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Krieg gegen den Terror

The Day of the Jackal

Kolonialismus ohne Lernfortschritt

Die Schlacht um Algerien - Teil 1

Vor 50 Jahren, im Frühling 1962, endete der Algerienkrieg. Dieser Krieg war einer der wichtigsten Konflikte der Nachkriegszeit. Er diente Befreiungsbewegungen und Terrororganisationen weltweit als Vorbild, brachte Frankreich an den Rand eines Militärputsches, und die Spätfolgen sind noch heute spürbar, in Algerien und auch in den französischen Vorstädten. Gut nachvollziehen lässt sich der Konflikt anhand eines Films, der 1966 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Der Film verherrlicht für die einen den Terrorismus, für die anderen ist er ein Dokument des Antikolonialismus. Über Afghanistan, den Irak, Syrien, Guantanamo, Abu Ghraib und den "Krieg gegen den Terror" hat er genauso etwas zu sagen wie über die französischen Präsidentschaftswahlen. Der Film erzählt zugleich vom Freiheitskampf eines unterdrückten Volkes, von einer großen Tragödie und davon, dass der Tod keine Staatsangehörigkeit hat. 2003 sahen ihn die Strategieexperten des Pentagon, um dann alles zu ignorieren, was sich aus ihm lernen lässt. Heute ist der Film noch aktueller als 1965, als er gedreht wurde. Das ist die größte Tragödie.

Kann sich noch jemand an The Day of the Jackal erinnern, Fred Zinnemanns mit kühler Präzision in Szene gesetzte Verfilmung des internationalen Bestsellers von Frederick Forsyth? Die Untergrundorganisation OAS heuert einen Auftragskiller an, der den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle ermorden soll. Es geht da um die Nachwehen des Algerienkonflikts, der je nach Berechnungsmethode zwischen einer halben und einer Million Menschenleben kostete (oder sogar noch mehr), bis heute ein unbewältigtes und lieber totgeschwiegenes Trauma - und innen- wie außenpolitisches Problem - der Franzosen ist und auch für die Algerier nicht so endete, wie man es ihnen hätte wünschen mögen.

Aus The Day of the Jackal wäre ein anderer Film geworden, wenn es nicht Gillo Pontecorvos La Battaglia di Algeri gegeben hätte, den Zinnemann ganz sicher kannte, als er seinen Thriller drehte. Wenn man Jackal und Battaglia hintereinander sieht, erhellen sie sich gegenseitig und man erkennt, dass Zinnemann einige von Pontecorvos ästhetischen Strategien übernommen hat. Das ist ein schönes Beispiel für das gewinnbringende, einen Mehrwert ergebende Zusammentreffen zweier scheinbar ganz unterschiedlicher, unter völlig konträren Bedingungen entstandener Filme, wie es das früher öfter gab und im Zeitalter des sterilen Blockbuster-, Star- und Bürokratenkinos leider immer weniger.

Pontecorvos Meisterwerk des Counter-Cinema beeinflusste das Mainstream-Kino und vielleicht auch die Wirklichkeit. Die Schlacht um Algier lief nicht in den von Hollywood kontrollierten Filmpalästen, wurde aber von der IRA, der RAF, den Black Panthers und Befreiungsbewegungen aller Art als eine Art Lehrfilm für die Stadtguerilla studiert, hatte einen festen Platz auf den Spielplänen amerikanischer Studenten- und Filmkunstkinos, wo sich der Widerstand gegen den Vietnamkrieg formierte, soll (unbestätigten Berichten nach) den Folterknechten in südamerikanischen Militärdiktaturen zur Fortbildung gedient haben, tritt den Beweis an, dass ein linker Politfilm weder langweilig noch doktrinär sein muss, sollte zum Pflichtprogramm von Entscheidungsträgern gehören, die dieselben Fehler nicht dauernd wiederholen wollen, hat auch noch einen legendären Soundtrack von Ennio Morricone zu bieten und ist schlicht und einfach ein grandioser Film. Welche Lehren aus ihm zu ziehen sind, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Zwischen Galliern und Arabern

Die Schlacht um Algier beginnt in einem Moment, in dem die Franzosen glaubten, dass sie den Krieg gewonnen hätten sowie mit zwei Fragen, die der Film mehrfach stellt. Die eine ist moralischer, die andere eher pragmatischer Natur: Darf man Menschen foltern und kann man damit seine Ziele erreichen? Frage 2, so scheint es, ist vorläufig mit Ja zu beantworten. Ein kleiner schmächtiger Mann hat unter der Folter die Adresse verraten, wo sich Ali La Pointe versteckt hält, der letzte noch nicht festgenommene oder getötete Anführer der FLN in der Kasbah. Jetzt sitzt der kleine Mann, nur mit einer Unterhose bekleidet und vor Schmerzen zitternd, auf einem Stuhl und darf einen Schluck Kaffee trinken wie der Pinguin im Zirkus vom Dompteur einen Fisch bekommt, wenn er brav sein Kunststück vorgeführt hat. Nun habe er es hinter sich, sagt einer von den Fallschirmjägern, die ihn gefoltert haben, aber Colonel Mathieu, der Kommandeur des Regiments, verlangt noch einen letzten Dienst von ihm.

Der Mann soll die Soldaten zum Versteck führen und dabei eine französische Uniform tragen, um nicht erkannt zu werden. "Integration", scherzt ein Fallschirmjäger. Mathieu weist ihn zurecht. An der finalen Demütigung ändert das nichts. Der Mann hat Tränen in den Augen und wird daran gehindert, sich aus dem Fenster zu stürzen. Dann geht es los. Zu dynamischer, vorwärts treibender Musik dringen die Fallschirmjäger in die Kasbah und dort in eines der verwinkelten Häuser ein. Der Gefolterte zeigt auf eine verkachelte Wand. Hinter den Kacheln sitzt Ali La Pointe mit drei Gefährten im Versteck. Einer der Soldaten fordert ihn auf, herauszukommen und sich zu ergeben. Er sei der Letzte, es habe keinen Sinn mehr. Vom Gesicht Ali La Pointes führt uns eine Rückblende in das Algier des Jahres 1954.

Man könnte auch noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen, etwa in das Jahr 1830. Damals begann ein bis 1847 dauernder Krieg, an dessen Ende die Franzosen das zum Osmanischen Reich gehörende Algerien erobert hatten. Im Gegensatz zu Ländern wie Tunesien und Marokko, wo angestammte Herrscher formell im Amt blieben und "Protektorate" unter französischer Verwaltung entstanden, zielte die französische Kolonialpolitik in Algerien darauf ab, dauerhaft Kontrolle auszuüben, indem man die indigene Bevölkerung nach Süden abdrängte und durch eigene Leute ersetzte. Ideologisch, politisch und verwaltungstechnisch war Algerien keine Kolonie, sondern ein schließlich aus drei Départements bestehender Teil von Frankreich. Auch Deutschland spielte dabei eine Rolle. Als Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 musste Frankreich große Teile des Elsass und Lothringens abtreten. Das geschah unter militärstrategischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten, Sprachgrenzen wurden nicht berücksichtigt. Viele französischsprachige Elsässer und Lothringer flohen nach Frankreich, und wenn da kein Platz für sie war, schickte man sie nach Algerien.

Der Plan, in Algerien etwas ähnliches zu versuchen wie in Nordamerika, ging trotz aller Anstrengungen nicht auf. Die Kolonisten blieben auf die Küstenstädte konzentriert, wo sie eigene Viertel bewohnten und machten nie mehr als 13 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, was auch nur dadurch erreicht wurde, dass man zugewanderte Spanier, Italiener und Malteser sowie die jüdische Minderheit einbürgerte und zu "Franzosen" erklärte. Ich werde hier die damals übliche Einteilung in "Franzosen" und "Moslems" (musulmans) übernehmen. Das ist nicht politisch korrekt, sorgt aber für mehr Klarheit als ein Begriff wie "Algerier", womit eingewanderte und eingebürgerte Franzosen und Menschen autochthoner jüdischer Abstammung genauso gemeint sein können wie die indigenen und nicht notwendigerweise muslimischen Bevölkerungsgruppen. "Moslem" war im Zeitalter des Kolonialismus, etwas vereinfacht, die Sammelbezeichnung für alle, die keine "Franzosen" waren. In den 1950ern kam der Begriff pieds-noirs (Schwarzfüße) als Bezeichnung für die weißen, europäischstämmigen Siedler in Algerien, Marokko und Tunesien auf. Einer Theorie nach geht er auf die schwarzen Stiefel der ersten Siedler zurück. Eine andere meint, dass die Pieds-noirs so heißen, weil sie schwarze, aus Kalifornien importierte Rebstöcke anpflanzten oder weil sie nach dem Zerstampfen der Trauben schwarze Füße hatten.

Die französische Algerienpolitik ist ein Paradebeispiel dafür, wie man sozialen Sprengstoff anhäuft und dann selbst die Lunte legt. Obwohl offiziellen Verlautbarungen nach in Frankreich und nicht in einer Kolonie lebend, waren die Moslems Bürger zweiter Klasse mit stark eingeschränkten Rechten und ohne französische Staatsangehörigkeit. Nach einer "Reform" des Wahlrechts zählte die Stimme eines Franzosen zehnmal soviel wie die eines Moslem. Ihr "Sonderstatus" erlaubte es den Moslems auch nicht, ein politisches Amt zu bekleiden. Die privilegierten Franzosen beanspruchten die fruchtbarsten Böden für sich und bauten eine blühende Landwirtschaft nach europäischem Muster auf, was aus ihrer Sicht eine große Leistung war. Umgekehrt mussten die Moslems dabei zusehen, wie die Kolonialherren den Reichtum ihres Landes ausbeuteten, ohne ihnen etwas abzugeben und ohne sie an den vermeintlichen Segnungen der europäischen Kultur teilhaben zu lassen. Die Franzosen waren die Herren und die Moslems (offiziellen Statistiken nach besuchten maximal 14 Prozent ihrer Kinder eine Schule) waren die Diener. Als 1954 der Unabhängigkeitskrieg begann, gab es auf Seite der Moslems nur etwa tausend Universitätsabsolventen und keinen nennenswerten Mittelstand. Das spricht Bände.

