Klima und Rassismus

Seite 3: Ein gestörtes Beziehungsgeflecht

Weil wir unsere Beziehungen zu den Menschen südlich unseres Vorstellungsvermögens von einer hochmütigen und aggressiv-diebischen Warte her definieren, tragen wir jeden Tag zu ihrem, aber auch zu unserem Untergang bei, solange wir diese so einfältige wie selbstzerstörerische Basis unseres eigenen Lebens nicht begreifen – und verändern.

Alle Untersuchungen zu den Klimaveränderungen der letzten Jahrhunderte bleiben, bei aller empirischen und theoretischen Akribie, ohne Berücksichtigung der Variable "menschliche Beziehungen" als ursächliche und weiterwirkende Triebkraft der Klima-Zerstörungs-Konstante, vordergründig: Rückt sie nicht in den Fokus, wird das notwendige globale Gegensteuern keinen Erfolg haben.

Erst ein systemischer Ansatz, der alle an den "menschengemachten Klimaveränderungen" beteiligten Prozesse, also auch die globalen Beziehungsmuster und die Ursachen, Bedingungen und Folgen ihrer Störungen, integriert, öffnet hoffnungsvolle und zukunftsweisende Perspektiven: Ohne Verständnis für sie sind die kleinsten klimatischen Veränderungen, ist selbst das Aussterben einer einzigen Libellenart nicht wirklich aufzuklären und aufzuhalten. Hinlänglich bekannte Mechanismen, die das Beziehungsgefüge zwischen den Bewohnerinnen des Erdballs zerrüttet haben, sind (komprimiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

- Raub von Bodenschätzen und Über-Boden-Schätzen, von Land und Erfahrungswissen;

- exzessive Nutzung, also Ausbeutung, von natürlichen und menschlichen Ressourcen;

- kriegerische Gewalt als Mittel von Raub und Ausbeutung;

- Zerstörung und Raub von kulturellen Reichtümern (einschließlich Sprache und Geschichte), Lebensformen und akkumuliertem Erfahrungswissen;

- ideologische Okkupation in globalem Ausmaß durch neoliberale und pseudohumane Werteorientierungen;

- tief verankerte, über viele Generationen gewachsene rassistische Grundhaltung;

- Externalisierung der produktiven und konsumtiven Verdauungsprodukte, also Abladen der Exkremente sie Schadstoffe, Müll und Schrott aller Art.

Dieses Horrorszenario hat sich im Laufe der Jahrhunderte zur Klima-Zerstörungs-Konstante verdichtet, die zu der Unwucht der klimatischen Prozesse, die heute der Menschheit – neben den Atomwaffen – zur größten Bedrohung geworden ist, ihre zerstörerische Energie liefert.

Sie verbindet die interaktiven Prozesse innerhalb der natürlichen und menschengemachten Kreisläufe, also die weltumspannenden sozialen Beziehungen, mit den übrigen hinlänglich bekannten Ursachen der Klimaveränderung.

Klima-Wissenschaft

Mit der KZK wird die Geschichte der klimatischen Störungsdynamik auf die Ebene der Beziehungen zwischen den Menschen auf den Planeten herunter gebrochen. Auf sie wird in den letzten Jahren zwar offener und häufiger hingewiesen, ihre wirkliche Brisanz auch für die BewohnerInnen der Nordhalbkugel gelangt aber nicht in das Bewusstsein öffentlicher, geschweige denn politischer und ökonomischer Debatten: Die so banale wie grausige Erkenntnis, dass der Verhaltensmodus, der kolonialistisch fundiert, imperialistisch abgesichert und rassistisch getragen ist, in Erderwärmung und Artensterben mündet, hat auch die Klima-Wissenschaft bisher kaum erreicht.

Seit mehr als fünfzig Jahren warnen Wissenschaftler kompakt und öffentlichkeitswirksam vor der Klimakatastrophe. Sie stellen Diagnosen über den Zustand des Globus, über seine Zukunft und die der auf ihm existierenden Lebewesen, und sie machen konkrete Vorschläge für die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen, die den Planeten, einschließlich seiner pflanzlichen, tierischen und humanen BewohnerInnen, vielleicht retten könnten.

