Kreative Entzugserscheinungen
Ein Film über den Zensurapparat von Singapur geistert durch das Internet
In seinem spektakulären Kurzfilm Cut (2004) macht sich der Filmemacher Royston Tan über die drastische Zensurpraxis in Singapur lustig.
Als Royston Tan mit "15" einen kontroversen Film über die dunklen Abgründe des Teenager-Daseins in Singapur fertiggestellt hatte, bekam er es abschließend mit dem Zensurapparat in Singapur zu tun. Man verlangte 27 Schnitte, was den sensiblen Regisseur an den Rand der Verzweifelung gebracht haben soll. Wie die Taipei Times sowie die Strait Times jüngst berichtet haben, ist das Ergebnis dieser traumatischen Erfahrung eine Kompensationsleistung im Kurzfilmformat: Tans neuster Film "Cut" ist ein als Satire angelegtes 15-minütiges Musical, das sich vor allem über Amy Chua, die Beauftragte für Medieninhalte bei der "Media Development Authority"(MDA), mokiert. (siehe Bild)
Die Tatsache, dass der Film im Internet Verbreitung gefunden hat und nur in kürzester Zeit auf einer lokalen Website mehrere Tausend Downloads verbuchen konnte, dürfte einige verwundern. Vor allem jene, die den Grad der Kontrolle im singapurianischen Cyberspace unerträglich hoch eingeschätzt hatten. Andere wiederum, die stets das Gegenteil behauptet haben, dürften sich bestätigt fühlen. Zu nennen wären beispielsweise Wissenschaftler wie Peng Hwa und Brian Lee, die argumentieren, dass die Kontrolle im Internet "light-handed in practice" sei. Ihrer Auffassung nach, sei es in Singapur wesentlich entspannter als in den Vereinigten Staaten. Ihr Argument: Dort sind Hunderte wegen sträflicher Handlungen, die über das Internet begangen wurden, inhaftiert worden. Im Vergleich dazu seien die schweren Fälle in Singapur an einer Hand abzuzählen. James Gomez geht in seinem Buch "Internet Politics: Surveillance and Intimidation in Singapore" sogar soweit zu sagen, dass die Bürger die Kontrolle über ihre Wächter haben:
Net savvy Singaporeans employ superior techniques and counter-surveillance strategies to outsmart the authorities policing cyberspace usage. In the information age, those who spy and intimidate on behalf of the government run the risk of being exposed on the Internet.
Hintergrund dieser Debatte ist ein weltweit einmalige Situation: In Singapur herrscht "the world's first 100% ISDN availability". Jeder Haushalt und jedes Büro kann eine ISDN-Verbindung beantragen und auch erhalten. Dem Digital Access Index 2002 nach haben 0.75 der Bevölkerung Internetzugang. Dieser Bevölkerungsteil - und das lehrt wiederum der Globalization Index - nutzt das Internet in hochgradig globaler Weise. In diesem Punkt überragt der Stadtstaat selbst jene Länder in Asien, Europa und Amerika, die noch stärker als Singapur verkabelt sind. Dabei ist in Singapur die Skepsis der Bevölkerung gegenüber den im Internet verbreiteten Informationen mit 18,3 % etwa genauso groß wie in Deutschland und damit deutlich größer als in den USA. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Amerikaner leichtgläubiger sind als der Durchschnitts-Singapurianer.
Diese Skepsis ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Regierung gezielt Zweifel und Ängste in Bezug auf das Internet schürt. Obgleich es in Singapur einen hohen Grad an Vertrautheit gegenüber dem Internet gibt, betrifft das nur die technisch-formale und nicht die inhaltliche Ebene. Wie der stellvertretende Ministerpräsident Lee Hsien Loong 2001 im Vorfeld der Wahlen zu verstehen gab: "Im Internet werden Information und Disinformation genauso schnell verbreitet, und es ist oft nicht leicht, sie unterscheiden zu können." Mit dieser Internetpolitik hatte der Staat in Singapur stets zum Ziel, sich eine quasi absolute Kontrolle zu sichern. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten diese Bestrebungen, als das Parlament in Singapur einen Zusatz zum Computer Misuse Act verabschiedete. Mit dem Vorwand, die Bevölkerung vor Cyber-Terrorismus in Schutz nehmen zu wollen, wurden die Befugnisse von Polizei und anderen Sicherheitskräften erheblich erweitert und eine Dauerüberwachung des Internet ermöglicht.
Die Tatsache, dass das Internet erst Mitte der 1990er Jahre in Singapur eingeführt wurde und in nur einigen Jahren zu quasi-absoluter Verbreitung gefunden hat, wird immer wieder als eine weitere Etappe der sagenhaften Erfolgsgeschichte von Singapur verkauft. Doch als 1997 die nationale Infrastruktur "Singapore ONE" (One Network for Everyone) lanciert wurde und in Windeseile etabliert werden konnte, war nicht nur ein Zeichen des Erfolges. Im Umkehrschluss zeigte sich auch, wie gut der Staat in Singapur sein Territorium und seine Bürger im Griff hat. Denn wirklich harte Gesetzte mussten von Seiten der Singapore Broadcasting Authority nicht erlassen werden, um das Internet in Singapur zu kontrollieren. Bereits in den 1980er Jahren waren die Einmischungen der Regierung im Vergleich zu den vergangenen Dekaden deutlich zurückgegangen. Wie Francis T. Seow diesbezüglich erklärt, war dies vor allem als Indiz dafür zu deuten, dass aggressive und direkte Interventionen zu dem Zeitpunkt so gut wie nicht mehr notwenig waren.
Was eingangs niemand bedacht hatte: Die Zensur in Singapur hat innerhalb der Bevölkerung zu einem Verlust an Kreativität, intellektueller Leidenschaft und kultureller Qualität geführt. Der junge Staat hatte eine Bevölkerung herangezüchtet, die eingeschüchtert war, sich kaum mehr etwas traute und darüber hinaus zu vorschneller Selbstzensur neigte. Bedenken über diese Entwicklung mehrten sich in den 1980er Jahren auch in Regierungskreisen. Man sprach von "Speichelleckerei" und begann sich über die Unterwürfigkeit der Bevölkerung Sorgen zu machen.
Parallel dazu wurden ersten Internetpläne im Parlament debattiert und die Rede von der Informationsgesellschaft kam auf. Bald wurde klar, dass das Internet ein großes ökonomisches Potential hat. Erkannt wurde auch, dass es vor allem die geistige Leistungsfähigkeit der Arbeiter sein würde, die internationale Wettbewerbsfähigkeit garantiert. Mentale Effizienz, darüber war man sich einig, stellte in Singapur kein Problem dar. Doch musste der gläserne Bürger nicht nur effizient, sondern auch kreativ sein. Vorraussetzung von Kreativität war wiederum eine geistige Ressource, die in Singapur offenbar abhanden gekommen war: Gegen überkommene Strukturen Neues denken und tradierte Regeln missachten zu können.
Vor diesem Hintergrund überrascht es weder, dass sich das Informationsministerium heute wie ein hippes Kreativlabor inszeniert, noch, dass regierungskritische Filme gelegentlich doch Verbreitung finden.