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Klimawandel und Kapitalismus: "Nicht mehr blind dem Markt vertrauen"

Interview mit dem "grünen" Finanzinvestor Jochen Wermuth über Maßnahmen gegen die "Ausrottung der Menschheit"

Jochen Wermuth ist bekannt für Investitionen in ökologische und klimafreundliche Unternehmen ("der radikalste Öko im Bunde", Manager-Magazin [1]). Er spendete erhebliche Summen für die Grünen [2] und er berät die Bundesregierung im Rahmen des "Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung" (KENFO [3]). Telepolis sprach mit ihm.

Herr Wermuth, wir sind in Berlin-Mitte. Wie finden Sie die Luft hier?
Jochen Wermuth: Schlechter als auf dem Land, aber gut für eine Großstadt.
Was motiviert Sie zu handeln?
Jochen Wermuth: Meine Frau und mich treibt es an, zur Eindämmung des Klimawandels möglichst viel Kapital zu bewegen. 6 Prozent der 16 Billionen Euro auf EU Girokonten an Eigenkapital reichen, um den globalen Klimawandel zu stoppen.
Die globalen Klimaprobleme sind auch Auslöser für Flucht. Wir haben die große Chance, die Geflüchteten jetzt aufzunehmen, zu integrieren und sie in das Handwerk der Energie-, Verkehrs-, Agrar-, Bau- und Finanzwenden einzuweisen. Dieses Know-how können sie dann in ihre Heimatländer bringen. So können wir die nachhaltige Wirtschaft exportieren und weltweit Wohlstand, Demokratie und Frieden stiften.
Der Erfinder des Energieeinspeisegesetzes, Hermann Scheer, sagte: "Ich bin nicht für Wind und Solar, sondern für Demokratie. Wenn jedes einzelne Haus der Welt sein eigenes Solarpanel auf dem Dach hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man von russischen Gaspipelines, saudischen Öltankern oder amerikanischen Flugzeugträgern zu deren Schutz abhängig ist, viel geringer. Dank dezentraler lokaler erneuerbarer Enerigieversorgung ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich mehr Demokratie und mehr Wohlstand durchsetzen."
Von den Lobbys wird viel Geld ausgegeben, um Energie mittels Öl, Gas und Kohle am Leben zu erhalten, obwohl Solarenergie viel billiger ist. In Dubai, in Houston-Texas, in Chile, in Mexiko wird Solarenergie für zwei Cent pro Kilowattstunde gefördert. Erst wenn der Ölpreis auf vier Dollar pro Barrel fallen würde, könnte man aus diesem Barrel Öl genauso billig Strom produzieren. Da der Preis gerade bei 60 bis 70 Dollar pro Barrel liegt, ist der mit Öl produzierte Strom zwölf Mal so teuer wie der Solarstrom.
Es gibt die Tipping Points [4]. Wenn wir die überschreiten, läuft der Zerfall der Umwelt und damit der Lebensgrundlage der Menschheit unaufhaltsam weiter, egal, was wir dann noch machen. Wir sind dabei, einige heute zu reißen, bei anderen sind wir höchstens noch zwei, drei Jahre entfernt. Es gilt also, sofort und kompromisslos zu handeln.
Grönland ist nur ein Beispiel. Der grönländische Eisschild ist eine dreikilometerdicke Eisschicht, die auf einem Felsuntergrund aufliegt. Die Spitze dieses Eisbergs liegt heute noch in sehr hohen, kalten Luftzonen, weit über der klimatischen Schneegrenze, oberhalb derer mehr Schnee fällt als abtaut und die Eisbildung, oder wenigstens den Erhalt des Eisvolumens, ermöglicht. Wenn jetzt durch die Erderwärmung, die vor allem im Polargebiet schon weit über vier Grad liegt, anhält, schmilzt der Eisschild ab [5].
Beim jetzigen Masseverlust des Gletschers sinkt auch die Spitze des Eisschilds in niedrigere, wärmere Luftzonen, in denen das Eis dann unaufhaltsam weiter schmilzt, egal ob wir in zehn Jahren die CO²-Emissionen und die Erderwärmung noch bremsen. Wenn der Eisschild auf Grönland erst einmal abgeschmolzen ist, haben wir allein aus diesem Grund sieben Meter höhere Meeresspiegel und Milliarden von Flüchtlingen. Damit wären zwei Drittel der heutigen Behausungen der Menschheit überflutet. Dann hätten wir nicht Millionen von Geflüchteten, sondern Milliarden.
Wie könnten Sie Ihren persönlichen ökologischen Fußabdruck noch grüner machen?
Jochen Wermuth: Ich versuche, Elektroautos in ein Sharing-System einzubauen, aber es fehlt die Skalierung. Wir haben im Moment nur ein Elektrotaxi in Berlin, bräuchten aber hundert. Elektromobilität zu teilen, ist essenziell.
Ich sollte auch noch weniger Fleisch essen. Ich sollte mich dafür einsetzen, dass wir Tegel offenhalten. Nicht als Flughafen, sondern als Infrastruktur für den Hyperloop [6]. So eine Hochgeschwindigkeitskapsel fährt mit einem Achtel der Energie eines Flugzeuges und mit 1000 Stundenkilometern, wodurch wir die Flüge in Europa ersetzen könnten. Ich bewege mich eigentlich nur noch in Europa, kaum mehr interkontinental und versuche eher, Videocalls zu machen.