Die Moslems versuchten jahrzehntelang, auf legalem Wege und innerhalb des ihnen aufoktroyierten Systems Veränderungen herbeizuführen. Einer der Väter des algerischen Nationalismus war Messali Hadj, der Führer des 1926 in Paris gegründeten Étoile Nord-Africaine. Der "Nordafrikanische Stern" war eine Organisation von als Industriearbeiter nach Frankreich gekommenen Moslems, die als erste offen für die Unabhängigkeit Algeriens eintrat. 1936 gründete Messali die Parti du peuple algérien (PPA, "Partei des algerischen Volkes"), die 1939 verboten wurde und sich danach als Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques ("Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten") neu formierte. Die MTLD war rechtlich anerkannt und stellte von 1946 bis zu ihrem Verbot im Jahr 1954 Kandidaten bei Kolonialwahlen auf. Weil die Partei zu viel Zulauf hatte, wurden die Resultate im großen Stil manipuliert. Auch die Wahlfälschung ist ein Erbe des europäischen Kolonialismus.

Die in Algerien ausgehobenen Regimenter wurden in zwei Weltkriegen als Kanonenfutter verheizt. Bei der Befreiung Frankreichs von den Nazis waren algerische Truppen überproportional stark vertreten. Als am 8. Mai 1945 der Sieg über Deutschland gefeiert wurde, forderten die Moslems eine Anerkennung des von ihnen entrichteten Blutzolls und mehr Rechte. Die Kolonialherren wollten weitermachen wie bisher. In Sétif kam es am 8. Mai bei einer Demonstration zu Polizeiübergriffen und zu Ausschreitungen, in deren Verlauf etwa hundert französische Siedler getötet wurden. Die Behörden antworteten mit brutaler Repression, beschossen Dörfer mit Mörsern und richteten Massaker an, bei denen nach heutigen algerischen Angaben 45.000 Menschen getötet wurden. Wie fast immer in solchen Fällen gibt es nur vage, je nach Interessenlage stark divergierende Schätzungen der tatsächlichen Opferzahlen. Davon unberührt bleibt, dass die Massaker vom Mai 1945 eine ganze Generation nachhaltig prägten.

Die Kindheit von Mohammed Harbi, FLN-Aktivist und Autor eines Standardwerks über deren Geschichte, ist untypisch, weil er als Mitglied einer begüterten Familie Zugang zu Bildungseinrichtungen hatte, die den meisten anderen verschlossen blieben und doch bezeichnend für die innere Zerrissenheit und die Identitätsprobleme vieler Moslems. Harbi besuchte eine französische Schule, wo er lernte, dass die Gallier seine Vorfahren seien. Zuhause sagte man ihm, dass seine Vorfahren Araber waren. Als er auf eine Ulama-Schule ging (die Ulama sind Religionsgelehrte des Islam), erfuhr er dort etwas über die Geschichte Algeriens und dass er - im damaligen Sprachgebrauch - ein Araber und Moslem sei. Mit 15 trat er in die Front de Libération Nationale (FLN) ein, die Nationale Befreiungsfront.

Viele junge Leute wie er verlangten, entweder als vollwertige Franzosen mit allen Rechten oder als Algerier anerkannt zu werden. Die Kolonialherren lehnten das ab. In Algerien gab es auch eine Tradition des bewaffneten Widerstands. An diesen wollte die aus der MTLD hervorgegangene FLN anknüpfen. Ermutigt wurde sie dadurch, dass der Kolonialismus weltweit auf dem Rückzug war. In Marokko und Tunesien waren die Franzosen nach bewaffneten Auseinandersetzungen Anfang der 1950er zu Zugeständnissen bereit, die zu Autonomie und Unabhängigkeit führten. Die FLN erhoffte sich dasselbe für Algerien. Sie war eine nationalistische, keine kommunistische Organisation. Die Franzosen scheinen das nie so recht begriffen zu haben. Mit einem Gegner, den man nicht versteht, hat man es besonders schwer. Von hier an lässt sich die Geschichte anhand von Pontecorvos Die Schlacht um Algier gut weitererzählen.

Realer Spielfilm

Gillo Pontecorvo, 1919 als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes in Pisa geboren, wollte ursprünglich einen akademischen Beruf ergreifen, was auch an den antisemitischen Regelungen in Mussolinis Italien scheiterte. Pontecorvo stammte aus einer jüdischen Familie. 1938 ging er nach Frankreich, wo er sich als Tennisspieler durchschlug, seinen politischen Horizont erweiterte und Zeitgenossen wie Pablo Picasso und Jean-Paul Sartre kennenlernte. 1941 trat er in die Kommunistische Partei Italiens ein (die er 1956, nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes, wieder verließ). Zurück in Italien, war er von 1943 bis 1945 an führender Stelle im antifaschistischen Widerstand tätig. Nach dem Krieg wollte er zunächst Photoreporter werden. Dann sah er Roberto Rossellinis Paisà, worauf er sich eine 16-mm-Kamera kaufte und mit dem Drehen von sehr sorgfältig recherchierten Dokumentarfilmen begann. Mit Kapò - einem unterschätzten, zu wenig gesehenen und moralisch komplexen Spielfilm über die Vernichtungslager der Nazis - erhielt er 1961 eine Oscarnominierung für den besten fremdsprachigen Film.

Pontecorvo interessierte sich zeitlebens für Leute, die darum kämpfen, ihr Los zu verbessern. Nach Kapò wollten er und sein Drehbuchautor Franco Solinas einen Film über den Algerienkrieg machen. Das Skript, das sie dafür verfassten, war eher konventionell. Der Held, den Paul Newman spielen sollte, war als Fallschirmjäger in Indochina, ist inzwischen Journalist, wird von seiner Zeitung nach Algerien geschickt und so weiter. 1962, noch vor dem Abzug der Franzosen, reiste Pontecorvo nach Algerien, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen. Der Film kam über eine erste Planungsphase nicht hinaus, aber weil Paul Newman mitwirken sollte, gab es Presseberichte über das Projekt. Einen davon las Saadi Yacef, der dadurch auf den Gedanken kam, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Das ist zumindest die Version, die ich für die wahrscheinlichste halte. Je länger die Beteiligten an einem Film leben und je mehr Interviews sie geben, desto mehr Varianten sind irgendwann im Umlauf.

Yacef, früher Chef des militärischen Arms der FLN in der "Autonomen Zone von Algier", zum Tode verurteilt und von de Gaulle begnadigt, hatte von 1957 bis 1962 in französischen Gefängnissen gesessen, viel Zeit zum Überlegen gehabt und ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben (Souvenirs de la Bataille d'Alger), das er verfilmen wollte. Ihm gefiel die Idee, in einem mediterranen Land wie Italien einen Regisseur zu suchen. Die FLN fragte bei Francesco Rosi (keine Zeit), Luchino Visconti (keine Einigung auf die Modalitäten) und eben bei Gillo Pontecorvo an. Pontecorvo und Solinas hielten Yacefs Exposé für unbrauchbar, weil es den Unabhängigkeitskrieg zu stark glorifizierte und schlugen stattdessen vor, ein neues, von ihnen auf der Grundlage seines Buchs zu erarbeitendes Skript zu verfilmen. Yacef war einverstanden. Pontecorvo und Solinas verbrachten dann etwa sechs Monate in Algerien, um die Hintergründe zu recherchieren, Schauplätze zu besichtigen und mit Zeugen zu sprechen.

Pontecorvo drehte an Originalschauplätzen. Dank der FLN hatte er die volle Unterstützung der Algerier. Die Realisierung des Projekts erwies sich trotzdem als schwierig, weil Pontecorvo den Film nun ohne Hollywoodstars machen wollte und darum keine Geldgeber zu finden waren. Ein berühmter italienischer Produzent fragte ihn, ob er ihn für einen Idioten halte; ein italienisches Publikum interessiere sich nicht für die "Neger". Pontecorvo entschied sich schließlich dafür, den Film selbst zu produzieren. Die FLN übernahm knapp die Hälfte der Kosten. Den Rest brachten Pontecorvo, Solinas und ein Netzwerk von Freunden auf. Alle Rollen bis auf eine wurden mit Laien besetzt. Das hatte einen finanziellen Grund (die Bewohner von Algier waren billiger als italienische Schauspieler, es fielen auch keine Reisekosten an), und es kam Pontecorvos Arbeitsweise sehr entgegen.

Als jemandem, der beinahe Photograph geworden wäre, war ihm die schauspielerische Erfahrung eines Darstellers weniger wichtig als sein Gesicht. Dieses musste zu der Rolle passen, wie Pontecorvo sie sich beim Schreiben des Drehbuchs vorgestellt hatte. Wenn es Wochen oder Monate dauerte, das richtige Gesicht zu finden, war das nicht zu ändern. Der Mann, der am Anfang gefoltert wird, saß im Gefängnis, als Pontecorvo ihn entdeckte; für die Dreharbeiten erhielt er Freigang. Yacef spielte sich mehr oder weniger selbst - nicht, weil er das Vorbild für El-Hadi Jaffar war, sondern weil er so aussah, wie sich der Regisseur einen solchen FLN-Führer vorstellte. Yacef gab das auch die Möglichkeit, ein Auge auf die Entstehung des Films zu haben. Obwohl Pontecorvo, ein freundlich und umgänglich wirkender Mensch, für seine Kompromisslosigkeit bekannt und bei manchen auch gefürchtet war, würde ich doch annehmen, dass er hin und wieder auf die Befindlichkeiten der FLN Rücksicht nehmen musste - dies allerdings in viel geringerem Umfang als zu befürchten.

