Krieg der Illusionen: Hat die Ukraine einen realistischen Plan für den Sieg?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Cherson.
(Bild: rawpixel.com)
Mediensplitter(44): Zeit neu nachzudenken – nach dem Scheitern der Gegenoffensive fordert der Economist eine Revision der westlichen Ukraine-Politik und Rekalibrierungen.
"As long as it takes"
Joe Biden
Es läuft gerade nicht gut für die Ukraine.
In der letzten UNO-Vollversammlung im September wurde sehr deutlich, dass man den Ukraine-Krieg außerhalb des Westens als lokales Problem der Europäer betrachtet, das diese möglich schnell und reibungslos ad acta legen sollten. Aus Sicht der Dritten Welt und früheren Blockfreien, die man heute gern "Globalen Süden" nennt, zieht die Ukraine zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Vor allem aber beschränkt der Krieg die Ausfuhr von Getreide, den diese Länder bitter nötig haben, weil sie ihre Bevölkerung nicht selbst ernähren können.
Die polnische PiS-Partei macht Wahlkampf auf Kosten der Ukraine, und blockiert seit Monaten den Transit des ukrainischen Getreides. Die Ukraine reagiert beleidigt: Aus dem "Retter der Ukraine" (Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki) ist ein "Solidaritäts-Theater [1]" (Selenskyj in der UNO-Rede) geworden.
Kein Geld mehr für Selenskyj
Der US-Kongress hat seine Zahlungen an die Ukraine vorläufig eingestellt. Nachdem das Parlament in Washington im letzten Moment einen drohenden Shutdown des Haushalts verhindert hat, steht die Ukraine als Verlierer da. Denn der am Samstagabend verabschiedete Übergangshaushalt enthält keine weitere Unterstützung für Kiew.
Als Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche im US-Kongress für weitere Unterstützung warb, verhinderte der republikanische Mehrheitsführer McCarthy, dass der ukrainische Präsident vor beiden Kammern des Kongresses sprechen konnte.
US-Präsident Joe Biden hat am Sonntag den Ukrainern zwar dennoch die anhaltende Unterstützung Washingtons zugesichert: "Ich möchte unseren amerikanischen Verbündeten, dem amerikanischen Volk und den Menschen in der Ukraine versichern, dass sie auf unsere Unterstützung zählen können. Wir werden uns nicht zurückziehen", sagte Biden in einer im Weißen Haus gehaltenen Ansprache.
Krieg der Illusionen: Die Gegenoffensive ist gescheitert
Schließlich und wohl am wichtigsten: Die im Juni begonnene sogenannte "Gegenoffensive" der Ukraine kam nie richtig in Fahrt. Trotz kräftiger Mithilfe nicht zuletzt deutscher Medien, die immer neue "Siege", "Durchbrüche" und entscheidende Schläge verzeichnen, ist die Gegenoffensive bereits jetzt gescheitert.
Der Plan war ursprünglich, dass ukrainische Truppen, ausgestattet mit modernen westlichen Waffen und nach monatelanger Ausbildung in Deutschland, ausreichend Gebiete zurückerobern könnten, um der politischen Führung bei den folgenden Verhandlungen eine starke Ausgangsposition zu verschaffen.
Aber auch hier ist der Ukraine-Krieg ein Krieg der Illusionen. Denn dieser Plan funktioniert nicht, trotz hoher Opferzahlen: Tatsächlich sind derzeit (Stand 1.10.2023) weniger als 0,25 Prozent des Juni von Russen besetzten Gebietes durch Ukrainer zurückerobert worden. Zwar kann den Ukrainern immer noch ein Durchbruch gelingen "Doch angesichts der Erkenntnisse der letzten drei Monate wäre es ein Fehler, sich darauf zu verlassen." (Economist vom 23.09.)
Stattdessen liefern sich beide Seiten einen Zermürbungskrieg, bei dem Russland über die größeren Reserven verfügt.
Wann wird der Krieg enden?
Zusammenfassend: Die Ukraine hat zunehmend Schwierigkeiten, mit ihrem Vorgehen, ihren Wünschen und Forderungen noch Akzeptanz zu finden. Der Westen verliert langsam die Geduld mit Kiew.