"Der Wirtschaft Schranken setzen"

Die Fridays-for-Future-Bewegung fordert einen Systemwechsel. Ist diese Forderung realistisch?
Jochen Wermuth: Ziel muss es sein, dass man nicht mehr blind dem Markt vertraut. Das führt zu monopolistischen Strukturen wie Google, Amazon oder Facebook, die dann auch politischen Einfluss haben. Wir müssen als Bürger wach sein und der Wirtschaft Schranken setzen.
Ich habe allerdings noch kein besseres System gesehen als das, in dem es unabhängige Presse, unabhängige Gerichte und eine Exekutive gibt, die von einem Parlament kontrolliert wird. Wir haben in Deutschland schon sehr viele gesunde Komponenten. Wir haben in vielerlei Hinsicht ein gutes System, das jedoch von den Lobbyisten untergraben wird. Banken haben Gesetze mitgeschrieben, die dazu geführt haben, dass man den Bund beim "Cum-Ex Skandal" ausgeraubt hat. Die Regulierung von Emissionen bei Autos diktiert die Automobilindustrie. Das muss aufhören.
Wir brauchen intelligente, durchsetzungsfähige Politiker, die einfordern: Wenn man Dreck verursacht, muss man diesen auch bezahlen. Dieses Verursacherprinzip steht auch in der Verfassung der EU, dem Lissaboner Vertrag.
Der Paradigmenwechsel muss her, was bedeutet, dass man sogenannte "Externalitäten" nicht mehr kostenlos verbrauchen darf, sondern stattdessen zu Vollkosten für die Gesellschaft berechnet werden. So schätzt das Bundesumweltamt, dass eine heute emittierte Tonne CO² über die nächsten hundert Jahre 640 Euro an Gesundheits- und Klimakosten verursacht.
Wir müssen einem Emittenten also für jede Tonne CO² 640 Euro berechnen. Das Geld, das der Staat dadurch einnimmt, sollte direkt pro Kopf zurück an die Bevölkerung verteilt werden. Da die Zinsen heute bei null liegen, kann der Staat das Geld auch Anfang des Jahres an jede Bürgerin verteilen. Da pro Kopf in Deutschland etwa 10 Tonnen CO² ausgestoßen werden, bekommt jede Bürgerin Anfang des Jahres 6.400 Euro überwiesen.
Bei einer vierköpfigen Familie 25.200 Euro. Wenn die Familie dann übers Jahr durchschnittlich viel CO² emittiert, zahlt sie das Geld in Form von Steuern an den Staat. Stellt sie um auf Fahrrad oder mehr Obst und Gemüse und damit auf weniger CO²-Emissionen, muss sie weniger Steuern zahlen und hat am Ende des Jahres Geld übrig.
Wenn jemand überdurchschnittlich gerne fliegt oder Hummer fährt, muss er noch etwas draufzahlen. So schaffen wir es, den Klimawandel sozial gerecht aufzuhalten. Das Schöne an einer solchen CO²-Steuer, deren Einnahmen pro Kopf wieder an die Bevölkerung ausgeteilt werden, ist auch, dass sie sich am Ende selbst abschafft. Sobald wir bei null Emissionen angekommen sind, gibt es auch keine CO²-Steuereinnahmen und keine Ausschüttung an die Bürgerinnen mehr.
Es scheint mir, dass die Chancen von vielen gewählten Vertretern, sich gegen professionelle Lobbys durchzusetzen, sehr beschränkt sind. Dagegen hat "Fridays for Future" die Politik drastisch verändert. Nun sind wir alle dazu aufgerufen, politisch aktiv zu werden und als "Profis" unseren Kindern mit Rat, Tat, Zeit und CO²-Steuer zur Seite zu stehen.