Wie schwer wir uns von den eingefahrenen, durch Hollywood geprägten Sehgewohnheiten trennen ist an der Mehrzahl der Filmkritiken zur Schlacht um Algier abzulesen. Bei der Lektüre muss man den Eindruck gewinnen, dass es auch ohne Paul Newman einen charismatischen, im Mittelpunkt der Handlung stehenden Helden gibt, der Ali La Pointe heißt, die FLN zu ihren Siegen über die Franzosen führt und am Ende tragisch stirbt. Im Mittelpunkt des Films steht aber kein Individuum, sondern die Bevölkerung von Algier und eine Befreiungsbewegung. Die übliche Liebesgeschichte gibt es auch nicht. Das war (und ist) äußerst ungewöhnlich. Pontecorvo musste einen Weg finden, trotz des Verzichts auf ein psychologisches Erzählen das Interesse des Kinopublikums zu wecken sowie für die Dauer von zwei Stunden wachzuhalten und zur Identifikation mit einer Heldin einzuladen, die nicht von Sophia Loren verkörpert wurde, sondern von einer nach Selbstbestimmung strebenden Nation. Seine Lösung: Er drehte Die Schlacht um Algier in schwarz/weiß (wie die Kino-Wochenschau und die TV-Nachrichten vor der Einführung des Farbfernsehens) und im Stile eines Dokumentarfilms.

Der Regisseur und sein Kameramann Marcello Gatti experimentierten mit verschiedenem Filmmaterial, bis sie die von Pontecorvo auch schon bei Kapó angestrebten, grobkörnigen und sehr kontrastreichen Bilder erhielten. So entstand eine Form von Hyper-Realismus: die täuschend echte, in ihren ästhetischen Übertreibungen geschickt dosierte Nachahmung eines Dokumentarfilms. Das gelang so gut, dass später immer wieder der Vorwurf erhoben wurde, Pontecorvo habe bestimmte Dinge unzulässigerweise ausgespart und anderes hinzuerfunden, als handele es sich um eine Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Dokumentation über den Algerienkrieg. Die Schlacht um Algier zeigt aber ganz bewusst nur einen Ausschnitt und ist ein auf wahren Begebenheiten beruhender Spielfilm. Amerikanische Verleihkopien begannen früher mit dem Hinweis, dass der Film nur aus nachgestellten Szenen bestehe und kein Dokumentarmaterial verwendet worden sei. Das war mehr als nur Koketterie. Die Bilder wirken echt (das "Echte" im Dokumentarfilm ist auch nur eine Sehgewohnheit) und einige von den Terroranschlägen sogar echt gefährlich. In Hollywood oder in Cinecittà hätte das so wahrscheinlich gar nicht gedreht werden können.

Gefühl der Wahrheit

Ali La Pointe gab es wirklich. Er war ein Zuhälter, Drogendealer und Kleinkrimineller, der zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil er einen Polizisten geschlagen hatte. Im Gefängnis wurde er von mit ihm einsitzenden FLN-Aktivisten angeworben, die seinem Leben eine Richtung und ein Ziel gaben (eine nicht unübliche Geschichte: Jahre später traf ein Kleinkrimineller algerischer Abstammung namens Mohamed Merah im Gefängnis Islamisten, die ihm offenbar etwas bieten konnten, was er in der französischen Gesellschaft vermisste). Solinas und Pontecorvo haben aus Ali La Pointes Festnahme eine Szene gemacht, die zeigt, wie man in einer halben Minute die Handlung vorantreibt, eine Figur charakterisiert und einen größeren Konflikt etabliert. Auf einer Straße im europäischen Viertel von Algier verdient Ali sein Geld mit illegalem Glücksspiel. Er spricht teils arabisch und teils französisch. Die Spieler sind Franzosen. Eine Dame hat einen Polizisten geholt. Ali flieht, läuft durch die Straßen. An einer Ecke stehen junge Franzosen. Einer stellt Ali ein Bein - nicht um der Polizei zu helfen, sondern aus Spaß und weil man sich das bei Arabern erlauben kann.

Ali rappelt sich auf. Noch hätte er genug Zeit, dem Polizisten zu entkommen. Statt weiterzulaufen, starrt er den etwa gleichaltrigen Franzosen an. Da ist ein Gefühl des Widerstands, das stärker ist als jeder Fluchtgedanke. Jeder kleine Funke, denkt man, kann in dieser explosiven Stimmung eine Katastrophe auslösen. Ali schlägt dem Franzosen die Lippe blutig. Die anderen stürzen sich auf ihn und würden ihn womöglich tottreten, wenn nicht der Polizist käme, um ihn abzuführen. Während Ali zum Revier gebracht wird, fasst eine Off-Stimme seinen Lebenslauf zusammen: Analphabet, keine Schulbildung, Vorstrafen wegen Aufsässigkeit und Vandalismus etc. Ali, heißt das, ist ein Produkt der Gesellschaft, in der er lebt.

Im Gefängnis werden wir mit Ali Zeuge, wie ein Mann in den Innenhof geführt wird. "Allah ist groß!" ruft der Mann auf Arabisch, und: "Lang lebe Algerien!" Die Gefangenen in ihren Zellen stimmen mit ein. Ein Uniformierter hält dem Mann den Mund zu. Die anderen Gefangenen skandieren weiter das "Lang lebe Algerien!", bis die kleine Prozession den Hof erreicht hat. Im Innenhof wartet der Henker, hat man eine Guillotine aufgebaut. Wir sehen Alis Augen, die durch das Zellenfenster die Hinrichtung beobachten. Die Augen, die dabei zuschauen, wie die Franzosen versuchen, den Widerstand zu unterdrücken, werden im Film leitmotivisch wiederkehren. Während der Hinrichtung zeigt Pontecorvo eine Wand mit vielen Zellenfenstern. Hinter jedem Fenster gibt es weitere Augenpaare, die Zeuge des Geschehens werden. Ein FLN-Kämpfer wird getötet. Aber wie viele, fragt der Film, werden in diesem Moment neu geboren? Da weiß man schon, dass die Franzosen auf verlorenem Posten stehen.

Die von Pontecorvo besetzten Laien liefern alles andere als hölzerne Darbietungen ab. 1965, als der Film gedreht wurde, war die Erinnerung an das Gewesene noch sehr präsent. Die Mitwirkenden mussten sich nicht erst in ihre Rollen hineindenken, weil sie das Gezeigte selbst miterlebt hatten. Sie wussten aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn eine Besatzungstruppe in Häuser eindringt, wenn man regelmäßig gedemütigt wird und schließlich aufbegehrt. Dem Film gibt das eine Unmittelbarkeit, die mit Profis so kaum zu erreichen gewesen wäre. Brahim Haggiag, der den Ali La Pointe verkörpert, hatte eine ähnliche Biographie wie dieser. Den Mann, der zur Guillotine geführt wird, hatten die Franzosen auch im echten Leben zum Tode verurteilt. Was man sieht ist die pure Emotion, keine Schauspieltechnik. Trotzdem sind es inszenierte Bilder.

Pontecorvo war klar, dass sich Menschen, die wissen, dass sie gefilmt werden, nicht "echt" verhalten, sondern so, wie sie denken, dass es echt sei. Deshalb spielte er den Akteuren wenn nötig vor, was er von ihnen wollte und er wiederholte Einstellungen so lange, bis sie die Anwesenheit der Kamera vergessen hatten. Das steigert noch einmal die Intensität. Bedingt durch den Entstehungsprozess, ist der Film auch eine Reflexion über die Beziehung zwischen der Realität und ihrer Abbildung. Pontecorvo sagt in einem Interview, er habe versucht, ein "Gefühl der Wahrheit" zu vermitteln. Kann man mehr erwarten?

Algerische Verhältnisse

Viele FLN-Leute waren früher bei der Organisation Spéciale gewesen, dem 1950 aufgelösten paramilitärischen Flügel der PPA. Ermutigt von Gamal Abdel Nasser, der sich nach dem Militärputsch in Ägypten als starker Mann durchgesetzt hatte, beging sie am 1. November 1954 an dreißig verschiedenen Orten des Landes Anschläge auf Einrichtungen des Militärs, der Polizei und der Verwaltung. Das war eine Kriegserklärung an Frankreich. Die Taktik, an mehreren Orten gleichzeitig zuzuschlagen und mit einem Knalleffekt die Bühne des Terrorismus zu betreten, wurde später oft kopiert, bis hin zu 9/11. Begleitend zu den Anschlägen veröffentlichte die FLN ein Communiqué, in dem die Guerilla-Organisation ihre Existenz und ihre Ziele bekanntgab. Ahmed Ben Bella, eines von neun Gründungsmitgliedern der FLN, verlas sie - in arabischer und in französischer Sprache - im ägyptischen Radio. Heute haben wir uns an solche Bekennerbotschaften gewöhnt. Damals gab es bei terroristischen Anschlägen noch keine ritualisierten Abläufe. Die FLN war da durchaus stilbildend.