Bei den Verbündeten der Ukraine macht sich Kriegsmüdigkeit breit.
Selenskyj hat noch ungefähr ein Jahr, um möglichst viele Gebiete zurückzuerobern. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass danach der Druck zu verhandeln massiv werden wird.
Die zentrale Frage ist denkbar einfach: Hat die Ukraine einen Plan für einen Sieg? Wie sieht der Plan aus? Ist er realistisch? Wann wird der Krieg enden? Zurzeit gibt es keine Antworten auf diese immer stärker drängenden Fragen.
Sicherstellen, dass die Ukraine das Durchhaltevermögen hat, einen langen Krieg zu führen
In seiner neuesten Ausgabe plädiert das marktliberale, grundsätzlich sehr Pro-Ukraine-parteiische britische Magazin "Economist" [2] für ein grundsätzliches westliches Umdenken in Bezug auf die Ukraine: "Time to Re-think", lautet der Titel.
Der Gedankengang: Die sogenannte Gegenoffensive lähmt den Blick des Westens wie seine Ressourcen. "Anstatt zu 'siegen' und dann wiederaufzubauen, sollte das Ziel darin bestehen, sicherzustellen, dass die Ukraine das Durchhaltevermögen hat, einen langen Krieg zu führen – und trotzdem gedeihen kann."
Das Magazin fordert drei "Rekalibrierungen": Militärisch, ökonomisch und politisch. Militärisch müsse man die Erschöpfung der Ukraine anerkennen: "Viele ihrer Besten wurden getötet. Trotz der Wehrpflicht mangelt es an Soldaten, um eine dauerhafte, groß angelegte Gegenoffensive durchzuhalten." Man müsse sich auf einen mehrjährigen Krieg einstellen: "Erwarten Sie keinen Knockout-Schlag."
Ökonomisch sei ebenfalls eine Neuausrichtung nötig. Weniger hochtrabende Pläne für die Zeit nach dem Krieg und mehr Aufmerksamkeit für die Steigerung der Produktion und der Investitionsausgaben jetzt: "Es bedarf weiterer Maßnahmen, um die Geschäftsabwicklung zu erleichtern, von der Anerkennung von Qualifikationen, die Flüchtlinge im Ausland erworben haben, bis zum Angebot von Kriegsversicherungen für Unternehmen."
Wirtschaftlicher Abnutzungskrieg
In einem weiteren Stück liefert das Magazin [3] im selben Heft detaillierte und konkrete Fakten über die finanziellen Kosten des Kriegs und ihre vermeintliche Entwicklung.
Die Kosten für Ausrüstung und Munition schießen in die Höhe. Ein Beispiel: Eine NATO-Artilleriegranate kostet ab 5.000 US-Dollar. Eine russische nur gut zehn Prozent davon: "etwa 620 US-Dollar". Der große Unterschied sei auf billigere Arbeitskräfte und Materialien, minderwertigere Produkte und geringere Gewinnspannen der russischen Waffenhersteller zurückzuführen, von denen sich die meisten in Staatsbesitz befinden.
Die Sanktionen des Westens würden die Produktion in Russland nicht wesentlich beeinträchtigen: Russland würde 500 bis 800 Panzer pro Jahr produzieren. Nach einem langsamen Start würde Russland jetzt in hohem Tempo produzieren, das im Westen frühesten in der zweiten Jahreshälfte 2024 erreicht würde. Russland habe einen hohen Bestand an Munition, während die Vorräte der westlichen Armeen erschöpft seien.
Der Abnutzungskrieg findet auch auf der Ebene der Wirtschaft und der Mentalitäten statt.
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spiegel.de/ausland/uno-rede-von-wolodymyr-selenskyj-polen-bestellt-wassyl-swarytsch-ein-a-6ddfb850-d5ba-49f1-8342-fee36b498c29
[2] https://www.economist.com/leaders/2023/09/21/ukraine-faces-a-long-war-a-change-of-course-is-needed
[3] https://www.economist.com/briefing/2023/09/21/western-help-for-ukraine-is-likely-to-diminish-next-year
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