Datenschutz beschäftigt deshalb auch Gerichte. Ein Beispiel betrifft Bewerber auf eine freie Stelle.

Unternehmen dürfen im Rahmen eines Bewerber-Auswahlverfahrens Informationen mit Google einholen. Allerdings haben Personalabteilungen die Pflicht, die gegoogelten Personen über diese Datenverarbeitung zu informieren – so das Landesarbeitsgericht Düsseldorf.1

Der Kläger bewarb sich auf eine befristete Stelle als Volljurist an einer Universität. Neben der rechtlichen Beratung umfasste die Position u.a. auch die AGG-Beschwerdestelle. Während des Auswahlverfahrens merkte ein Universitätsmitarbeiter an, dass ihm der Name des Klägers bekannt vorkäme, woraufhin eine Google-Recherche ergab, dass der Kläger erstinstanzlich wegen versuchten Betrugs in mehreren Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung verurteilt wurde.

Über die Google-Recherche wurde er vorher nicht informiert. In den angeklagten Betrugsfällen wurde dem Kläger hauptsächlich vorgeworfen, Bewerbungen fingiert zu haben, um Entschädigungszahlungen nach AGG wegen Diskriminierung vom Unternehmen einzufordern. Die Universität hielt nach Durchführung der Auswahlgespräche eine andere Bewerberin für geeigneter und lehnte den Kläger ab.

Bund-Verlag

Das Gericht sah die Verarbeitung der Daten aus der Google-Recherche als rechtmäßig an. Jedoch hätte der Kläger darüber informiert werden müssen. Da dies unterblieben ist, steht ihm eine Entschädigung zu, so das LAG. Wie der Beschäftigte an diese Informationen gelangen kann, lassen die Richter offen. Und machen so deutlich: hohe Ansprüche werden beim Datenschutz formuliert, die Durchsetzbarkeit aus Sicht der Beschäftigten ist in der Praxis kaum möglich.

Freiwilligkeit, "Einwilligung einholen" – aber was passiert in der Praxis?

Denn die Überwachung im Betrieb ist datenschutzrechtlich keineswegs verboten. Es gibt zwar eine Reihe von Vorschriften, an die sich Unternehmen halten müssen. So muss das Unternehmen sicherstellen, dass personenbezogene Daten ganz allgemein technisch und organisatorisch sicher gespeichert und verarbeitet werden können.

Unternehmen sind verpflichtet, die Belegschaft über ihre Rechte hinsichtlich der Speicherung und Verarbeitung ihrer eigenen Daten zu belehren. Dies kann zum Beispiel über eine dem Arbeitsvertrag beigefügte Datenschutzbelehrung erfolgen.

Dabei sind neben der EU-KI-Verordnung folgende Vorgaben bedeutsam:

Seit dem 25.05.2018 regelt den Datenschutz EU-weit die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Es besteht grundsätzlich ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (Art. 6 DSGVO).

Daneben gilt das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), das zum 25. 5. 2018 ebenfalls in neuer Fassung erlassen wurde. Den Datenschutz im Arbeitsverhältnis regelt § 26 BDSG. Die Vorschrift bestimmt, wann eine Datenverarbeitung für die Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses zulässig ist.

Personenbezogene Daten dürfen in den gesetzlich zugelassenen Fällen oder mit Einwilligung der betroffenen Person verarbeitet werden. Die "Einwilligung" setzt ein Handeln des Beschäftigten voraus, rechtlich betrachtet als freiwillige Zustimmung. Das Bundesdatenschutzgesetz sieht dazu eine Regelung in § 26 vor:

Datenverarbeitung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses

(2) Erfolgt die Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten auf der Grundlage einer Einwilligung, so sind für die Beurteilung der Freiwilligkeit der Einwilligung insbesondere die im Beschäftigungsverhältnis bestehende Abhängigkeit der beschäftigten Person sowie die Umstände, unter denen die Einwilligung erteilt worden ist, zu berücksichtigen.