Zuständig für Algerien war der spätere Präsident François Mitterand, zu der Zeit Innenminister. Das macht die Schizophrenie der Situation deutlich. Was für die FLN ein Befreiungskampf gegen eine Besatzungsmacht war, wurde in Frankreich als innere Angelegenheit eingestuft, weil Algerien nicht als Kolonie galt, obwohl die Franzosen den Moslems die Bürgerrechte vorenthielten (französische Politiker behaupteten in ihren Reden frech das Gegenteil). Eine Verhandlungslösung kam für Mitterand nicht in Frage. Berühmt wurde ein Satz, den er am 5. November 1954 vor dem Innenausschuss der Nationalversammlung sagte: "Es gibt nur eine Verhandlung, das ist der Krieg!" Das Kriegführen ist aber eigentlich nicht die Aufgabe des Innenministers.

Pierre Mendès-France, der Regierungschef, sprang seinem Minister bei (Debatte in der Nationalversammlung, 11. November 1954): "Auf die kriminelle Energie einiger Männer müssen wir mit rückhaltloser Repression antworten, denn diese stellt kein Unrecht dar. […] Die Départements in Algerien sind Teil der Republik, und sie sind seit langem französisch." Damit war eine Sprachregelung gefunden, die bis 1962 Bestand hatte. Die FLN war keine antiimperialistische Organisation und schon gar nicht die Stimme der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit in Algerien, soziale Ungleichheit als Grund für den Aufstand wurde negiert. Es gab nur "einige Männer" mit krimineller Energie. An der Fiktion von den "einigen Männern" hielten französische Politiker sogar noch fest, als sie 1962 mit der 1958 von der FLN gebildeten "Provisorischen Regierung der algerischen Republik" über einen Frieden verhandelten. Der französische Delegationsleiter hatte sich eine Anrede für die "einigen Männer" ausgedacht, die er zwei Wochen lang eisern durchhielt: "Meine Herren auf der anderen Seite des Tisches".

Noch während die Franzosen mit der FLN verhandelten, weigerten sie sich, deren Existenz (und die sozialen Wurzeln der Unabhängigkeitsbewegung) anzuerkennen. Die Rhetorik des Jahres 1954 ist derjenigen sehr ähnlich, mit der Nicolas Sarkozy 2005 auf die Unruhen in den Banlieus reagierte. Die Vorstädte, in denen viele Menschen mit Migrationshintergrund und ohne Perspektive leben, sind soziale Brennpunkte, in denen nicht zuletzt die Spätfolgen der Kolonialpolitik zu besichtigen sind. Sarkozy fiel dazu der berüchtigte Kommentar über die "Gangster" ein (fünfzig Jahre vorher wären es "einige Männer" mit krimineller Energie gewesen), deren Schlupflöcher man mit dem Dampfstrahler (1954: "rückhaltlose Repression") reinigen müsse. Das brachte Wählerstimmen, aber keine Lösung des Problems. Nach einer Amtszeit des Law-and-Order-Präsidenten Sarkozy ist die Gewalt in den Banlieus nicht weniger, sondern mehr geworden. Menschen, die sich aus der bestehenden Gesellschaft ausgeschlossen fühlen, organisieren ihre eigene. In Marseille gibt es Viertel, wo die Polizei lieber nicht mehr aus dem Auto steigt. Das sind fast schon algerische Verhältnisse.

In Algerien übten die Behörden seit Mai 1945 einen so starken Druck auf die Opposition aus, dass schon Kleinigkeiten überlebenswichtig sein konnten und zu heftigen Diskussionen führten. Die Gegner des Kolonialregimes waren darum zerstritten und fast handlungsunfähig. Heutzutage, wenn die "Weltgemeinschaft" wieder einmal ohnmächtig (oder ihre jeweiligen Interessen wahrend) dabei zusieht, wie in nordafrikanischen Diktaturen Demonstranten massakriert werden, wird mit großer Sicherheit in den Fernsehnachrichten einer sagen, dass das Helfen schwierig ist, weil die Opposition zersplittert sei und man keinen Ansprechpartner habe. Wer etwas erreichen will, das erfuhr schon die FLN, muss als alleiniger Repräsentant akzeptiert werden, weil dann einzelne Gruppen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können. Der Weg dahin war blutig.

Parallelgesellschaft

Pontecorvo sympathisiert mit den Unterdrückten und also mit der FLN, lässt aber keinen Zweifel daran, dass alle Lager schlimme Dinge tun. Der Algerienkonflikt war sowohl ein Kolonialkrieg wie ein Bürgerkrieg mit mehreren Fronten. Die FLN tötete nicht nur Polizisten und Soldaten, sondern auch Zivilisten. Am 20. August 1955 führte sie im ostalgerischen Constantinois einen Aufstand hungernder Moslems an. Im heutigen Skikda, dem damaligen Philippeville, wurden dabei 123 Franzosen und der Kollaboration verdächtigte Moslems, darunter auch Kinder, Opfer eines Massakers. Die FLN strebte ein Einparteiensystem an. Messali Hadj, der Gründer der PPA, lehnte das ab. 1957 ermordeten [1] Kämpfer der zur FLN gehörenden "Nationalen Befreiungsarmee" die männlichen Bewohner des Dorfes Melouza, die sie für Messalisten hielten, mit Gewehren, Messern und Äxten. Die Angaben zu den Opferzahlen reichen von 303 bis zu 374 Toten.

Pontecorvo vorzuwerfen, dass er solche Massaker der FLN weggelassen hat ist nicht ganz fair, weil sich sein Film auf Algier konzentriert. Trotzdem kann so etwas leicht zur Ausrede werden. Darum ist die Frage interessant, wie Pontecorvo mit dem Alleinvertretungsanspruch der FLN in der Hauptstadt umgeht, und dort zunächst in der Kasbah. Die verwinkelte, in osmanischer Zeit gebaute Altstadt kennt man aus Julien Duviviers Pépé le Moko, wo die Polizei den von Jean Gabin gespielten Gangster nicht mehr fassen kann, wenn er erst in der Kasbah untergetaucht ist. Für die FLN war die Kasbah eine wichtige Operationsbasis.

Ramdane Abane

Hier muss jetzt Ramdane Abane genannt werden, den man nicht vergessen darf, wenn man von den Leichen spricht, die die FLN im Keller hat. Abane gehörte zur Führungsspitze der FLN in Algier, schrieb deren erstes politisches Programm, in dem er das Modell eines säkularen, in der Moderne verankerten Staates entwarf, trat für den Primat des politischen vor dem militärischen Flügel der FLN ein und wurde im Dezember 1957 von einer rivalisierenden Fraktion beseitigt, wahrscheinlich infolge eines Richtungsstreits. Seine Leiche wurde nie gefunden. 1965 war Ramdane Abanes Ermordung ein Tabuthema. Den charismatischen Ex-Vordenker in einem an Originalschauplätzen gedrehten und von der FLN gesponserten Film zu erwähnen, dürfte unmöglich gewesen sein. Er kommt nur indirekt vor: ohne Namensnennung und in Form von Zitaten aus von ihm verfassten Communiqués.

Auch der Freiheitskampf muss gut verkauft werden. Die FLN war keine islamistische Gruppierung, doch ihre Strategen setzten auf die Mobilisierung der Bevölkerung durch eine Mobilisierung ihres Glaubens und ihrer Selbstachtung (heute ein Erfolgsrezept der Islamisten). Die Emanzipation von der Kolonialherrschaft wurde zum Akt der Selbstreinigung erklärt: zur Reinigung eines muslimischen Algerien von nicht-muslimischen Elementen und zur Reinigung der muslimischen Gemeinde von "Verrätern". Dem Alkohol, der Prostitution und der Kriminalität wurde der Kampf angesagt. Ali La Pointe, obwohl innerhalb der Organisation eher ein kleines Licht, war eine wichtige Symbolfigur, weil der frühere Kriminelle die Seiten gewechselt hatte. Zuhälter und Gauner, die dazu nicht bereit waren, wurden eliminiert. Damit bewies die FLN, dass es ihr ernst war mit ihrem Feldzug gegen die Verdorbenheit - und sie schaltete mit den Banden die Konkurrenzorganisationen in der Kasbah aus.

In Pontecorvos Film erklärt Jaffar dem soeben in die FLN aufgenommenen Ali La Pointe, dass es in der Kasbah noch zu viele Säufer, Drogensüchtige und Huren gibt, Leute, die zuviel reden und potentielle Verräter. Die FLN müsse sie für sich gewinnen oder beseitigen. Dann erst könne man den wahren Feind bekämpfen. Anschließend verliest eine Off-Stimme das FLN-Communiqué vom April 1956, in dem es heißt, die Kolonialregierung sei nicht nur für die Verarmung und Versklavung des algerischen Volkes verantwortlich, sondern auch für die Erniedrigung der Brüder und Schwestern, die ihre Würde und ihre Selbstachtung verloren haben. Die FLN wolle dem ein Ende machen und erbitte die Mithilfe der Bevölkerung. Das sei der erste Schritt zur Unabhängigkeit. Drogen und Alkohol, Prostitution und Zuhälterei seien zum Wohle des algerischen Volkes verboten, Zuwiderhandlungen würden bestraft, im Wiederholungsfall mit dem Tode.

Pontecorvo zeigt uns einen Betrunkenen, der wie ein Aussätziger durch die Kasbah torkelt. Kleine Kinder hänseln ihn, stürzen sich dann auf ihn und schlagen ihn tot. Ein FLN-Aktivist schaut zu, als habe er den Mord in Auftrag gegeben. Das ist beklemmend. In einem Bordellbezirk sucht Ali La Pointe einen Bandenchef, mit dem er früher befreundet war. Der Mann, sagt er, sei zum Tode verurteilt, müsse sich der FLN anschließen oder sterben. Der Zuhälter will sich nichts vorschreiben lassen. Ali hat unter seinem Kaftan eine Maschinenpistole versteckt und erschießt ihn. Ist das ein Western, in dem der Sheriff die Banditen tötet? Ein Bandenkrieg in einem Gangsterfilm? Pontecorvo zeigt, ohne zu urteilen. Das überlässt er dem Zuschauer.

