Kommt die außerparlamentarische Opposition gegen die Merz-Regierung?

David Goeßmann
Fäuste

Bildet sich Widerstand in Deutschland? Bild: PeopleImages.com - Yuri A/ Shutterstock.com

Die Regierungsbildung unter Friedrich Merz läuft erstaunlich ruhig ab. Die SPD murrt nur leise. Aber könnte sich neuer außerparlamentarischer Protest entwickeln?

Die Regierungsbildung in Berlin verläuft erstaunlich geräuschlos. Ist es die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm? Oder das langsame Absinken in den politischen Konsensschlaf?

Bleierne Alternativlosigkeit

Zwar brodelt es ein wenig in der SPD. Die Jusos wollen einen Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag, andere verlangen, die Co-Vorsitzende Saskia Esken zu ersetzen.

Und Lars Klingbeil, der zweite SPD-Chef, ist "irritiert" über Aussagen von Jens Spahn, mit der AfD so wie mit jeder anderen Oppositionspartei im Bundestag umzugehen.

Das war es dann aber auch schon an Aufregung, bevor die neue politische Führung Deutschlands ans Werk gehen kann. Über Inhalte und Alternativen wird nicht debattiert. Der Rahmen der politischen Kursbestimmung erscheint in der breiteren Öffentlichkeit als alternativlos.

Die notwendige Kursänderung

Ulrich Schneider, von 1999 bis 2024 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, reibt sich angesichts der Regierung mit Rechtsdreh unter dem designierten Kanzler Friedrich Merz, eskortiert von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktionen Jens Spahn, die Augen. Ernsthafte Opposition gegen die konservative Wende könne er in der Gesellschaft bisher nicht erkennen.

Beim Koalitionsvertrag habe ich im Moment noch keine lautstarke Kritik seitens der Gewerkschaften gehört. Wenn nicht jetzt, wann dann? Jetzt müssten wir auf die Straße gehen, bevor dieser Kanzler am 6. Mai gewählt wird.

Es brauche eine grundsätzliche Kursänderung in Deutschland. Und diese müsse von unten erarbeitet und durchgesetzt werden. Auf die etablierte Politik zu warten, sei aussichtslos. Darin stimmen die Teilnehmer:innen auf dem Podium am Donnerstagabend in Berlin überein.

Muxmäuschenstill X: Superreiche zur Kasse bitten

Die Diskussion über den Kampf für Gerechtigkeit und eine APO 2.0 angestoßen hat die Vorpremiere eines neuen Films, der ab dem 1. Mai deutschlandweit in die Kinos kommt. "Muxmäuschenstill X" von Jan Henrik Stahlberg ist eine bissige politische Satire auf die soziale Kälte und die neoliberale Gleichgültigkeit in Deutschland. Eine Attacke auf die Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Verlogenheit der Gesellschaft. (Eine Besprechung des Films auf Telepolis finden Sie hier)

Das Publikum im fast voll besetzten Kinosaal des Filmtheaters am Friedrichshain in Berlin wird schnell in den Film gezogen, immer wieder zum Lachen gebracht, angetrieben von überraschenden Wendungen und der Situationskomik. Aber der Film ist nicht nur unterhaltsam, sondern erfrischend mutig, experimentierfreudig und politisch klarsichtig.

Der schillernde und ambivalente Held des Films, Mux, von Stahlberg selbst gespielt, versucht mit "Verlierern der Gesellschaft", Obdachlosen und Arbeitslosen, die er im ostdeutschen Elstertrebnitz um sich versammelt, eine soziale Revolution in Deutschland zu entzünden. Er treibt dabei in Selbstjustiz eine Vermögenssteuer von superreichen Steuerhinterziehern ein, mit der er Solidarjobs finanziert, die Arbeitende entlasten und Arbeitslose wieder in Beschäftigung bringt.

Die Macht des Geldes

Der Initialfunke für den Film, eine Fortsetzung des Überraschungscoup von 2004 "Muxmäuschenstill", sei, so Stahlberg, die Beschäftigung mit der Agenda-2010-Politik der rot-grünen Regierung gewesen. Er fragte sich, warum es trotz der Modernisierungsversprechen einen sozialen Niedergang, mehr Armut und einen Aufstieg der Superreichen gegeben habe?

