Konflikt und Krisis: Partizipativer Umgang mit Massenmedien

Seite 4: III.4: Die Wandlung des Gatekeepers

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Die fortgesetzte Tagesschau-Kritik zeigt stellvertretend, dass ein klassischer Begriff der Journalismustheorie, der "Gatekeeper" (Torwächter), heute eine andere Bedeutung hat.

Das Gatekeeper-Paradigma beschrieb traditionellen redaktionellen, professionell (im Sinne von beruflich, zunächst unabhängig von der durch Rezipienten wahrgenommenen Qualität) ausgeführten Journalismus. Journalisten als Gatekeeper kontrollieren den Zugang zu Massenmedien, die hinsichtlich Verbreitung und Kapazität eingeschränkt sind: Die Auflagenzahl oder Sendereichweite einerseits und der Umfang einer Printausgabe oder die Dauer einer Sendung andererseits sind begrenzt. Es können weder alle denkbaren Rezipienten erreicht werden, noch können beliebig viele Themen in umfassender Fülle untergebracht werden. Redaktionen müssen entscheiden, was sie unter diesen Bedingungen berücksichtigen und was nicht.

Für den Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger ist daher "redaktionelle Arbeit eine Art Mangelverwaltung"9; den traditionellen Journalismus bezeichnet Neuberger als "Notlösung"10

Bei besonders bedeutsamen, exklusiven Meldungen (den "scoops") können nach dem Auswahlprozess ganze Narrative entstehen, die in sich konsistent wirken und über längere Zeit durchgehalten werden: Nach der ersten Meldung muss nachgelegt, muss belegt werden, um den exklusiven Status der Meldung weiter zu begründen und damit auch die Rolle des jeweiligen Massenmediums zu festigen, etwa als besonders investigativ und vertrauenswürdig. Damit kann ein ganzer Kanon an Texten entstehen, der auch für andere gesellschaftliche Teilsysteme, insbesondere das politische System, unumstößlich wird - wie im Fall der Irak-Berichterstattung der New York Times.

Die NYT-Redaktion hatte sich damals dafür entschieden, Artikel prominent auf Seite eins zu platzieren, die dem Narrativ folgten, dass es im Irak Massenvernichtungswaffen gäbe; Artikel, die Zweifel an diesem Narrativ weckten, wurden weiter hinten im Blatt gedruckt. Erstere bestärkten Akteure des politischen Systems in ihren Entscheidungen für ein militärisches Eingreifen.

Die Entscheidung, diese und nicht die anderen Berichte hervorzuheben, war einerseits ein pragmatischer Umgang mit dem begrenzten Angebot in einer Ausgabe (die NYT-Herausgeber sprachen in ihrer Rechtfertigung selbstkritisch davon, dass man als Zeitung an "scoops" interessiert sei). Andererseits droht damit aber von Seiten der Rezipienten "der Argwohn, dass sie [die Gatekeeper] ihre machtvolle Position missbrauchen könnten".11

Die Kritik an der Irak-Berichterstattung der NYT war von diesem Misstrauen gespeist. Insbesondere Judith Miller wurde wegen ihrer früheren Arbeiten und ihrer Kontakte zu Ahmad al-Dschalabi unterstellt, eine politische Agenda zu verfolgen, die einen Regimewechsel im Irak zum Ziel hatte. Doch wie erwähnt, kam diese Kritik noch aus dem System der Massenmedien selbst und wurde darin bearbeitet.

Das andere Fallbeispiel, die Kritik an der Tagesschau-Berichterstattung, lief auf einer anderen Ebene ab. Nicht andere Akteure des Systems der Massenmedien, sondern die Rezipienten waren Urheber einer Kritik, die so stark war, dass sich die Redaktion nicht in einer distanzierten Erklärung (wie damals die NYT-Herausgeber) äußerte, sondern das Blog nutzte, und darin sogar auf einzelne Kommentare direkt einging.

Aufgrund der lange Zeit ritualhaft hervorgehobenen Stellung der Tagesschau war dies etwas Besonderes: Während der Linguist Ulrich Schmitz noch 2008 behaupten konnte, dass die Sendung "den Zuschauern durch ihre sprachliche Kontinuität Trost [spende]" und sie, so Schmitz in einem Aufsatz 1995, "monumentale Orientierungs-Wünsche in der unüberschaubaren Hektik des täglichen Einerlei [befriedige]"12, wird diese Stellung heute angegriffen. "Sie kommen damit nicht mehr durch", schrieb ein Leser unter Kai Gniffkes Ukraine-Blogeintrag, und obwohl sich das auf den konkreten Fall Ukraine-Berichterstattung bezog, so kann man diese Aussage auch auf das gesamte traditionelle, am Gatekeeper-Journalismus orientierte System der Massenmedien beziehen.