Es ist bemerkenswert, wie ungeschminkt diese Szenen sind. Vermutlich kam Pontecorvo nur damit durch, weil FLN-Leute wie Saadi Yacef solche Aktionen billigend in Kauf nahmen, als aus ihrer Sicht notwendiges Mittel zum Erreichen eines übergeordneten Zieles, und auch keinen Grund sahen, sie zu verschweigen, weil sie den Krieg gewonnen hatten und der Erfolg vieles rechtfertigte. Vielleicht konnte Pontecorvo sie auch deshalb unterbringen, weil er gleich danach die zivile Variante des Unabhängigkeitskampfes zeigte. Die FLN teilte Algerien in Bezirke auf und etablierte eine alternative Verwaltung. Wir erleben mit, wie ein Funktionär der FLN im Innenhof eines Hauses in der Kasbah eine Eheschließung vollzieht. Die FLN schafft sich da eine soziale Basis, was in der Realität nicht schwer war, weil sie in eine Lücke stieß. Insbesondere in ländlichen Gebieten baute die Armee erst unter dem Druck der FLN-Aktivitäten eine zivile Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung auf, mit Krankenhäusern und von französischen Offizieren geleiteten Schulen. Da hatten die Franzosen den richtigen Zeitpunkt längst verpasst. Wo der Staat versagt, kommen andere und nützen das für sich aus. Nicht nur in Algerien. Auch der so forsch gegen Islamisten wetternde Innenminister Friedrich und ein paar von seinen Kabinettskolleginnen könnten sich Die Schlacht um Algier mal anschauen. Filme sehen bildet.

Leider müsse man die Zeremonie im Geheimen vollziehen, sagt der Funktionär, weil das Land seit 130 Jahren von einer fremden Macht besetzt sei, aber das werde sich bald ändern. Die Anwesenden sprechen die traditionellen Gebete, die der Wind (begleitet von einem Kameraschwenk) über die Dächer der Kasbah hinüber zum europäischen Viertel von Algier trägt, deren Bewohner noch ahnungslos sind. Die FLN erhob sogar Abgaben. Mit den Einnahmen finanzierte sie ihre sozialen Angebote und den bewaffneten Kampf. So entstand eine Parallelgesellschaft, von der die Franzosen nicht viel mitbekamen, bis es zu spät war, wirksam dagegen vorzugehen - falls das je möglich gewesen sein sollte. Eine Lektion von Die Schlacht um Algier ist die, dass es Kriege gibt, die man nicht gewinnen kann. Wer von der großen Mehrheit der Bevölkerung als Besatzer wahrgenommen wird, hat langfristig keine Chance.

Spirale der Gewalt

Eine neue, rechts stehende Regierung in Paris begann im Februar 1955, etappenweise den Ausnahmezustand über Algerien zu verhängen. Im August 1955, nach dem bereits erwähnten Massaker von Philippeville, leiteten die Franzosen dieselben kollektiven Vergeltungsmaßnahmen ein wie im Mai 1945. Stellvertretend für die Täter wurden wahllos Moslems umgebracht [2], die in der Gegend wohnten. Am Ende des von der Armee und französischen Siedlern angerichteten Gemetzels gab es so viele Leichen, dass sie mit Bulldozern in Massengräbern verscharrt werden mussten. Die französischen Behörden gaben die Zahl der Opfer mit 1273 an. Das war vermutlich stark untertrieben, zeigt aber die erbarmungslose Logik hinter dem Abschlachten. Beim ersten, von der FLN verantworteten Massaker von Philippeville waren 123 Menschen ermordet worden. Für jeden dieser Toten mussten in der offiziellen Darstellung zehn Moslems sterben. Tatsächlich könnten es auch hundert gewesen sein. Die FLN veröffentlichte eine Liste mit den Namen von 12.000 Menschen, die ihren Angaben nach massakriert worden waren.

Hier wird ein Muster erkennbar, das den Behörden eigentlich vor Augen hätte führen müssen, dass ihre Methode zum Scheitern verurteilt war, dies aber offenbar nicht tat: Die FLN bringt Leute um. Zur Vergeltung bringen die Franzosen noch mehr Leute um. Die Getöteten haben Angehörige, die nun auch Franzosen töten wollen und so weiter. In einer Gesellschaft der Stämme und der Familienclans war dieses Vorgehen besonders fatal. Philippeville trieb Scharen von bisher moderaten algerischen Nationalisten in das Lager der FLN. Die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen stieg nun ständig (1957 waren es pro Monat fast 4000).

Noch ein Muster, auch bekannt aus Vietnam, Afghanistan, Irak: Wenn militärische Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg bringen, gibt es noch mehr militärische Maßnahmen. Dafür muss die Truppenpräsenz verstärkt werden, und dafür braucht man mehr Soldaten. Ende August 1955 verlängerte die französische Regierung den Wehrdienst von 18 auf 27 Monate (direkt betroffen: 180.000 junge Männer) und berief die ersten der kurz zuvor entlassenen Wehrpflichtigen wieder ein. Am 1. September meuterten in Paris etwa 600 dieser rappelés, die mit dem Zug nach Marseille fahren und da nach Nordafrika übersetzen sollten. Das war der vorläufige Tiefpunkt einer innenpolitischen Krise, die zu einem versuchten Militärputsch und zum Ende der Vierten Republik führen sollte.

Im Januar 1956 fanden in Frankreich vorgezogene Parlamentswahlen statt. Neuer Regierungschef wurde der Sozialist Guy Mollet, der im Wahlkampf versprochen hatte, den Krieg zu beenden und die rappelés zu demobilisieren. Am 6. Februar besuchte er Algier. Statt von Jublern wurde er von radikalisierten Pieds-noirs und deren Wurfgeschossen empfangen. Nach dem "Tag der Tomaten" nahm Mollet eine Kursänderung vor. Er war nun überzeugt, dass man in Algerien, das offiziell ein Teil von Frankreich war und damals etwa eine Million europäischstämmige Bewohner hatte, ganz anders verfahren müsse als in Kolonien wie Marokko und Tunesien. Mollet machte den Falken Robert Lacoste zum Generalgouverneur und brachte ein Gesetz auf den Weg, das dessen Exekutive mit Sondervollmachten ausstattete und Maßnahmen wie das Festhalten von Verdächtigen in Internierungslagern nachträglich legitimierte.

Im März 1956 waren in Algerien 190.000 Mann stationiert; im August 1956 waren es 390.000. Im Laufe dieses Jahres 1956 wurde immer klarer, dass die FLN keine radikalisierte Randgruppe mehr war, sondern eine schlagkräftige Organisation, der es gelungen war, fast alle politischen und einst zerstrittenen Strömungen in Algerien zu bündeln (parallel dazu gaben die ein Algerie française verfechtenden Ultras, denen Mollet nachgegeben hatte, bei den Siedlern immer mehr den Ton an). Weil die Strategen der FLN begriffen hatten, dass sich der Druck auf den Gegner erhöhen lässt, wenn man einen Konflikt weltweit bekannt macht, beschlossen sie, den Krieg vermehrt in die Hauptstadt zu tragen. In Algier und nicht in der Provinz, wo die FLN bislang überwiegend operiert hatte, saßen die Vertreter der internationalen Presse, die meistens keine Ahnung von dem hatten, was sich in abgelegenen Regionen abspielte. Mehr Aktionen in der Hauptstadt brachten mehr internationale Berichterstattung.

Den Franzosen fiel dazu nur mehr Repression ein. Am 19. Juni 1956 wurden zwei FLN-Aktivisten guillotiniert (Pontecorvo erlaubt sich aus Gründen der Dramaturgie ein paar Freiheiten mit der Chronologie, was in einem Spielfilm erlaubt ist). Das führte zu einer weiteren Eskalation des Konflikts. Für die FLN waren die beiden Männer politische Gefangene, die einen legitimen Krieg gegen die französischen Kolonialherren führten. Auf die Hinrichtungen musste sie schon deshalb reagieren, weil sie sonst ihre Glaubwürdigkeit verloren hätte. Die Antwort: Anschläge auf Polizisten, Beamte, männliche Europäer ganz allgemein. Allein in Algier gab es im Juni und Juli 1956 etwa siebzig solche Anschläge mit dreißig bis vierzig Toten und zahlreichen Verwundeten.

Pontecorvo zeigt das wieder als eine Spirale der Gewalt. Es beginnt mit einem Mann, der von hinten einen Polizisten niedersticht und ihm die Pistole abnimmt. Eine kleine Gruppe von Männern mit Pistolen überfällt ein Polizeirevier, tötet die Beamten und entkommt mit noch mehr Waffen. Zwei Polizisten werden aus einem fahrenden Auto heraus mit einer Maschinpistole niedergemäht. Ein Soldat, auch mit einer MP bewaffnet, erschießt einen fliehenden FLN-Mann. Auf einer Hauptverkehrsstraße im europäischen Viertel gibt es ein Feuergefecht. Das sieht jetzt schon sehr nach Krieg aus. Der Polizeipräfekt ordnet eine Ausgangssperre an und lässt die Kasbah abriegeln. So sollen Sicherheit und Ordnung wiederhergestellt werden; so oder so ähnlich kann man es bis heute in den Fernsehnachrichten sehen.

