Krieg per Enthaltung
Deutschland initiiert neuen Anlauf für eine EU-Interventionstruppe
Bereits im Jahr 2003 wurde die Aufstellung europäischer Gefechtsverbände ("Battlegroups") auf den Weg gebracht. Dabei handelt es sich um rund 1.500 Soldat:innen starke und innerhalb von 5 bis 30 Tagen verlegbare Einheiten, von denen seit Januar 2007 immer zwei pro Halbjahr zum Einsatz bereitstehen – nur wurden sie hierfür bislang nie angefordert.
Verantwortlich gemacht wird dafür vordergründig das als "lähmend" gebrandmarkte Konsensprinzip, das den Prozess stark verzögere und einzelnen Ländern Blockademöglichkeiten eröffne, die dazu geführt hätten, dass die EU-Kampftruppen ein ums andere Mal in der Garage hätten bleiben müssen.
So berichtete der Insiderdienst Bruxelles2, die Battlegroups und ihre Entscheidungsmechanismen seien bereits Gegenstand der Debatten beim Treffen der Verteidigungsminister:innen Anfang September 2021 gewesen:
Eines ist jedenfalls sicher: Das ‚Problem‘ der Gefechtsverbände ‚liegt im politischen Entscheidungsprozess für ihren Einsatz‘, so der slowenische Verteidigungsminister Matej Tonin. Und wie mehrere Teilnehmer an B2 betonten, geht es nicht nur um die politische Entscheidung für den Einsatz von Gefechtsverbänden. Dies ist in der Tat durch das einstimmige Votum vorgegeben. Dies bringt die übliche Debatte über Einstimmigkeit/Konsens/konstruktive Enthaltung/qualifizierte Mehrheit zurück.
Vor diesem Hintergrund wurde nun das Konzept der Battlegroups ausgerechnet als eine vermeintliche "Lehre" aus dem Afghanistan-Konflikt unter anderem auf deutsche Initiative neu aufgegossen - allerdings in deutlich abgewandelter Form und einschließlich einer Idee, wie das leidige Konsensprinzip ausgehebelt werden könnte.
Interventionstruppe als Lehre aus Afghanistan?
Den Auftakt der aktuellen Debatte hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bereits Ende August 2021 gemacht, indem er folgerte, der US-Abzug aus Afghanistan stehe sinnbildlich für "eine Art Rückzug der USA von der Weltbühne."
Gleichzeitig verknüpfte Borrell diesen Befund mit der Forderung, die Europäische Union müsse künftig in der Lage sein, militärisch eigenständiger zu handeln: "Die EU muss zu Militärinterventionen zum Schutz unserer Interessen fähig sein, sollten die USA nicht involviert werden wollen. […] Als Europäer müssen wir diese Krise nutzen, um stärker zusammenzuarbeiten und unser Strategische Autonomie zu stärken. Als Europäer müssen wir in der Lage sein, Dinge auch selbstständig tun zu können."
Kurz darauf gipfelten Borrells Überlegungen in der Forderung nach einer neuen EU-Eingreiftruppe: "Die bisherigen Überlegungen sehen vor, eine rund 5000 Soldaten starke Einheit zu schaffen, die innerhalb kurzer Zeit in Krisenländer verlegt werden kann. Sie soll zum Beispiel auch im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Ländern wie Mali zum Einsatz kommen können."
Zusammen mit vier anderen EU-Ländern (Niederlande, Portugal, Finnland und Slowenien) ergriff Deutschland nun die Initiative und speiste ein Diskussionspapier für die EU-Ministertagung am 21. Oktober 2021 in die Debatte ein. Aus dem unter Verschluss gehaltenen Papier wurde bei Bruxelles2 ausführlich zitiert.
Demzufolge plädierten die fünf Länder für eine Interventionstruppe, die "eine Landkomponente bis zur Größe einer Brigade" (5.000 Soldat:innen) sowie "See- und Luftkomponenten und strategische und operative Katalysatoren" umfassen solle.
Gegenüber den Battlegroups solle dabei nicht nur der Umfang, sondern auch die Bereitschaftsphase vergrößert werden, nämlich von aktuell sechs Monaten auf zwölf Monate. Die Truppe solle zudem über eine "Plug-and-Fight-Fähigkeit" verfügen, also "vollständig mit NATO-Standards interoperabel" sein.
Ein letzter bemerkenswerter Aspekt betrifft die angestrebte Kommandostruktur der geplanten Interventionstruppe. Während die Battlegroups durch die jeweilige Führungsnation kommandiert werden, soll sich dies künftig ändern. Zuständig soll die im Juni 2017 als Anfang für ein künftiges EU-Hauptquartier ins Leben gerufene "Militärische Planungs- und Durchführungsfähigkeit" (MPCC).
Zuerst hatte sie "nur" die Fähigkeit zur Leitung nicht-exekutiver Einsätze, im November 2018 wurden ihre Kompetenzen dann aber schon auf kleinere exekutive Militäreinsätze im Umfang von bis zu 1.500 Soldat:innen erweitert.
Geht es nach dem u.a. von Deutschland lancierten Interventionstruppen-Papier, soll die MPCC künftig alle Missionen "einschließlich exekutiver Operationen" planen und befehligen und so noch einmal einen deutlichen Schritt in Richtung eines voll ausgewachsenen EU-Hauptquartiers machen.