"Wir haben noch zwei, drei Jahre, um die Menschheit vor der Ausrottung zu retten"

Am Tag der offenen Tür habe ich das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrasturkutur besucht. Es kam mir so vor, als hätten sämtliche Vertreter an den Informationsständen das Bewusstsein: "Es muss sich etwas ändern. Jetzt." Dieses Bewusstsein scheint in den Köpfen der Politiker nicht präsent zu sein.
Jochen Wermuth: Ja, es ist traurig. Was ich selbst bei den Grünen beobachte, ist vorauseilender Gehorsam. Man muss vielleicht mit einer der anderen Parteien eine Koalition bilden und schlägt deshalb lächerlich niedrige CO²-Preise vor, wie etwa €40 die Tonne, die mit den Vollkosten nichts zu tun haben. Und dann hat man den Söder in Bayern, der sich heute grünradikaler gibt als jeder Grüne, aber am Ende auch keine vernünftigen CO²-Preise einführt. Die Aussage von "Fridays for Future", es gebe keine Partei, die sie wählen könnten, ist Fakt. Es gibt keine Partei, die einen Co²-Preis fordert, der den Vollkosten entspricht.
Es gibt keine Partei, die das Thema Klimawandel ernst genug nimmt, die die Idee der Tipping Points verstanden hat. Wir haben noch zwei, drei Jahre, um die Menschheit vor der Ausrottung zu retten. Wir müssen den Co²-Preis anheben. Den Preis, den die große Koalition vorgeschlagen hat - am Anfang 10 Euro oder rund 3% der Vollkosten - ist viel zu niedrig.