Die Gründung des Club of Rome 1968 und sein erster Klimabericht von 1972 waren so etwas wie der erste Warnschuss nicht nur an die verantwortlichen Politiker:innen und Konzernmanager:innen, sondern an all die Menschen, deren Energie- und Ressourcenverbrauch Weltklima und globale Gesundheit gefährden. Die TeilnehmerInnen der ersten Weltklimakonferenz 1979 bündelten viele Forschungsergebnisse, sie fassten über Jahrzehnte hin gewonnene Erkenntnisse über Klimawandel, Klimakrise, Klimakatastrophe zusammen, ergänzt durch neuere und neueste Erkenntnisse, die von der ökonomischen Logik der industriellen Produktion und ihren Folgen geradezu aufgedrängt wurden. Das gesammelte Wissen wurde zu einer epochalen Warnung an die Weltgesellschaft verdichtet.

Die 1979 erarbeitete Agenda einer unverzichtbaren Reduzierung von Treibhausgasen war wissenschaftlich so stichhaltig begründet, dass sie in den nachfolgenden Jahrzehnten zur Forschungs- und Handlungsgrundlage der meisten einschlägigen wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen wurde, die immer überzeugender den drohenden Klimakollaps belegen konnten.

Rein rechnerisch hatten sie eine Gleichung mit vielen Unbekannten zu lösen, viele Daten sind inzwischen mehr oder weniger exakt vermessen. Auf empirisch solider Grundlage haben 14.000 Wissenschaftler im August 2021 noch einmal nachdrücklich bei den politischen Verantwortlichen angemahnt, die globalen Veränderungen des Klimas ernstzunehmen und ohne weitere Zeitverzögerung gegenzusteuern, nur so sei die große Katastrophe noch abzuwenden, für die es viele Szenarien gibt, die nicht nur verheerend klingen, sondern es sind, wie viele sogenannte "Naturkatastrophen" zeigen.

Differenzierte Klimamodelle von einschlägigen Forschungsinstituten und viele aktive ForscherInnen liefern fundierte Erkenntnisse aus ihren je spezifischen Bereichen, die sich zu einem Gesamtbild ergänzen, das allen, deren Gehirne noch nicht von Pestiziden durchseucht oder durch Sauerstoffmangel geschrumpft sind, Schauer über die Rücken jagt, weil sie verstehen, dass sie auf einem Vulkan tanzen, der schon Feuer zu spucken beginnt.

Alle Erkenntnisse und Einsichten stimmen irgendwie, und doch wird in den noch so fundierten Forschungen, bis hin zu den klimatischen Kipppunkten, nicht bis zu den Wurzeln der Zerstörung des Planeten Erde gegraben.11

Dieser argumentative Verkürzungsmodus ist nicht dem wissenschaftsimmanenten Umstand geschuldet, dass Klimaforscher und -mahner bedauerlicherweise die eine oder andere Einzelheit übersehen können, sondern ein systematisches und systemisches Defizit, das wissenschaftliche Intervention als roter Faden durchzieht12:

Aus ihren Modellen eines globalen Ökosystems, in dem alles mit allem zusammenhängt und Störungen von Teilsystemen das Ganze bedrohen können, haben die ForscherInnen und MahnerInnen die menschlichen Beziehungen, also die besonderen Interaktionsmuster zwischen den BewohnerInnen der Nord- und denen der Südhalbkugel, als wichtigsten Faktor, als das "Sesam-öffne-Dich" in eine Welt ohne die Bedrohung durch eine klimatische Apokalypse, ausgeklammert.

Solange kenntnisreiche klimaschützende WissenschaftlerInnen sich darauf beschränken, Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe wie die Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen in den Industrieregionen einzufordern, verschonen sie den rassistisch-kolonialistischen Lebensstil weiterhin, wie seit Jahrhunderten gewohnt, und erweisen dem Kampf gegen den Klimakollaps letztlich einen Bärendienst.

Erst wenn die erste und wichtigste Forderung lautet, "das Übel bei der Wurzel packen", also die Ursachen des klimatischen Selbstmordes, die menschenverachtenden Maximen des Kapitalismus "radikal" zu beseitigen, wird es vielleicht gelingen, das Leben auf der Erde nicht zu einem Desaster werden zu lassen, dessen Imponderabilien vorzustellen keine Phantasie ausreicht.