Eine Antwort darauf gibt am Diskussionsabend Michael Hartmann, Soziologe und Eliteforscher. Er sieht im Geld den zentralen Faktor, weil es gesellschaftliche Zugänge ermöglicht, auch zur Macht. In diesem Sinne habe der neoliberale Kapitalismus großen Schaden angerichtet. Dort müsse man ansetzten.

Wenn man eine Gesellschaft ändern will, dann muss man immer schauen, wie man beim Geld zu einer größeren Gleichheit innerhalb einer Gesellschaft kommt. Und was der Neoliberalismus im Speziellen in den letzten Jahrzehnten geschafft hat, ist, dass die Ungleichverteilung des Geldes massiv zugenommen hat und damit die Chancen, in der Gesellschaft ein vernünftiges Leben führen zu können, abgenommen haben.

Ohne Umverteilung geht es nicht

Für Schneider steht zudem fest, dass die Medien eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der neoliberalen Wende gespielt haben. Immer wieder hätten insbesondere die TV-Talkshows neoliberalen Volkswirten ein Podium geboten, während der Sozialabbau zur alternativlosen Politik erklärt worden sei.

Um diese Wende zu korrigieren, brauche es nun Ehrlichkeit: "Umverteilung ist das A und O. Steuerpolitik ist die Blaupause für jede Sozialpolitik". Wer soziale Versprechungen mache, ohne umverteilen zu wollen, lüge schlicht.

Trailer des Films Muxmäuschenstill X

Zwar erkenne die neue Regierung nun die enorme Investitionslücke an – allein in den Kommunen seien es rund 186 Milliarden Euro. Aber um die Reichen zu schonen, habe man ein Sonderschuldenvermögen eingerichtet.

Damit leihe man sich aber nur das Geld bei denen, die auf dem Vermögen sitzen, weil man Angst habe, es ihnen wegzunehmen, um es ihnen dann mit Zinsen, also Gewinn, zurückzuzahlen, sagt Schneider. Es ist erneut ein Reichtumsvermehrungsprogramm.

Guérot: Deutsche Austerität nährte die Rechten

Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guérot verweist darüber hinaus auf die Folgen der neoliberalen Ungerechtigkeitspolitik und schaut über den deutschen Tellerrand auf Europa. Sie zitiert den jüdischen Intellektuellen der Weimarer Republik, Walter Benjamin, der gesagt habe, dass vor jeder faschistischen Revolution eine gescheiterte soziale Revolution stehe.

So habe die von Deutschland forcierte Euro-Austeritätspolitik (sprich: soziale Spardiktate im Zuge von ausfallenden Bankenkrediten) insbesondere gegen südeuropäische Länder wie Griechenland die Rechtsentwicklungen in Europa erst ermöglicht, erklärt Guérot.

Sie können sehen, dass der europäische Populismus, Marine Le Pen, Viktor Orban, PiS und so weiter, das fing alles 2012 an, als wir mit der Bankenkrise Europa kaputt gemacht haben.

Die Repräsentationslücke

Bei der Frage, wie die Chancen stehen, aus der Stagnation und der sich verschärfenden Ungleichheitsgesellschaft herauszukommen, ist sich das Podium nicht ganz sicher und schwankt zwischen "Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens", wie es der italienische Kommunist Antonio Gramsci einmal ausdrückte.

An sich sähe es gar nicht so schlecht aus, Veränderungen zu erwirken, man brauche aber Mut, so Stahlberg, und fragt das Publikum, wer für eine Vermögenssteuer sei. Praktisch alle heben die Hand.

In Deutschland sind es bei Umfragen rund 70 Prozent der Befragten, und Guérot ergänzt, dass ähnliche Mehrheiten für viele andere Bereiche ebenfalls gelten, z.B. beim Votum gegen Kriegspolitik und Waffenlieferungen. Die Repräsentationslücke zwischen Parlament und Bevölkerung ist für Stahlberg dann auch das eigentliche Politikum:

Es ist die einzige Frage, die wir uns stellen sollten: Wie kann es sein, dass eine derartige überwältigende Mehrheit, von der Politiker nur träumen können, sich keinen Durchbruch verschaffen kann. Woran liegt das?

Aus dem Hamsterrad

Viele sagten, sie wüssten nicht, wie man sich wehren könne, berichtet Stahlberg. Das sei durchaus nachvollziehbar. Viele befänden sich durch Dauerbelastung in einer Art Hamsterrad, andere könnten von ihrer Arbeit nicht mehr leben.