Die Verlierer der industriellen Revolution

Der Arbeitsmarkt in Deutschland. Wer gehört zu den Verlierern einer industriellen Revolution?
Jochen Wermuth: Die vierte, beziehungsweise, die "grüne Industrierevolution" findet weltweit statt und ist unaufhaltsam, da sie jetzt allein von Marktkräften getrieben wird und nicht mehr von Subventionen abhängig ist.
Bei der letzten Industrierevolution fielen alle Firmen, die im ersten "Dow Jones Transport Index" waren, aus diesem heraus - außer der Western Union. Das heisst auf heute übertragen, dass die meisten Dax-Unternehmen in zehn Jahren nicht mehr im DAX sind und wahrscheinlich auch nicht mehr existieren werden.
Und so sind sich auch die Europäische Kommission, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank einig, dass wir in den nächsten zehn Jahren 90 Prozent der Jobs, die es heute gibt, durch die Energiewende, Verkehrswende, Agrarwende, Finanzwende und künstliche Intelligenz verlieren werden.
Menschen, die in Betrieben angestellt sind, die auf industriellen Handel, fossile Energien oder Verbrennungsmotoren spezialisiert sind, sollten sich dringend einen neuen Job suchen. Die Zukunftsindustrien sind erneuerbare Energien, Speichertechnologien, nachhaltige Mobilität, nachhaltige Landwirtschaft.
Das Klima ändert sich, das Wetter wird extremer. Deshalb sind überirdische Züge oder Flugzeuge auch gefährdeter als bisher. Wir brauchen keine neuen Züge, sondern den Hyperloop, der Menschen und Güter in Vakuumröhren - unter- oder überirdisch - mit der fünffachen Geschwindigkeit und einem Drittel der Energie und Kosten eines Zuges befördert. So können wir auch in Zukunft die Mobilität aufrechterhalten, da es aufgrund von Extremwetter schwieriger sein wird, sich weit und sicher zu bewegen.
Welche Arbeitsplätze gibt es in Zukunft für Menschen mit geringen oder keinen Qualifikationen?
Jochen Wermuth: Der Umstieg auf erneuerbare Energien und emissionsfreien Transport bietet neue Arbeitsmöglichkeiten, wie zum Beispiel Dächer mit Solarpanels einzudecken oder Ladestationen für Elektroautos aufzubauen.
Das sind Tätigkeiten, die keine besondere Qualifikation erfordern, sondern die einfach und schnell gelernt werden können. Durch die Energie-, Agrar- und Verkehrswende wird es jede Menge neuer Jobs geben. Das Bundeswirtschaftsministerium nennt die Energiewende zu Recht eine "Rendite- und Jobmaschine".
Was könnte einer kommenden industriellen Revolution im Weg stehen?
Jochen Wermuth: Geiz. Viele erfolgsversprechende Patente, die technologische Erneuerungen beinhalten, werden von großen Unternehmen, die ihre bestehenden Technologien und Renditen verteidigen wollen, gekauft und verschwinden in Schubladen. Oder Lobbyisten: Die deutsche Autoindustrie hat die Förderung von Elektromobilität blockiert. Behauptet wurde, dass die Förderung nur für Autos gelte, die wesentlich billiger als der TESLA S seien. Ergo gab es keine Subventionen für Elektroautos, die über zwanzigtausend Euro kosten. Da es kaum so billige Elektroautos gab, wurden die Subventionen für Elektroautos in Deutschland kaum genutzt.
In Norwegen ist das nicht so. Die Subventionen greifen, egal wie teuer das Elektroauto ist. Norwegen hat errechnet, dass die Umwelt- und Gesundheitskosten, die ein Verbrennungsauto verursacht, die Subventionskosten bei weitem überschreiten.
