Kohleausstieg: Rheinisches Revier weit weg vom "Innovation Valley"
Paukenschlag im Strukturwandelprozess: Kölner IHK verweigert Unterschrift für Reviervertrag. Die Pläne, ein vielleicht zu ambitionierter Zeitplan und Hintergründe.
Am Dienstag nach Pfingsten steht ein wichtiger Termin für das Land NRW und die Region an: Bei einem Festakt in Mönchengladbach soll der "Reviervertrag 2.0" unterschrieben werden. Es geht um die Zukunft des Rheinischen Braunkohlereviers, über Jahrzehnte Schrittmacher der Wirtschafts- und Industrieregion zwischen Aachen, Köln und Mönchengladbach.
Das Revier ist derzeit immer noch das größte aktive Braunkohlerevier in Deutschland und soll nach dem Ausstieg aus der Kohleverstromung zu einem europaweiten Vorzeigeprojekt, zum "Innovation Valley" werden.
Die Liste der Partner liest sich eindrucksvoll: Landesregierung, betroffene Landkreise und Kommunen, Vertreter der Zukunftsagentur Rheinisches Revier (ZRR) sowie die Handels- und Handwerkskammern der Region wollten zur Unterzeichnung zusammenkommen. Nun schert einer aus: Die Kölner Industrie- und Handelskammer (IKH) will den Vertrag in der vorliegenden Form nicht unterschreiben.
Klatsche für NRW-Ministerpräsident Wüst
Die Weigerung begründet die Kölner IHK-Präsidentin Nicole Grünewald in einem Brief – dessen Wortlaut liegt dem Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) nach dessen Angaben vor. Das Blatt berichtete am 24. Mai über das Schreiben, das Grünewald zusammen mit IHK-Hauptgeschäftsführer Uwe Vetterlein verfasst hat. Adressat ist NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU).
Den Stein des Anstoßes bildet demnach ein Satz in der Präambel des Vertrags, nämlich dass die beteiligten Akteure den Ausstieg 2030 ausdrücklich begrüßten. "Das tun wir nicht", wird IHK-Chefin Grünewald zitiert. Bisher habe "niemand plausibel erklären können, wie der Strukturwandel inklusive der Schaffung von den für die Region relevanten Arbeitsplätzen und die Energiesicherheit durch den Zubau von genug Erneuerbaren innerhalb von nur noch sechseinhalb Jahren gelingen soll".
Hierauf konzentriert sich der Widerspruch – bei allen Punkten des Reviervertrags könne die IHK ansonsten mitgehen. Die Bedenken, die jetzt zum Nein führten, habe man bereits auf dem Gipfel "Sicherheit für unser Industrieland NRW" am 24. April geäußert, insofern gelte weiter:
Bereits der ursprünglich von der Kohlekommission ausgehandelte Ausstieg im Jahr 2038 galt unter Fachleuten als extrem ambitioniert. Ein Ausstieg 2030 ist deshalb überhaupt nicht realistisch. Nirgendwo auf der Welt hat bisher ein so tiefgreifender Strukturwandel in so kurzer Zeit funktioniert.
IHK-Präsidentin Nicole Grünewald
Ehrgeizige Ziele
Im Reviervertrag mit der Überschrift "Perspektiven für das Rheinische Revier" sind ehrgeizige Ziele formuliert: Die Region soll sich zu einem "modernen und klimaneutralen Energie- und Industrierevier" entwickeln, es ist von einer "Modellregion" mit supranationaler Strahlkraft die Rede. Eine hohe Wertschöpfung und große Beiträge zur Energiesicherheit sollen gewährleistet sein, "innovative und bezahlbare Wohn- und Mischgebiete sowie der zukunftsfähige Umbau bestehender Siedlungsbereiche" den Strukturwandel begleiten.
Die Transformation der Wirtschaft und des Raumes mit dem Ende der Braunkohleverstromung lässt sich der Bund überdies einiges kosten: So stellt die Bundesregierung dem Rheinischen Revier in den nächsten zwei Jahrzehnten 14,8 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung, um Beschäftigungs- und Wertschöpfungsverluste zu kompensieren.
Nicht nur nach Meinung der Kölner IHK hat die Landesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Lena Teschlade, Beauftragte der SPD-Fraktion für das Rheinische Revier, ließ sich dazu folgendermaßen ein:
Die jüngste Stellungnahme der IHK Köln ist ein Paukenschlag. Die Landesregierung konnte keinen Plan vorlegen, der alle wichtigen Akteure im Rheinischen Revier überzeugt. Immerhin ist die IHK Köln die größte in der Region, sie kennt die Belange der Wirtschaft vor Ort. Die Landesregierung muss nun darlegen, wie sie nach diesem Weckruf am kommenden Dienstag mit viel Tamtam den Reviervertrag 2.0 auf den Weg bringen will. Denn offenbar sind entscheidende Zukunftsfragen nicht hinreichend geklärt.
Lena Teschlade (SPD)
"Ideologiegetrieben, unrealistisch"
Die Partner des Revierpakts scheinen sich also bislang eher in Absichtserklärungen einig. In ihrem Schreiben an Ministerpräsident Hendrik Wüst wird Grünewald laut KStA noch deutlicher; das derzeitige Ausstiegsszenario nennt sie "ideologiegetrieben, und das Tempo ist unrealistisch". Stand heute sei die Versorgungssicherheit mit Strom für die Unternehmen in der Region auf diesem Ausstiegspfad nicht gewährleistet, zitiert das Blatt die IHK-Präsidentin weiter. "Auch der Erhalt der industriellen Wertschöpfung und der Arbeitsplätze" sei in sechseinhalb Jahren nicht zu schaffen.
Auch Manfred Maresch, Revierwende-Büroleiter des Deutschen Gewerkschafts-Bundes (DGB) in Bedburg, sieht offenbar noch kein "Innovation Valley", dafür aber verpasste Wandlungschancen:
Wir haben weder bei der Landes- noch bei der Bundesregierung das Gefühl, dass es nach der Entscheidung, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen, zu einer Beschleunigung des Strukturwandels gekommen ist
Manfred Maresch, Revierwende-Büroleiter des DGB
Es gehe, so Maresch, nicht allein um die 7.500 Arbeitsplätze in der Braunkohle, sondern darum, "die bestehenden Unternehmen in der Region auf dem Weg der Dekarbonisierung und Digitalisierung zu begleiten". Insgesamt sind hier mindestens 50.000 Arbeitsplätze gemeint, das sind zumindest die Arbeitsplätze in den Wertschöpfungsketten der energieintensiven Industrie im Revier.
Es hapert also beim Strukturwandelprozess. Die gesetzten Ziele – genannt wird im Vetragswerk zu guter Letzt auch die Schaffung von Identität, Vision und sozialem Zusammenhalt – winken noch aus der Ferne.
Die IHK Köln wollte auf Nachfrage von Telepolis nicht näher darauf eingehen.