Unmittelbar darauf verkündete Noch-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer die Initiative sei "sehr positiv" aufgenommen worden.
Der Vorschlag solle zudem "in den Strategischen Kompass Eingang finden", ein aktuell in Arbeit befindliches Dokument, mit dem die Bedrohungsanalyse und das militärische Anspruchsprofil bis Frühjahr kommenden Jahres aktualisiert werden sollen.
Im Vorfeld der entscheidenden Ratstagung, bei der die erste Präsentation eines Entwurfs des Strategischen Kompasses auf dem Programm steht, drangen dann weitere Informationen an die Öffentlichkeit. So berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg, der ebenfalls unter Verschluss gehaltene Entwurf enthalte tatsächlich explizit unter anderem den Aufbau der besagten Interventionstruppe im Umfang von 5.000 Soldat:innen.
Ferner lasse sich mit dem Jahr 2025 auch ein konkretes Datum darin finden, wann die Truppe einsatzbereit sein soll. Direkt aus dem Entwurf wird zitiert, die Einheit sei vorgesehen für "das komplette Spektrum militärischer Krisenmanagementaufgaben, beispielsweise Rettungs- und Evakuierungsmissionen oder eine Stabilisierungsoperation in feindlicher Umgebung."
Kriege der Willigen
Der eigentliche Knaller besteht aber darin, dass wohl eine weitere von Deutschland lancierte Idee Eingang in den Entwurf für den Strategischen Kompass gefunden zu haben scheint: Die Koalition der Willigen, über die wohl das störende Konsensprinzip ausgehebelt werden soll.
Bereits Anfang September hieß es dazu: "Man wolle ‚auf Augenhöhe‘ mit den USA das westliche Bündnis stärken, weshalb die Bundesrepublik ‚mit interessierten EU-Staaten‘ spreche und für eine ‚Koalition der Willigen‘ werbe. Dazu könne Artikel 44 des EU-Vertrags angewendet werden, argumentiert Kramp-Karrenbauer."
Gemäß Artikel 44 ist es möglich, einzelne EU-Staaten mit der Planung und Durchführung eines Militäreinsatzes zu betrauen, der dann zwar offiziell als EU-Einsatz gilt, aber ausschließlich in der Verantwortung der Willigen liegt. Einzelne, aus welchen Gründen auch immer skeptische Länder, könnten dann keinen Einfluss auf die konkrete Kriegführung mehr nehmen.
Hier dürfte auch der Grund liegen, weshalb der Artikel bislang nie angewendet wurde, weil seine Aktivierung weiter dem Konsensprinzip unterliegt. An diesem Punkt soll augenscheinlich aber die sogenannte "konstruktive Enthaltung" Abhilfe schaffen.
Ihre Aufgabe sei es laut dem bei Bloomberg zitierten Entwurf für den Strategischen Kompass, künftig "willige und fähige europäisch geführte Koalitionen zu ermöglichen."
Im Falle eines Militäreinsatzes nach Artikel 44 könnte so ein Staat seine "konstruktive Enthaltung" zum Ausdruck bringen, er würde ihm formal nicht zustimmen (und müsste auch nicht für die Finanzierung aufkommen), würde sein Zustandekommen aber auch nicht verhindern.
Dies hätte den "Vorteil", dass Kriegseinsätze nicht mehr von einem und nicht einmal von einigen wenigen Ländern blockiert werden könnten, wie der Experte für EU-Recht, Gregor Schirmer, ausführt:
Es gibt aber Instrumente, um die EU auch ohne Einstimmigkeit auf militärischem Kurs zu halten. Da ist die Möglichkeit der Erklärung einer ‚konstruktiven Enthaltung‘ nach Art. 31 Abs. 1 EUV. Danach ist der Mitgliedstaat, der Stimmenthaltung übt, ‚nicht verpflichtet, den Beschluss durchzuführen, akzeptiert aber, dass der Beschluss für die Union bindend ist‘. Er darf die Durchführung des Beschlusses nicht behindern. Die anderen Mitgliedstaaten haben seinen Standpunkt zu respektieren. Wenn mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten, die mindestens ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen, konstruktive Enthaltung ankündigen, wird der Beschluss nicht erlassen. Das ist eine schier unüberwindbar hohe Hürde, um einen Beschluss zu verhindern, der von den ‚Großen‘ in der EU gewollt wird.
Zwar ist es bisher bereits möglich, mit einer solchen konstruktiven Enthaltung zu hantieren, sie wurde bislang allerdings erst einmal angewandt (von Zypern bei der EU-Operation Eulex im Kosovo).
Schon vor einiger Zeit kritisierte die "Stiftung Wissenschaft und Politik" das Konsensprinzip und schlug dagegen als eine Möglichkeit vor, die "konstruktive Enthaltung" künftig zum "Regelfall" zu machen. Und genau darauf scheint nun der Strategische Kompass abzuzielen. Würde dies eintreten, würden skeptische Staaten künftig aber unter enormen Druck geraten, statt eines Vetos gefälligst den Weg per konstruktiver Enthaltung für einen Kriegseinsatz per Koalition der Willigen freizumachen.