An einem der neu eingerichteten Kontrollpunkte demonstriert Pontecorvo, dass die Franzosen nur verlieren können. Eine verschleierte Muslima wird an einem Kontrollpunkt aufgehalten. Ein Uniformierter will sie abtasten und wird von einem Kameraden belehrt, dass das verboten ist. Die Frau darf passieren. Sie hat einen Revolver durch die Sperre geschmuggelt, den sie im europäischen Viertel einem Mann übergibt, der vor einem Café einen Polizisten erschießt, von hinten und mit dem Körper der Frau als Deckung (kein Fairplay im wilden Algier). Die Franzosen stecken in einem unlösbaren Dilemma. Entweder sie verstoßen gegen das Berührungsverbot und bringen die muslimische Bevölkerung noch mehr gegen sich auf. Oder sie tun es nicht und riskieren, dass einer von ihnen getötet wird. Varianten von dieser Geschichte kann vermutlich jeder Afghanistan- und Irakveteran erzählen.

Bombenterror

Ein kleiner Junge erschießt einen Polizisten und verschwindet unerkannt. Die Ordnungshüter fahren, vagen Hinweisen folgend, durch die großzügig bemessenen Boulevards des europäischen Viertels. An einer Ecke sitzt ein alter Mann aus der Kasbah, offenbar ein Straßenarbeiter, auf dem Bordstein und macht Mittagspause. Der muss es gewesen sein, meinen die Anwohner und schreien es von ihren Balkonen herunter (wobei sie gar nicht wissen können, was er gewesen sein soll), weil er weit und breit der einzige Araber ist. Der alte Mann ergreift die Flucht, um nicht gelyncht zu werden, ist dadurch noch verdächtiger, wird festgenommen und abtransportiert. Solche Verhaftungen nach Aussehen und Herkunft waren an der Tagesordnung. Der Vorfall leitet die nächste Eskalationsstufe ein.

Ein Kommissar, bei dem die Anschlagsmeldungen eingehen, ist frustriert, weil der Präfekt die Einhaltung der rechtsstaatlichen Regeln verlangt. Für den Polizisten ist das gleichbedeutend damit, dass er und die anderen Franzosen zum Abschuss freigegeben werden. Das will er so nicht hinnehmen. Nachts fährt er mit ein paar Freunden zur Adresse des festgenommenen Straßenarbeiters in der Kasbah und zündet einen Sprengsatz. Das ist nicht frei erfunden. Die erste Bombe des Algerienkriegs legten die Franzosen, am 10. August 1956. Weil in der Kasbah extrem viele Menschen auf engstem Raum lebten, war die Wirkung verheerend. Saadi Yacef sagt, dass es 75 Tote und 150 Verletzte gab. Ihm zufolge wurden die damals zerstörten Gebäude für den Film wieder aufgebaut und dann erneut gesprengt. Kein Wunder, dass die Explosion so echt aussieht.

Wie üblich profitierte die FLN auf lange Sicht von dieser Tat. Darum wurde von der Gegenseite auch der Vorwurf erhoben, sie habe die Häuser selbst in die Luft gesprengt; die Experten sind sich aber einig, dass dem nicht so war. Interessant ist, wer bei Pontecorvo im Citroën in die Kasbah fährt: ein Polizeikommissar und mit ihm befreundete Zivilisten. Der Posten an einem der Kontrollpunkte lässt sie anstandslos durch, als er den Kommissar erkennt. Was wir sehen, ist ein Vorläufer der Organisation armée secrète ("Bewaffnete Geheimorganisation"). Die OAS war ein Zusammenschluss von Pieds-noirs, unzufriedenen Offizieren und Beamten, die selbst zu Terroristen und zu einer der Parteien im Bürgerkrieg mit den vielen Fronten wurden. Aber das kam später.

Im Film hindert die FLN die wütenden Bewohner der Kasbah, nach der Explosion in das europäische Viertel zu marschieren, wo sie nur abgeschlachtet würden. Jaffar bleibt ganz Stratege und verspricht, dass die FLN die Rache übernimmt, wenn die Zeit reif dafür ist. Saadi Jacef, Vorbild und Darsteller von Jaffar im Film, rekrutierte damals einige Chemiker, denen es gelang, denselben Sprengstoff herzustellen, den die Deutschen in den V2-Raketen verwendet hatten. Ende September 1956 war es soweit. Innerhalb von drei Minuten gingen an drei verschiedenen Punkten der Stadt FLN-Bomben hoch. Mit solchen aufeinander abgestimmten Aktionen wollte die FLN den Besatzern und der Weltöffentlichkeit zeigen, dass sie kein wilder Barbarenhaufen war, sondern eine bestens organisierte Volksbewegung, die zuschlagen konnte, wann und wo sie wollte. Übrigens wurde das dann das Motto der Terroristen von der Gegenseite: "Die OAS schlägt zu, wo und wann sie will."

Alles an Die Schlacht um Algier ist hochaktuell. Mit zunehmender Dauer des Kampfes um die Unabhängigkeit spielten die Frauen eine immer wichtiger werdende Rolle. Pontecorvo hat das genau registriert. Er beendet den Film mit dem Bild einer Demonstrantin. Das ist sein - negative Entwicklungen befürchtender - Aufruf, den Beitrag der Frauen zur Revolution nicht zu vergessen und sie in der neuen algerischen Gesellschaft nicht gleich wieder ihrer Rechte zu berauben. Zum arabischen Frühling passt das genauso wie zum Algerienkrieg. Wie auch in der Realität werden die Sprengsätze des September 1956 von drei Frauen aus der Kasbah geschmuggelt und an den vorher bestimmten Stellen platziert. Nicht zum ersten Mal fühlt man sich dabei an einen Western erinnert.

Statt Indianern, die Kriegsbemalung auftragen, sehen wir aber muslimische FLN-Aktivistinnen, die sich die Haare kürzen und sich schminken wie Europäerinnen. Aus einem für Europäer ganz alltäglichen Vorgang wird bei Pontecorvo ein Akt der Subversion. In der angelegten Verkleidung passieren die Frauen ungehindert die Kontrollpunkte und erfüllen ihren Auftrag. Je ein Sprengsatz explodierte in der Caféteria und der Milk-Bar, zwei bei Europäern sehr beliebten Treffpunkten. Damit überschritt die FLN eine kritische Linie. Bisher war sie mehr oder weniger gezielt vorgegangen. Anschläge auf Polizei, Militär, Justiz oder Kollaborateure kann man irgendwie nachvollziehen, ohne sie deshalb automatisch gutzuheißen. Die Sprengsätze vom 30. September 1956 waren Angriffe auf zufällig anwesende Zivilisten. Das ist eine andere Dimension des Terrors.

Pontecorvo hatte mehrere Möglichkeiten der Inszenierung. Er entschied sich für die am wenigsten beschönigende. Zora Drif-Bitat - 1957 festgenommen, 1962 amnestiert und 2004 zur Vizepräsidentin des algerischen Senats ernannt - stellt einen der Sprengsätze in der Milk-Bar ab, den zweiten bringt Hassiba Ben Bouali in die Caféteria (eine der dramaturgisch bedingten Abweichungen von der Realität, wo die Bombenlegerin eine andere war). Drif und Ben Bouali lassen den Blick über die Männer, Frauen und Kinder schweifen, die gleich tot oder verletzt sein werden. Dann gehen sie hinaus auf die Straße und davon. Die Kamera bleibt noch ein paar Augenblicke und zeigt in Großaufnahme die Opfer, während die Bombe tickt. Die Explosionen sehen wieder sehr echt aus. Für den Anschlag in der Kasbah hat Ennio Morricone eine elegische, von Bach inspirierte Musik geschrieben, die nun, zu den Bildern von toten und verletzten Franzosen, wiederholt wird. "Das war angemessen", meint Pontecorvo, "weil es die Idee transportiert, dass das auf beiden Seiten vergossene Blut dieselbe Trauer verdient und auch, dass es dieselbe emotionale Behandlung erfährt."

Für Pontecorvo war die Musik so wichtig wie das Visuelle, als "musikalisches Bild". Morricone engagierte er, weil er Sergio Leones Für ein paar Dollar mehr gesehen (und gehört) hatte. Beim Schnitt des Films hatte er eine aus vier Tönen bestehende, die Montage beeinflussende Melodie im Kopf. Um diese Melodie herum schuf Morricone - in enger Absprache mit dem streitbaren Pontecorvo - eine Musik, die sorgfältig dosiert ist, statt alles zuzukleistern, Emotionen verstärkt oder auch mal unterläuft, statt diese erst zu schaffen, eine zusätzliche Bedeutungsebene einzieht und ihre Wurzeln genauso in Europa hat wie in Nordafrika (für die Szene mit den sich schminkenden Frauen adaptierte er einen rituellen, ein wenig nach indianischen Kriegstrommeln klingenden Tanz, den "Baba Salem"). Morricone und Pontecorvo waren um eine Musik bemüht, die ein westliches Publikum ebenso ansprechen sollte wie ein algerisches und außerdem das Gefühl vermitteln, dass wir den Unabhängigkeitskampf eines kolonisierten Volkes miterleben und eine Tragödie. Das ist ihnen hervorragend gelungen.

Eindringliche Befragung

Die FLN formierte sich nicht zufällig im Jahr 1954. Am 7. Mai verlor die französische Armee die Schlacht von Điện Biên Phủ und musste vor dem Việt Minh kapitulieren, der vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung. Das war das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina (und das Vorspiel zum nächsten Vietnamkrieg, in dem sich die Amerikaner eine blutige Nase holten). Für die FLN war das die Gelegenheit, nun auch die Fremdherrschaft abzuschütteln, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass sich die Franzosen so bald nach Điện Biên Phủ in ein weiteres koloniales Abenteuer stürzen würden. Doch Algerien war ein Sonderfall, weil das Land aus französischer Sicht - in einer Mischung aus Wunschdenken, verwaltungstechnischer Realität und harten Fakten (eine Million Siedler) - keine Kolonie war.