"Solange wir das nicht verändern, werden wir viel zu wenige sein, um uns gegen die Interessen von einzelnen Personen, die in der Minderheit sind, durchsetzen zu können." Daher sei es so wichtig, dass die Menschen von Erwerbsarbeit entlastet werden, um Zeit zu haben, gemeinsam zu überlegen, wie man leben will.

Das ist die größte Gefahr für die Politik.

Mobilisierungsprobleme

Schneider betont, dass er zwar keine schlechte Stimmung verbreiten wolle. Aber in den letzten Jahren habe man es nicht mehr geschafft, Leute auf die Straße zu bringen, z.B. gegen die Mietenexplosionen. Das liege u.a. daran, dass sich Gewerkschaften oder Sozialverbände nicht auf gemeinsame Forderungen einigen konnten und sich mit anderen Sorgen herumschlagen müssten.

Sie seien auch keine Protestbewegungen, sondern Dienstleister. Und von Betroffenen, die mehr und mehr vom Alltag vereinnahmt würden, sei kaum eine Revolutionsbereitschaft zu erwarten.

Vieles sei daher in letzter Zeit "den Bach runtergegangen". "Ich will aber nicht sagen, dass alles keinen Zweck hat. Auf keinen Fall. Wir müssen immer wieder neue Anläufe nehmen."

Positiv sieht Schneider die Kampagnen der Partei Die Linke im Wahlkampf, die Umverteilungsforderungen mit konkreten Verbesserungen bei Mieten, Mindestlohn usw. verband und ihr Wahlergebnis deswegen stark steigern konnte. Davon könne man lernen.

Erfolgreiche Kampagnen

Hartmann will ebenfalls Mut machen und schildert einige Fälle, wie eine außerparlamentarische Opposition funktionieren könnte. Er verweist auf die Kampagne "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" in Berlin, die die Vergesellschaftung von privaten Wohnungsunternehmen erreichen will.

Ihr sei es gelungen, untere und mittlere Schichten gemeinsam hinter die Forderung zu bringen und einen Volksentscheid erfolgreich umzusetzen – auch wenn die Politik die Maßnahme am Ende beerdigte. Zudem konnten die von der Politik anvisierten Studiengebühren durch Mobilisierungen verhindert werden. Das lag vor allem daran, dass die Gegenseite Fehler beging.

Das passiere immer wieder, sagt Hartmann, und müsse genutzt werden. Wenn z.B. die neue Regierung in nächster Zeit den Bogen überspanne, könne das Unmut in der Bevölkerung wecken. Darauf sollte sich Bewegungen vorbereiten, um dagegen zu halten.

Zerschlagene Protestkultur

Proteste hätten es jedoch immer schwerer, merkt Guérot an. In Frankreich z.B. könnten im Zuge von neuen Gesetzgebungen Demonstrationen heute leichter untersagt werden. Eine Reaktion auch auf die Gelbwestenbewegung, die das ganze Land erfasste und die Regierung in die Defensive brachte.

Zugleich verlagere sich Opposition mehr und mehr ins Internet, während die Intellektuellen "komplett versagt haben". In den 1960er-Jahren streikten sie noch gemeinsam mit Arbeitern von Peugeot-Fabriken, so Guérot. Diese Verbindung zum normalen Volk sei nun gekappt.

Antizyklisch Denken

Film und Diskussion lieferten eine realistische Standortbeschreibung politischer Opposition außerhalb der Parlamente und verwiesen auf Möglichkeiten, Widerstand zu beleben – auch wenn deutlich gemacht wurde, dass wir in schwierige Zeiten leben, eine Kursänderung neoliberaler Politik nicht leicht sei und Protest gegen den Strom schwimmen müsse.

Aber was raten Ökonomen in Krisenzeiten: antizyklisch denken. Wenn das Tal erreicht ist, kommt der Moment des Handelns. Alles habe einmal klein angefangen, sagt Hartmann, auch in den 1960er-Jahren. Man müsse nun versuchen, aus den Anfängen etwas Größeres zu erschaffen.

Die Premiere des Films Muxmäuschenstill X findet am 28. April um 18 Uhr im Kant Kino in Berlin statt.

Der deutschlandweite Kinostart von Muxmäuschenstill X ist der 1. Mai.