Krawalle in der Türkei

AKP- und MHP-Anhänger verwüsten nach Terroranschlägen der PKK Redaktionen regierungskritischer Zeitungen und Büros der Kurdenpartei HDP

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Am Sonntag tötete der militärische Arm der verbotenen Kurdenpartei PKK in der Ortschaft Dağlıca mit einer Bombe 16 türkische Soldaten. Sechs weitere wurden schwer verletzt. Nach diesem schwersten Anschlag seit 1993 twitterte die regierungskritische Zeitung Hürriyet einen Zitat aus einem kurz zuvor gegebenen Fernsehinterview des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, das übersetzt lautet: "Wenn eine Partei es [bei den Wahlen im Juni] geschafft hätte, 400 Abgeordnete oder die [notwendige] Anzahl, für eine [neue] Verfassung zu bekommen, würde die Lage heute ganz anders aussehen."

Erdoğans eigener Erklärung nach meinte er mit der "Lage" nicht den Anschlag in Dağlıca. Viele Twitter-Nutzer glaubten ihm das nicht und interpretierten die Äußerung als Hinweis darauf, dass die Wiederkunft des PKK-Terrors vom Staatspräsidenten mit provoziert worden sein könnte, um bei vorgezogenen Neuwahlen seine Chancen auf den Umbau des türkischen Staates in eine Präsidialrepublik zu verbessern.

Etwa 200 militante AKP-Aktivisten erzürnten diese Mutmaßungen so sehr, dass sie sich in der Nacht von Sonntag auf Montag vor dem Hürriyet-Redaktionsgebäude zusammenrotteten und dort unter "Allahu-Akbar"- und "Erdoğan"-Rufen die Fenster einwarfen und mehrere Räume verwüsteten. Unter den Demonstranten befand sich auch der ehemalige AKP-Jugendführer und jetzige Abgeordnete Abdurrahman Boynukalın. Er verlautbarte nach dem Angriff öffentlich, in der von ihm angestrebten neuen Türkei sei weder Platz für PKK-Terroristen, noch für die AKP-kritische Mediengruppe Doğan.

Als die PKK zwei Tage später in der Provinz Iğdır 13 Polizisten in die Luft sprengte, versammelte sich erneut ein Mob vor dem Hürriyet-Redaktionsgebäude und musste von Sicherheitskräften gewaltsam am Eindringen gehindert werden. Auch die Zeitung Sabah wurde am Dienstag Opfer solcher Angriffe.

Amateurvideo

Außerdem verwüsteten mutmaßliche Anhänger der AKP und der nationalistischen Oppositionspartei MHP (die am Montag zu Demonstrationen aufgerufen hatte) in Ankara, Antalya, Kırşehir und zahlreichen weiteren Städten Büros der Kurdenpartei HDP und kurdische Geschäfte. Dabei soll es auch zu Brandstiftungen gekommen sein. Mindestens ein Randalierer wurde festgenommen. Politiker der HDP kritisierten, dass die Polizei erst spät eingegriffen habe.

Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu verurteilte die Zerstörungen mittlerweile öffentlich, während türkische Medien darüber debattieren, ob die Vorfälle so eskalieren, dass die für den 1. November angesetzten Neuwahlen verschoben werden. Eine Verschiebung der Wahl könnte Erdoğan und Davutoğlu gelegen kommen, wenn die Umfragen weiter weder ein Scheitern der HDP noch eine absolute Mehrheit für die AKP erwarten lassen.

In der Zeit bis zu einer Neuwahl muss der AKP-Premier aber mit zwei HDP-Ministern im Kabinett regieren: Den für die Beziehungen zur EU zuständigen Ali Haydar Konca und Entwicklungsminister Müslüm Doğan. Der Verfassung nach hätten auch die MHP und die sozialdemokratisch-kemalistische CHP einen Anspruch auf Übergangsministerposten gehabt. Beide Parteien lehnten eine Teilnahme aber von sich aus ab.

Während die PKK in der Türkei bombt, versucht das türkische Militär die Terrorgruppe auf irakischem Boden zu besiegen: Die seit Juli geflogenen Luftangriffe auf PKK-Stellungen im nordirakischen Kurdengebiet wurden gestern durch den Einmarsch zweier Bodenbattallione in die Autonome Region ergänzt. Vor dem Waffenstillstand 2013 gab es bereits mehrere solcher Säuberungsversuche, die mit den Regierungen des irakischen Kurdengebiets abgesprochen wurden.

Im deutschen Koblenz stehen derweilen drei in Deutschland lebende Türken vor Gericht, denen die Bundesanwaltschaft vorwirft im Rahmen einer Geheimorganisation als "Gesinnungswächter und Blockwarte" Kurden und andere Landsleute ausspioniert zu haben. Dabei ging es angeblich weniger um Terrorismus als beispielsweise um abfällige Bemerkungen über Erdoğan, wegen denen ein Dritter "sofort fertigmacht" werden sollte, wie es in einem abgehörten Telefonat hieß.

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