Der "Schlacht um Algier" genannte Teil des Krieges begann am 7. Januar 1957. An diesem Tag erteilte die Regierung dem Haudegen Jacques Massu, der nach dem Ersten Weltkrieg in jedem größeren Konflikt für Frankreich gekämpft hatte, die volle "Polizeigewalt" und den Auftrag, der FLN den Garaus zu machen. Anders wusste sich Generalgouverneur Lacoste nicht mehr zu helfen, weil alle Versuche, den Aufstand zu unterdrücken, das Gegenteil bewirkt hatten (die Zahl der Anschläge stieg von 50 im Juli 1956 auf 120 im Dezember). Bei Militärexperten gilt die General Massu unterstellte 10. Luftlandedivision als die härteste Truppe, die es damals gab. Viele von den Fallschirmjägern hatten Điện Biên Phủ miterlebt und kamen nicht mit dem Gefühl "Nie wieder Krieg" nach Nordafrika, sondern mit dem festen Vorsatz, nie wieder einen Krieg zu verlieren. Die Schlacht um Algier musste unbedingt gewonnen werden. Dafür war Massu auch bereit, Foltermethoden anzuwenden (euphemistisch verbrämt als "eindringliche Befragung"). Botschaft des Generals an seine Männer: "Das sine qua non unseres Einsatzes in Algerien ist es, dass wir diese Methoden in unseren Herzen und unserem Verstand als notwendig und moralisch begründet akzeptieren."

Moralisch begründet? Das ist die alte Rechtfertigung der Folterer und läuft auf die akademische Frage hinaus, die auch die Befürworter von Guantanamo gerne stellen: Gesetzt den Fall, man hätte durch die Folterung von Mohammed Atta den Angriff auf die Twin Towers verhindern können - wäre es dann nicht unmoralisch gewesen, es nicht zu tun? Colonel Roger Trinquier, Mitglied im Stab von Massu sowie Experte für "moderne" Kriegsführung und den Kampf gegen Aufständische, singt in einem in den 1970ern aufgezeichneten TV-Interview das Hohelied des Relativismus. Angenommen, sagt er, man habe herausgefunden, dass in der Kasbah vier oder fünf Bombenanschläge vorbereitet werden. Man wisse, dass jede dieser Bomben zehn bis zwölf Menschen töten und vierzig weitere verletzen werde. Ein gefangener Terrorist könne sagen, wo die Bomben versteckt sind. Solle man nun diesen einen Terroristen "verhören" oder mitschuldig daran werden, dass es 40 Tote und 200 Verwundete gibt? Er persönlich ziehe es vor, den Terroristen so lange zu "verhören", bis dieser ihm sagt, was er wissen will.

Zu solchen Berechnungen kommt das Zeitelement hinzu. In Trinquiers Beispiel ist es 13 Uhr, um 18.30 Uhr gehen die Bomben hoch. Das könnte aus einem Hitchcock-Film sein. In der Realität hatten alle FLN-Aktivisten die Anweisung, nach einer eventuellen Festnahme mindestens 24 Stunden lang zu schweigen, damit die Kämpfer, die sie verraten konnten, Zeit hatten, sich ein neues Versteck zu suchen und ihre Pläne zu ändern. Massus Logik, die er und einige seiner Untergebenen wie Trinquier in den 1970ern erstmals auch in Fernsehinterviews zum Besten gaben: Innerhalb von 24 Stunden konnte man keinen Aktivisten durch ein herkömmliches Verhör zu einer Aussage bewegen. Durch eine solche Aussage ließ sich aber möglicherweise ein Bombenattentat verhindern, bei dem Menschen sterben oder jedenfalls viel mehr leiden müssten als ein Verdächtiger unter der "eindringlichen Befragung", die eigentlich gar keine Folter war. Daraus ergebe sich eine moralische Verpflichtung und so weiter.

Die Kasbah war eine für die Franzosen völlig fremde Welt. In Ermangelung konkreter Informationen wurden Massenverhaftungen vorgenommen. Schwer zu verifizierenden Angaben nach wurden während der Schlacht um Algier, von Januar bis Ende September 1957, 24.000 Menschen festgenommen. Nach den eigenen Schätzungen des Militärs waren drei bis zehn von hundert verhafteten Verdächtigen Aktivisten oder Sympathisanten der FLN. Die Zahlen, die ich gefunden habe, variieren stark und reichen von 3000 Gefolterten bis zu 3000 Menschen, die unter der systematisch betriebenen Folter starben. Viele Opfer verschwanden spurlos, andere wurden in Lager geschafft, wieder andere kehrten zurück in die Kasbah. Die Verhafteten hatten Angehörige, Freunde, Nachbarn. Es darf als eher unwahrscheinlich gelten, dass all diese Menschen durch die Maßnahmen der Fallschirmjäger zu glühenden Verehrern der Kolonialherren wurden. So macht man einen Gegner stark.

Ein Problem von Massu und seiner Truppe war, dass sie tatsächlich Erfolge erzielten, was es den Hardlinern erleichterte, solche Überlegungen als Bedenkenträgerei abzutun. Im Februar 1957 gelang die Ergreifung von Larbi Ben M’Hibi, Gründungsmitglied und führender Kopf der FLN. In Pontecorvos Film wird er eher zufällig festgenommen. In der Wirklichkeit führte ein Informant (ob bezahlt oder gefoltert ist ungeklärt) die Fallschirmjäger zu seinem Versteck. Zur Entstehungszeit von Die Schlacht um Algier war das ein wunder Punkt, weil die siegreiche, den Einparteienstaat propagierende FLN ein Bild der Einigkeit (ohne Verräter) abgeben wollte - dies umso mehr, da die internen Machtkämpfe keineswegs beendet waren. Während Pontecorvo den Film drehte, wurde Ahmed Ben Bella, der Staatspräsident, durch einen Militärputsch gestürzt und durch Oberst Boumedienne ersetzt.

Obwohl nach Filmminuten gerechnet nur eine Randfigur, hat Pontecorvo Ben M’Hidi eine zentrale Rolle zugewiesen. Ziemlich genau in der Mitte und am Vorabend des von der FLN ausgerufenen Generalstreiks unterhält sich Ben M’Hidi mit Ali La Pointe. "Es ist schwer genug", sagt er, "eine Revolution anzufangen. Es ist sogar noch schwerer, sie durchzuhalten, und am schwierigsten ist es, sie zu gewinnen. Aber erst hinterher, wenn wir gewonnen haben, beginnen die wahren Probleme." Pontecorvo hatte Befürchtungen, dass die ehemaligen Revolutionäre für diese Probleme keine oder eine falsche Lösung finden würden. Darum ließ er Ben M’Hidi, einen Helden und Märtyrer des Unabhängigkeitskampfes, an zentraler Stelle des Films und über den Dächern von Algier diesen Dialog sprechen.

Asymmetrischer Krieg

Der acht Tage dauernde Generalstreik war ein Teil des Kampfes um die öffentliche Meinung und begleitete eine UN-Debatte über die Lage in Algerien (damals war es wie heute: eine Resolution scheiterte an den unterschiedlichen Interessen der Mitglieder). Mit dem Streik wollte sich die FLN der Welt gegenüber als ernstzunehmender Verhandlungspartner legitimieren und zeigen, dass sie die große Mehrheit der Bevölkerung vertrat. Die Franzosen nahmen das ebenfalls für sich in Anspruch und setzten alles daran, den Streik so schnell wie möglich zu beenden. FLN-Vordenker wie Ramdane Abane und Larbi Ben M’Hidi hielten den Generalstreik - als Zeichen der Stärke und der Verwurzelung im algerischen Volk - für so wichtig, dass sie bereit waren, einen hohen Preis dafür zu zahlen.

Um den Streik zu unterdrücken, erweiterte Generalgouverneur Lacoste die ohnehin schon sehr umfangreichen Vollmachten von General Massu, der nun endgültig verfahren konnte wie er es für richtig hielt. Die Kasbah wurde in vier Bezirke eingeteilt, jeweils kontrolliert von einem Regiment der 10. Division. Arbeitsfähige Männer wurden unter Militärbewachung zu wichtigen Betrieben gekarrt, Ladenbesitzer in der Kasbah mit Gewalt zum Öffnen ihrer Läden gezwungen. Pontecorvo zeigt das genauso wie die Soldaten, die nachts in die Häuser verschreckter Menschen eindringen. Tagsüber sagt ein Polizist per Lautsprecher (und auf Französisch) durch, dass Frankreich das Mutterland der Kasbah-Bewohner sei, dass die FLN sie aushungern wolle, und dazu sieht man einen kleinen Jungen hinter dem von Soldaten gezogenen Stacheldraht. Man ahnt, dass die Franzosen den Kampf um die Herzen der Menschen nicht gewinnen werden. Verdächtige werden geprügelt und abgeführt. Dann marschiert eine Militärkapelle durch die Kasbah, ihr folgende Soldaten verteilen Süßigkeiten und Baguettes. Die Bewohner schauen ihnen fassungslos hinterher. Das ist Realsatire und soll so oder so ähnlich wirklich stattgefunden haben.

Die Fallschirmjäger werden durch den fiktiven Colonel Mathieu repräsentiert. Ihn spielt Jean Martin, ein Mann mit viel Bühnen- und etwas Filmerfahrung. Pontecorvo besetzte einen Profi, weil Mathieu umfangreiche Textpassagen zu sprechen hat und Autorität ausstrahlen muss. Letztere ist meistens überzeugender, wenn sie professionell gespielt wird. Privat war Martin ein Anti-Militarist. Das scheint in der Art, wie er die Rolle anlegt, durch und war ganz im Sinne Pontecorvos, der keinen stereotypen Kommisskopf wollte. Nur beim martialischen Einmarsch in Algier blieb Martin hinter den Erwartungen des Regisseurs zurück. Pontecorvo musste ihm unter der Uniformjacke die Schultern mit Taschentüchern auspolstern, um ihm die gewünschte Statur zu geben.