Es werden daher in Norwegen jetzt schon mehr Elektroautos zugelassen als Verbrenner. Ich gehe davon aus, dass in Norwegen in drei Jahren gar keine Verbrenner mehr zugelassen werden - nicht weil es ein Verbot gäbe, sondern weil Elektrofahrzeuge einfach günstiger, ruhiger, schneller und gesünder sind. In Deutschland werden stattdessen Märchen von Problemen mit Batterien verbreitet. Diese können nach der Nutzung im Elektroauto für etwa zehn Jahre sicher noch 100 Jahre als Speicherkraftwerk dienen.
So ergibt sich folgende Rechnung: Wenn man von einem Verbrenner auf ein Elektrofahrzeug umsteigt, spart man rund zwei Tonnen CO² im Jahr ein (schafft also einen gesellschaftlichen Mehrwert von 1.280 Euro pro Jahr). Nutzt man aber seine Elektroautobatterie zuhause oder schließt sie bei der Arbeit an einer bi-direktionalen Ladestation an, kann man Wind- und Sonnenenergie speichern statt diese abzuregeln.
Der gespeicherte Strom kann dann in Zukunft genutzt werden, ohne dass man Kohle- oder Gaskraftwerke anwerfen muss, was zu einer Einsparung von nochmals rund zwei Tonnen CO² pro Elektroauto und Jahr führt. Um das zu realisieren, bedarf es eines großen regionalen oder europaweiten Programms, etliche bi-direktionale Ladestationen müssten bestellt werden, damit deren Preis durch die Skalierung so fällt wie die Kosten der Solarenergie gefallen sind. Wenn sie sich dann ihren Materialkosten nähern, wird sich jeder eine kaufen, weil es sich rechnet.
Wie kann der Ökokapitalismus den Widerspruch zwischen Besitzenden und Besitzlosen auflösen?
Jochen Wermuth: Die Tatsache, dass einige Leute immer reicher und andere im Vergleich zu den Wohlhabenden immer ärmer werden, hat auch damit zu tun, dass viele keinen Zugang zu Bildung haben. Es gibt zwei Milliarden Menschen, die abends kein Licht haben. Also können die Kinder abends auch nicht mehr lesen und lernen.
Nach sechs Uhr abends Hausaufgaben machen zu können, ist ein Riesenschritt in Richtung guter Bildung. Die grüne Revolution führt auch zu günstigerem Strom für alle. In Kombination mit dem Internet ergibt dies einen einfacheren Zugang zu Bildung für mehr Menschen und als Folge zu weniger Armut. Auf diese Weise können die Menschen erfahren, dass zum Beispiel ein Solarkocher billiger ist als ein Stapel Holz.
Ein anderes Thema ist das Steuersystem. Ab einem gewissen Freibetrag sind in Deutschland 30 Prozent Erbschaftssteuer fällig. Wenn jemand aber eine Firma im Wert von einer Million erbt, ist die Erbschaftssteuer effektiv gleich null, da die Firma nicht zerschlagen werden soll. Das Problem könnte auch gelöst werden, indem der Staat Anteile an Firmen zur Zahlung der Erbschaftsteuer entgegen nimmt und diese dann professionell verwalten lässt mit dem Ziel, einen möglichsten guten Preis für die Anteile zu erwirtschaften.
Es stellt sich dabei auch die Frage, warum überhaupt jemand von Geburt an mit viel mehr Besitz ausgestattet sein sollte als jemand anders. Es sollte möglich sein, eine gewisse Summe zu vererben, und dann sollte irgendwann auch mal Schluss sein.
Die ungerechte Vermögens- und Einkommensverteilung allein durch ökologische Neuerungen anzugehen, ist schwer. Chancengleichheit gibt es durch den Zugang für alle zu Energie und Bildung. Allerdings müsste es weltweit auch neue Steuersysteme geben, in denen Steueroasen ausgetrocknet werden.
Zudem liegen den meisten Anhäufungen von Vermögen CO²-Emissionen zugrunde. Diese verursachen Kosten für die kommenden Generationen. Vielleicht wäre es daher auch gerecht, auf CO²-Emissionen basierte Vermögen höher zu besteuern,als bisher üblich.