Freiwilligkeit kann insbesondere vorliegen, wenn für die beschäftigte Person ein rechtlicher oder wirtschaftlicher Vorteil erreicht wird oder Arbeitgeber und beschäftigte Person gleichgelagerte Interessen verfolgen.

Die Einwilligung bedarf der Schriftform, soweit nicht wegen besonderer Umstände eine andere Form angemessen ist. Der Arbeitgeber hat die beschäftigte Person über den Zweck der Datenverarbeitung und über ihr Widerrufsrecht nach Art. 7 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2016/679 in Textform aufzuklären.

Der Gesetzeswortlaut, juristisch erläutert, zeigt ein hohes Schutzniveau:

Der Gesetzgeber sieht die Freiwilligkeit vor, es gibt aber auch Ausnahmen.
Eine Einwilligung kann der Beschäftigte nicht "einfach mal so" erklären; es sind verschiedene Voraussetzungen erforderlich: Schriftform, Information über Zweck der Datenverarbeitung und die Information über ein Widerrufsrecht.

Aber es gibt auch Ausnahmen, denn es wird es in der Praxis schwierig, die zahlreichen Datenerhebungsszenarien, die inzwischen möglich sind, in Schriftform abzubilden. Etwa die Selbsteingabe durch die Beschäftigten oder Bewerber in eine Personalsoftware.

Der ausführliche Passus des Datenschutzgesetzes zur "Einwilligung" spielt jedoch in der Praxis nur in Ausnahmefällen eine Rolle. Denn meist nehmen Betroffene die Auswertung von Daten hin, widerrufen eine gegebene Zustimmung auf Furcht vor negativen Folgen im Verhältnis zum Vorgesetzten nicht. Auch können sich Unternehmen darauf berufen, dass "besondere Umstände" vorliegen, durch die auf eine schriftliche Zustimmung verzichtet wird.

Überwachung am Arbeitsplatz: Rechtsfragen sind Machtfragen

Dass Rechtsfragen immer auch Machtfragen sind, zeigt eine Entscheidung aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Konkretes Thema ist die Dauerüberwachung am Arbeitsplatz – oder anders formuliert: der "gläserne Arbeiter".

Hochaktuell sind diese Fragen zum Beschäftigtendatenschutz, da die Digitalisierung in den vergangenen Jahren einen enormen Schub erhalten hat.

Die Arbeit mit mobilen Endgeräten führt zu einer enormen Verschärfung des Arbeitsdrucks. Jeder Schritt kann überwacht werden; Arbeiter sind stets lokalisierbar und beobachtbar. Die kann ein Arbeiter in der Logistik, eine Pflegerin, die Sachbearbeiterin am Workflow-System im Homeoffice oder der Haustechniker sein.

Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund zunehmender Kontrolle der Beschäftigten. Wenn die Produktion der Industrie 4.0 als großes Netzwerk organisiert wird, wirkt das direkt auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht den Unternehmen eine dauernde Überwachung der Arbeitsleistung und des Verhaltens der Beschäftigten.

Datenschutzvorgaben müssten hier klar aufseiten der Beschäftigten sein, wenn Schutz-Mechanismen an erster Stelle stehen. Ein klarer Interessengegensatz zwischen "Kapital" und "Arbeit": Unternehmen möchten die Kontrolle, jederzeitige Ortbarkeit; die Beschäftigten dagegen ein Arbeiten ohne Angst vor Überwachung.

Die Position des Verwaltungsgerichts Hannover ist klar auf einer Seite: Es lässt die "ununterbrochene Erhebung" von Leistungsdaten der Arbeiter zu, so das Urteil vom 09.02.2023.2 Ein Ausliefer-Lager eines amerikanischen Online-Unternehmens setzt Handscanner ein, die ununterbrochen die Wege der Beschäftigten verfolgen und begründet dies mit der Steuerung der Logistikprozesse.

