Knapper Wohnraum: Schluss mit dem Abriss-Wahn!
Seite 2: "Nachverdichten funktioniert über mehrere Strategien"
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Die Befürworter eines Abriss-Moratoriums argumentieren, dass Bestandsbauten, die durch Umbau neuen Nutzungen angepasst werden, unter ökologischen, energetischen und ökonomischen Gesichtspunkten Neubauten überlegen sind. Wie aber kommt es zu der Aussage in einer vom Umweltbundesamt herausgegebenen Veröffentlichung, nach der die Wiederverwendung von Bauteilen "nur selten wirtschaftlich" sei?
Alexander Stumm: Wiederverwendung von Bauteilen ist aus Sicht der Materialschonung, der Energieeffizienz und der Vermeidung von Treibhausgasemissionen, sprich: aus klima- und ökologischer Sicht immer sinnvoller als der Abriss beziehungsweise Neubau. Jedoch werden der Wiederverwendung von Bauteilen durch aktuell geltende Vorschriften – Normen, Standards, Richtlinien – viele legislative Hürden in den Weg gelegt. Viele davon sind unnötig.
Normen sind Industrienormen, die mit dem unternehmerischen Interesse des Profits Eingang in die Politik gefunden haben und vieles erschweren. Initiativen wie der Gebäudetyp E von der Bundesarchitektenkammer versuchen dies gerade auszuhebeln.
Wenn ein 50 Jahre altes Gebäude umgebaut wird, muss es alle heute geltenden Normen und Standards erfüllen – das macht einen Umbau wirtschaftlich untragbar. Eine Anpassung tut hier Not. Außerdem bedarf es einer Anpassung der Förderrichtlinien, die Abriss-Neubau derzeit immer noch begünstigen.
Einerseits wird eine Lebenszyklusanalyse von Gebäuden empfohlen, andererseits wird ihr Wertverlust nach einem linearen Schema berechnet. Wie stehen Sie zu dem Gegensatz?
Alexander Stumm: Die Lebenszyklusanalyse ist ein guter Schritt, die Energie allein nach der Betriebsenergie zu berechnen. Sie preist damit auch den Abbau der Rohstoffe, die Produktion der Baumaterialien, die Energie auf der Baustelle und beim Abriss mit ein. Das ist eine notwendige Berichtigung.
Auch der Re-Use-Faktor von Bauteilen wird damit eingepreist. Dennoch wird weiterhin mit einer fünfzigjährigen Standardlebenslänge von Gebäuden gerechnet, die der Vergleichbarkeit dient. Die Tendenz geht zur Quantifizierung.
"Nachverdichten" mindert den Abriss- und Neubaudruck in Innenstädten. Gehen dadurch nicht kleinere Freiflächen verloren, die eine Stadt auch aus klimatischen Gründen braucht?
Alexander Stumm:: Nachverdichten funktioniert über mehrere Strategien: Aufstockungen, Erweiterungen und die Anpassung an zukünftige Nutzungsanforderungen vermeiden zusätzliche Versiegelung. Das Abriss-Moratorium steht aber nicht jedem Neubauvorhaben kritisch gegenüber, denn es bedarf immer einer Abwägung verschiedener Interessen.
Andersherum muss auch eine Versiegelung durch Nachverdichtung mit (bisher teils zu wenig beachteten) Faktoren wie die Klimaerwärmung und Hitzeentwicklung oder die Biodiversität in Innenstädten abgewogen werden.
Welcher Art können Erweiterungen durch Umbauten sein?
Alexander Stumm:: Die Lebensverhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Die Vater-Mutter-2-Kinder-Welt entspricht nicht mehr den diversen Lebensentwürfen unserer Gegenwart. Dementsprechend müssen auch Grundrisse diese Vielfalt widerspiegeln und neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen, darunter Clusterwohnungen.
Flexiblere Grundrisse, zum Beispiel durch Zu- und Wegschalten von Räumen zwischen angrenzenden Wohnungen, können veränderte Raumbedarfe in unterschiedlichen Lebensabschnitten begünstigen.
In der Zeit des Wohnungselends (19./20. Jahrhundert) wurden zerschlissene Kleider neu aufgearbeitet, und diese wurden zu Lappen. Dagegen die "Bobos" von heute: Sie haben eine gehobene "Sperrmüll-Mentalität". Sie demonstrieren ihre Verachtung gegenüber dem Konsum. Wird die Parole "Bestand erhalten statt neu Bauen" nicht zum Dogma, das soziale Unterschiede übergeht?
Alexander Stumm: Dieser Argumentation kann ich nicht ganz folgen. Wir sind nachdrücklich der Meinung, dass wir sozialen Problemen wie Gentrifizierung und Verdrängung in Ballungsräumen, wo Investoren Gebäude abreißen, um bessere und selbstverständlich teurere Wohnungen verkaufen zu können, mit unserer Initiative begegnen können.
Die Wertschätzung des Bestandes verstehen wir nicht als "Mode-Trend", sondern als notwendige Reparatur einer auf der Ausbeutung fossiler Brennstoffe und mineralischer und metallischer Rohstoffe basierenden Architekturpraxis.
Durch das Umnutzen von Gebäuden entstehen im Laufe der Zeit "gemischte Gebilde". Architekturstile überlagern und verwischen sich. Was bedeutet das für das Stadtbild? Wird seine Entwicklung arbiträr?
Alexander Stumm: Das Selbstbild bzw. das Klischeebild des Architekten, der ganze Gebäude mit einem Bleistiftstrich im Restaurant auf der Serviette schon vorgedacht hat, wird verschwinden. Stattdessen gilt es für Architekt:innen, im Bestehenden Lösungen zu finden, die auch auf ästhetisch-formale Hinsicht überzeugen.
Dabei ist die gestalterische Palette mindestens genauso groß wie beim Neubau auf der grünen Wiese. Umbauten erschöpfen sich nicht in einer "Bricoleur-" oder "Do it yourself"-Ästhetik, sondern können Stadtbilder auf vielfältige Weise bereichern.
Läuft beim Bekenntnis zum Bestandserhalt nicht noch ein ganz anderer Film ab? Architekt:innen und Planer:innen werden vom Publikum für alles verantwortlich gemacht, was schiefläuft, wissen aber selbst nicht so genau, ob sie die Verantwortung übernehmen sollen oder ihrerseits Opfer sind ...
Alexander Stumm: Wir sehen deshalb die Politik in der Pflicht. Auf individueller Ebene kann man als Architekt(in) einen kleinen Beitrag zum Wandel leisten. Aber gemeinsam erreicht man viel mehr. Einzelne ökonomische Akteure mit politischem Einfluss haben wenig Interesse, die Abrisspraxis infrage zu stellen: Abfallunternehmen, mineralische Baustoffproduzenten, Investoren.
Wenn sich jedoch Architekturschaffende zusammenschließen, können sie politisch Gehör finden. Eine Möglichkeit ist, den inzwischen von hunderten Unterstützenden getragenen offenen Brief an Bundesministerin Klara Geywitz für ein Abriss-Moratorium zu unterzeichnen.
Alexander Stumm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Kassel, Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen sowie Dozent für Architekturgeschichte in Ho-Chi-Minh-Stadt. Er arbeitet als Redakteur bei der Bauwelt und zuvor bei Arch+. Er lehrte an der TU Berlin und und war 2022/23 Vertretungsprofessor an der BTU Cottbus.