Der Gatekeeper wird zunehmend weniger akzeptiert. Dass das Internet in dieser Hinsicht wirksam sein kann, wird in der Kommunikationswissenschaft schon lange diskutiert; mit dem Gatewatcher-Paradigma liegen auch Ideen für alternative Zugänge zur Analyse journalistischer oder Journalismus-ähnlicher (also berichtender, einordnender, kommentierender) Aktivität vor.13 Neu sind heute zwei Dinge:

Erstens blieben alternative Zugänge relativ lange Theorie und konzentrierten sich um die Jahre 2004 bis 2007 auf die damals noch als "Neue Medien" bezeichneten oder unter "Web 2.0" zusammengefassten Entwicklungen, also auf Blogs und Podcasts als mögliche Alternativen zu Zeitung, Radio und Fernsehen. Am Horizont war zwar eine "Blogosphäre" sichtbar, ihre Auswirkungen schienen aber weit weg.

Doch die an Beispielen wie der Tagesschau so paradigmatisch sichtbaren und heute immer wieder unter jedem online veröffentlichten Artikel beobachtbaren Phänomene sind die Zuspitzung eines Konfliktfelds, das sich damals schon abzeichnete. Konflikte in diesem Feld werden aber nicht in erster Linie institutionell getrennt ausgetragen (etwa in individuell betriebenen Blogs als Alternativmedien), sondern in den Kommentarbereichen der Medien selbst, sofern das - siehe oben - möglich ist.

Skepsis an Medien und Produktion von Alternativen sind dadurch mitten "unter uns", und Rezipienten und Produzenten traditioneller Medien werden permanent mit alternativen Sichtweisen konfrontiert. Faktisch ist der Gatekeeper online machtlos geworden; es liegt in der individuellen Entscheidung der Rezipienten, ob sie eher dem Medium glauben oder den widersprechenden Kommentaren.

Dass sich online Alternativen durchsetzen, hat zweitens auch Auswirkungen auf den traditionellen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt. Neben dem vielbeklagten Sterben von Printmedien oder Versuchen, Print und Online zu verzahnen (sei es durch Abdrucken von Kommentaren, sei es durch Print-Abozwang, um kommentieren zu können), ist auch das Aufkommen neuer Printangebote festzustellen, die nicht etwa versteckt als Special Interest angeboten werden, sondern sich als deutlich sichtbare Alternativen zu etablierteren Angeboten aufdrängen.

Diese Alternativen bedienen dieselben Sichtweisen, die sich auch online ausbreiten. In den Filialen großer Buchhandlungsketten steht dann der KOPP-Verlag neben Suhrkamp und Compact neben Spektrum der Wissenschaft. Tichy's Einblicke schauen auf die SZ Langstrecke herab, während die FAZ Quarterly von CATO flankiert wird. Und im LOTTO-Laden teilt sich die Junge Freiheit einen Zeitungsständer mit Junge Welt, BILD und Neues Deutschland. Mit diesem neuen Medienmix (denn so prominent wie heute waren gerade rechtsgerichtete Publikationen lange nicht) übt der Gatekeeper seine Funktion offline noch aus. Die Magazine und Zeitungen präsentieren nach wie vor eine professionelle, d.h. berufsmäßig getroffene Auswahl von Berichten auf begrenztem Raum - doch aus Rezipientensicht ist das Angebot vielfältiger geworden.

Für jedes heute diskutierte Weltbild gibt es mehrere Medien, die es stützen und Nachrichten passend filtern, aufbereiten und kommentieren. So wie im Internet gibt es auch im Printbereich nicht mehr den einen Kanon, der einen gesellschaftlichen Grundkonsens vertritt, sondern mehrere entsprechende Angebote. Die so oft erwähnte und aus linksliberaler Sicht mitunter zurecht gefürchtete "Filterblase" sozialer Netzwerke ist im Zweifel nicht nötig - man kann sich alternative Inhalte auch als wertig aufgemachtes Printmagazin nach Hause holen, womit diese Inhalte viel stärker zu einem akzeptierten Bestandteil des Mediengebrauchs werden könnten, als es geteilte Facebook-Meldungen je waren, und damit auch die vertretenen Weltbilder Eingang in den Mainstream finden könnten. Wir haben es also, zusammengefasst, mit einer doppelten Entwicklung zu tun: Online hat der Gatekeeper seine Bedeutung verloren; traditionelle Medien werden so deutlich kritisiert und deren Sichtweisen mit Alternativen konfrontiert wie nie zuvor. Offline gibt es neue Gatekeeper, die noch ganz traditionell funktionieren, aber ebenfalls den Sichtweisen etablierterer Medien entgegenstehen. Noch ist offen, wie sich dies entwickeln wird.