Die Datenschutzbehörde hielt den Einsatz für datenschutzwidrig und untersagte die minutengenaue Überwachung. Gegen den Bescheid klagte das Unternehmen – und bekam vom Gericht Recht.

Angesichts der Datenmengen, die als "Big Data" heute Kontrolle pur ermöglichen, macht dieses Urteil deutlich: Klassenjustiz ist kein Thema für Geschichtsbücher. Die Mehrheit der Medien blendet dieses Thema aus.

In Feuilleton schreiben zwar Zeitungsredaktionen vom Arbeitermilieu in Nordfrankreich, sind begeistert von Didier Eribons Bestseller "Rückkehr nach Reims". Fasziniert begleiten Rezensenten den Autor zurück in sein proletarisches Herkunftsmilieu, der Leser erlebt, wie Eribon sich mit Fleiß in die Bourgeoisie hocharbeitet.

Die Arbeiterklasse wird wiederentdeckt, ein Sammelband zu "Klasse und Kampf" wird publiziert. Aber wie ein Großteil der Beschäftigten heute arbeitet, wie mit modernen Managementmethoden Druck aufgebaut wird und das Arbeitsrecht in entscheidenden Situationen die Unternehmensvertreter schützt, bleibt außen vor.

Denn Datenschutz hat in Unternehmen eine große Bedeutung. Versuchen Betriebsräte zu ermitteln, mit welchen Produkten die höchsten Gewinnmargen erzielt werden, werden Informationsanforderungen mit dem Hinweis auf "Betriebsgeheimnisse" abgelehnt. Will der Betriebsrat erfahren, welche Beschäftigten wegen Krankentagen vom Vorgesetzten unter Druck gesetzt werden, argumentieren Personalabteilungen mit Datenschutzbedenken.

Unternehmen versuchen, gemeinsame Gegenwehr zu verhindern

Individualrechtlich haben die Beschäftigten schlechte Chancen. Nur in Gemeinschaft können sie ihre Rechte durchsetzen, ist vielen klar. Über gewerkschaftliche Organisation und das Agieren über den Betriebsrat.

Aktive stoßen dabei häufig auf Widerstand: Die geplante Gründung von Betriebsräten führt oft zu Drohungen der Unternehmen. Das ergab eine Befragung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). Für die Untersuchung wurden Gewerkschafter aus 131 regionalen Gliederungen befragt.

Das Ergebnis: jede fünfte Gründungswahl wurde gestört, davon knapp die Hälfte gänzlich verhindert. Die Befunde bestätigten Erkenntnisse aus früheren Befragungen.

Gestört werden können Betriebsratswahlen durch Einschüchterungen oder die Kündigung von Kandidaten mithilfe von Anwaltskanzleien, die auf dieses "Union Busting" spezialisiert sind. Versuchen Unternehmen, die Arbeit des Betriebsrats zu stören oder gar zu verhindern, ist dies strafbar. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht Strafen von Bußgeldern bis zum Gefängnisaufenthalt vor.

Dass dies ein überschaubares Risiko ist, ist für Unternehmensverbände selbstverständlich. Nach Nachfrage der Tagesschau angesichts der aktuellen WSI-Zahlen verwies die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) darauf, dass bei den Staatsanwaltschaften nur wenige Verfahren zur Behinderung von Betriebsratsarbeit aufliefen.

"Die Behauptung erinnert eher an das Ungeheuer Loch Ness: Viele wollen es gesehen haben, nur entdeckt hat es bisher niemand", ist die zynische Reaktion in einer Stellungnahme.

Die BDA macht klar: Forderungen der Gewerkschaften nach einer bundesweiten Sonderstaatsanwaltschaft, die in diesen Fällen aktiv werden soll, können Unternehmen nach den bisherigen Erfahrungen gelassen entgegensehen.