"Man sollte mit zwei autofreien Tagen anfangen"

Eine ökologische Wende benötigt seltene Erden und Minerale. Wie lässt sich eine weitere Ausbeutung Afrikas verhindern?
Jochen Wermuth: Bei der Kobaltgewinnung kommt es häufig vor, dass kleine Kinder in vier Metern Tiefe per Hand graben. Mit Hilfe von Social Media und Blockchain sollte es möglich sein, die Quelle eines jeden Metalls oder Konsumguts zu dokumentieren. Es sollte doch möglich sein, die Einfuhr von Gütern, die auf Kinderarbeit basieren, zu verbieten, bzw. Güter, die mit Hilfe von CO²-Emissionen hergestellt wurden, zu besteuern.
Mein Schlüsselerlebnis war, als ich mit meiner Frau im Norden Russlands war. Dort fließen jedes Jahr fünf Millionen Tonnen Rohöl in die Arktis - das entspricht der Menge, die British Petroleum beim Unglück im Golf von Mexiko verloren hatte.
Das Ganze friert im Winter, taut im Mai und mischt sich mit dem Wasser in den Flüssen. Wer das Wasser trinkt, bekommt Krebs oder gebärt Babys mit deformierten Körperteilen. In diesem Moment dachte ich mir: "Das kann ja wohl alles nicht sein. Dass jemand sich freut, einen Liter Benzin für einen Cent weniger zu kaufen ohne zu wissen, dass so der Tod von Menschen durch Krebs gefördert wurde."
Meine Hoffnung ist, dass diese Geschehnisse durch digitale Informationen offengelegt werden. Das sollte dazu führen, dass die Leute ganz schnell von Öl, Kohle und Gas Abstand nehmen und auf nachhaltige Energieträger umsteigen.
Herr Wermuth, Sie suchen die Nähe der Politik. Viele Menschen wünschen sich mehr Einmischung und Verbote durch die Regierung. Ist der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik nicht schon groß genug?
Jochen Wermuth: Beim "Cum-Ex-Skandal" wurden dem Staat viele Milliarden unter der Nase weggeklaut [7]. Keine der großen Parteien ließ sich dazu von der ARD interviewen. Der einzige, der sich dazu interviewen ließ, war Gerhard Schick von den Grünen. Es stellte sich heraus, dass er der Freiburger Schule der Ordoliberalen angehört. Diese Leute vertrauen auf die Wirtschaftskräfte im Rahmen einer gesetzlichen und regulatorischen Ordnung der Wirtschaft. Natürlich muss der freie Wettbewerb stattfinden, aber auf eine geordnete Art und Weise.
Ist das Parteiprogramm der Grünen grün genug?
Jochen Wermuth: Nein. Wir brauchen mehr Mut. Wenn die Londoner es schaffen, eine Congestion Zone [8] einzurichten, gelingt es uns auch, in Berlin-Mitte, in Hamburg oder Leipzig eine CO²-freie Zone einzuführen. Unsere Kinder müssen nicht von Verbrennungsmotoren vergiftet werden, sondern wir entscheiden uns dafür.
Man sollte mit zwei autofreien Tagen anfangen, zum Beispiel Mittwoch und Samstag, um die Bürger daran zu gewöhnen.
Ich würde auch alle Fahrradwege wie in Barcelona von der Seite auf die Mitte der Straße verlegen, damit die Autofahrer beim Abbiegen nicht die Radfahrer überfahren.
Beim Grundsatzkonvent der Grünen habe ich Kompetenz auf allen Ebenen der Finanzen, der Wirtschaft, der Bildung, der Kultur, der Gesundheit, der internationalen Beziehungen etc., etc. erleben dürfen. Wenn wir diese Kompetenz in die bundesweite und europäische Verantwortung bekommen, sehe ich für die Zukunft grün.
Je radikaler die Grünen sind, desto sicherer heißt der nächste Kanzler oder die nächste Kanzlerin Annalena oder Robert.
Bitte beenden Sie den folgenden Satz: Eine Marktregulierung im ökologischen Sinne führt zu …
Jochen Wermuth: Wohlstand für alle, mehr Demokratie, Arbeitsplätze für Geflüchtete, Zukunftsperspektiven. Eine Welt, in der es mir Spaß macht zu leben und für die ich mich nicht schämen muss, wenn meine Kinder mich mal fragen: "Du hast gewusst, was das Problem ist, dass uns das Ende der Menschheit droht. Du hast gewusst, wie sich das Problem profitabel lösen lässt. Warum hast du es nicht gemacht?"
Dankeschön.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4613237

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/atomfonds-was-mit-dem-geld-von-eon-und-rwe-passieren-soll-a-1197237-2.html
[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gruenen-grossspender-jochen-wermuth-ueberweist-erneut-rekordsumme-a-1110503.html
[3] http://www.entsorgungsfonds.de
[4] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/texte_67_2015_tipping_point_konzeptionen_im_kontext_eines_nachhaltigen_gesellschaftlichen_wandels_1.pdf
[5] https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2019-12/groenland-arktis-meeresspiegel-eisschmelze
[6] https://www.youtube.com/watch?v=QYFniXY96BQ
[7] https://www.tagesschau.de/inland/cumex-115.html
[8] https://www.zukunft-mobilitaet.net/8166/analyse/london-folgen-innenstadtmaut-congestion-charge-lez/