Mathieu hat die für solche Offiziere typische Biographie: Kampf gegen die Deutschen, Mitglied der Résistance, Veteran des Indochinakrieges. Er ist aus mehreren real existierenden Figuren zusammengesetzt. Die wichtigsten sind Colonel Marcel Bigeard (Kommandant des 3. Regiments), Colonel Yves Godard (Massus Stabschef und ein Spezialist für das Infiltrieren aufständischer Gruppierungen), der bereits genannte Colonel Roger Trinquier und Capitaine Jacques Allaire (Nachrichtenoffizier in Bigeards Regiment). Allaire leitete die Festnahme von Ben M’Hidi. Weil er Hochachtung vor diesem Gegner hatte, brachte er ihn mit militärischen Ehren zum Hauptquartier, wo er ihn seinen Vorgesetzten übergab.

Colonel Mathieu hat verstanden, wie wichtig die Journalisten sind. Durch ihre Berichterstattung beeinflussen sie die öffentliche Meinung und auf diese Weise auch die Meinung der Politiker. Und der politische Wille wiederum hat Einfluss auf den Krieg. Also führt Mathieu den Gefangenen der internationalen Presse vor, weil er glaubt, dass das eine gute Reklame für die Fallschirmtruppe ist. Ob es nicht feige sei, will ein Reporter wissen, mit in Fraueneinkaufstaschen versteckten Bomben gegen die Franzosen zu kämpfen? Als Zuschauer hat man sich so etwas auch schon gedacht, weil Pontecorvo keinerlei Versuche unternimmt, die Terroranschläge zu beschönigen oder zu heroisieren. Ben M’Hidi verweist auf das, was man heute einen "asymmetrischen Krieg" nennt. Leider sei die FLN auf solche Aktionen angewiesen, gibt er zurück, weil sie nicht über die Waffen des Gegners verfüge.

Falls man der FLN auch Bomber und Napalm zur Verfügung stelle, sagt Ben M’Hidi, werde sie auf die Bombe in der Handtasche gern verzichten. Weil die Pressekonferenz nicht so verläuft, wie von Mathieu erwartet, bricht er sie ab. Auch das Napalm ist keine Erfindung der Filmemacher. 1956 begann die französische Luftwaffe mit dem Ankauf der bewaffneten Version des Trainingsflugzeugs North-American T-6 Texan, das die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg bei der Pilotenausbildung verwendet hatten. Dieser Flugzeugtyp, von dem in Algerien etwa 300 zum Einsatz kamen, hatte einen 100-Liter-Tank für Napalm. Ende der 1950er tauchten in Zeitungen wie dem Observer und dem France Observateur die ersten Berichte über Napalmangriffe der französischen Luftwaffe in Algerien auf. Auch in dieser Hinsicht war der Algerienkrieg ein Vorläufer des Krieges, den dann die Amerikaner in Vietnam führten.

Die Erklärung, dass Pontecorvo keine FLN-Massaker in ländlichen Gebieten zeigt, weil sein Film von der Schlacht um Algier handelt, kann man natürlich unbefriedigend finden. Aber im anderen Fall müsste er auch den Napalmeinsatz zeigen, die Internierungslager, die großflächigen Vertreibungen und dergleichen. Durch gegenseitiges Aufrechnen, das macht Pontecorvo mehrmals deutlich, wird nichts besser. Stattdessen konzentriert er sich darauf, einen halbwegs überschaubaren Ausschnitt des Konflikts stellvertretend für das Ganze zu analysieren, damit man daraus lernen kann. Das war eine kluge Entscheidung. Für die Ignoranz von Großmächten und deren Militärstrategen kann Pontecorvo nichts.

Mann für schmutzige Angelegenheiten

Bald nach der Festnahme von Larbi Ben M’Hidi, einem der Gründer und Vordenker der FLN, teilten die Franzosen mit, dass er sich am 4. März 1956 in seiner Zelle erhängt habe. Schon damals glaubte das kein Mensch. Der Tod von Ben M’Hidi wurde zum Fanal. Die FLN-Aktivisten kämpften nun noch entschlossener gegen die Kolonialherren und waren noch weniger als zuvor zur Aufgabe bereit, weil sie damit rechnen mussten, in der Haft ermordet zu werden. Der durch einen von den Behörden inszenierten Selbstmord aus dem Weg geräumte Terrorist wurde in der Folge ein fester Bestandteil solcher Geschichten (mit wechselnden Antworten auf die Frage, wer was inszeniert hat und warum). Die Gerüchte im Fall Ben M’Hidi bestätigten sich, als es der Zeitung Le Monde im Jahr 2000 gelang, einen bis dahin kaum bekannten General im Ruhestand namens Paul Aussaresses zu einem Interview zu bewegen. Aussaresses ließ 2001 zwei Bücher über seine Vergangenheit folgen (Pour la France : Services spéciaux 1942-1954; Services spéciaux, Algérie 1955-1957: Mon témoignage sur la torture) und 2008 ein drittes (Je n'ai pas tout dit. Ultimes révélations au service de la France).

Fahndungsplakat Ben M’Hidi

Paul Aussaresses ist eine der gruseligsten Figuren in dieser Angelegenheit. Er besuchte 1941 als Offiziersanwärter eine Kadettenschule in Algerien, sprang im August 1944 als Mitglied einer Spezialeinheit mit dem Fallschirm über dem besetzten Frankreich ab, um die Résistance zu unterstützen und deren Aktionen mit denen der Alliierten zu koordinieren, diente in Indochina und nahm nur deshalb nicht am Suezkrieg teil, weil er sich bei einem Trainingssprung mit dem Fallschirm die Wirbelsäule verletzt hatte. 1961 wurde er Militärattaché der französischen Botschaft in Washington. In Fort Bragg, wo die US-Armee den Anti-Guerilla-Kampf trainierte, gab er seine Erfahrungen aus dem Algerienkrieg weiter. Roger Trinquier, Aussaresses’ früherer Vorgesetzter, veröffentlichte 1961 das Buch La Guerre moderne. Einer der von Aussaresses ausgebildeten US-Soldaten soll das Buch an den CIA-Agenten Robert Komer geschickt haben, der es bei der Ausgestaltung des von ihm geleiteten "Phoenix-Programms" konsultierte (Bekämpfung des Vietcong mit Foltermethoden und Liquidierungen). Aussaresses ging 1973 nach Brasilien, wo er Trainingsprogramme für die Killer und Folterknechte südamerikanischer Militärdiktaturen geleitet haben soll.

General Massu wurde durch die Brutalität auf den damals im Rang eines Commandant dienenden Aussaresses aufmerksam, mit der dieser 1955 den FLN-Aufstand in Philippeville niederschlug und holte ihn im Januar 1957 nach Algier, wo er dasselbe tun sollte. Aussaressses war Massus Mann für schmutzige Aufträge und der Chef der Todesschwadron, die unliebsame Personen eliminierte (der Begriff "Todesschwadron" geht auf Aussaresses zurück, der ihn zum Beispiel in Escadrons de la mort, l'école française verwendet, einer 2003 vom Sender Canal+ ausgestrahlten Dokumentation von Marie-Monique Robin). Seinen Angaben nach tötete er in Algerien eigenhändig 24 Menschen und befehligte die Ermordung von zahlreichen anderen - darunter auch die von Larbi Ben M’Hidi.

Patrick Rotman führte für Ennemi intime, eine 2002 von France 3 gezeigte Fernsehdokumentation über den Algerienkrieg, ein Interview mit Aussaresses, in dem der General versichert, man habe sehr wenig gemordet und nur, wenn es unbedingt erforderlich gewesen sei. Tausende von Algeriern verschwanden spurlos. Anfangs wurden die Getöteten im Hafen von Algier ins Wasser geworfen. Weil die Flut die Leichen zurück ans Festland trieb, überlegte man sich etwas anderes. Die Opfer wurden nun - schon tot oder noch lebendig - über dem Meer aus einem Hubschrauber geworfen, mit in Wannen einbetonierten Füßen. Im Sprachgebrauch der Fallschirmjäger waren das die Crevettes Bigeard, die "Bigeard-Garnelen" (nach Colonel Marcel Bigeard, dem Kommandanten des 3. Regiments).

Der Preis für den von der FLN ausgerufenen Generalstreik war auch deshalb so hoch, weil Massus Leute nun einen Angriffspunkt hatten. Wer sich am Streik beteiligte, war ein FLN-Sympathisant. Damit stieg die Trefferquote bei den Verhaftungen. Das Foltern wurde im großen Stil praktiziert. Aussaresses erzählt Rotman, dass er jeden Morgen genau aufgeschrieben habe, was in der vergangenen Nacht geschehen war, inklusive der Namen der Gefolterten und/oder Liquidierten und in vierfacher Ausfertigung. Das Original sei an Colonel Trinquier gegangen, Durchschläge an Generalgouverneur Robert Lacoste, General Raoul Salan und das Archiv. Aussarresses hat auch mehrfach behauptet, dass François Mitterand einen Richter als Verbindungsmann bei Massu hatte, der den damaligen Justizminister auf dem Laufenden gehalten habe. Seither gibt es in Frankreich in regelmäßigen Abständen erregte Debatten über die Rolle von Mitterand, dem erklärten Vorbild von François Hollande, im Algerienkrieg.

Teil 2 [3]: Nicht versöhnt: Der Algerienkrieg, die Folter und die Folgen


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[3] https://www.heise.de/tp/features/Nicht-versoehnt-3394150.html