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Krieg um Bergkarabach: "Den Menschen stehen die schlimmsten Stunden bevor"

Evakuierung von Zivilisten durch russische Friedenstruppen. Bild: Nagorno Karabakh Observer (Screenshot)

Bakus Truppen haben Kleinstaat im Kaukasus eingenommen. Welche Rolle spielt Russland, welche die EU? Ein GesprÀch mit dem Juristen Dustin Hoffmann.

Dustin Hoffmann ist Jurist und leitet seit 2014 das BĂŒro des Europaabgeordneten Martin Sonneborn (Die Partei). Hoffmann ist in den letzten Jahren mehrfach als Beobachter des Konflikts nach Bergkarabach gereist

Herr Hoffmann, Sie befinden sich zurzeit im armenischen Eriwan und beobachten die Lage in Bergkarabach. Welche Informationen erhalten Sie von dort?
Dustin Hoffmann: Die Lage ist Ă€ußerst unĂŒbersichtlich. Die aserbaidschanischen Truppen haben in einer eintĂ€gigen Operation, die sehr schwachen VerteidigungskrĂ€fte von Bergkarabach ĂŒberrannt, Dörfer umzingelt und Straßen blockiert.
Was bedeutet dies fĂŒr die Zivilbevölkerung?
Dustin Hoffmann: Es ist so, dass einige Dörfer und StĂ€dte immer noch abgeriegelt sind und die Menschen nicht herauskommen. Es gibt keine Informationen ĂŒber bestimmte Orte, ĂŒbrigens auch nicht ĂŒber die Lage von KulturgĂŒtern. Die Menschen sind in Panik und Angst. Das ist die aktuelle Situation.
Ein wichtiges Thema im Kriegsgeschehen, zum Beispiel in der Ukraine, ist immer wieder die Frage, ob und inwieweit zivile Ziele ins Visier genommen wurden. Im Fall der Ukraine setzt sich die EuropĂ€ische Union sehr dafĂŒr ein, dass entsprechende Kriegsverbrechen dokumentiert werden, um sie spĂ€ter ahnden zu können. Stellt sich diese Frage auch im Konflikt um Berg-Karabach?
Dustin Hoffmann: Ja, auf jeden Fall. Es gibt Bilder aus der Hauptstadt von getroffenen zivilen GebĂ€uden, einfachen WohnhĂ€usern. Aber das war auch wĂ€hrend des Krieges 2020 so. Ich war damals zwei Wochen nach dem Krieg dort. Die Zerstörung der zivilen Infrastruktur – Schulen, KrankenhĂ€user, Feuerwehrstationen – war enorm.
Es wĂŒrde mich wundern, wenn Aserbaidschan in den letzten Jahren bei Angriffen auf zivile Ziele zurĂŒckhaltender gewesen wĂ€re. Zumal sich niemand daran gestört hat. Niemand hat dieses völkerrechtswidrige Vorgehen ernsthaft verurteilt.
Seit Dezember letzten Jahres ist die einzige Landverbindung nach Bergkarabach unterbrochen. Mit welchen Folgen?
Dustin Hoffmann: Die Folgen fĂŒr die Zivilbevölkerung werden immer verheerender. Anfangs gab es noch humanitĂ€re Lieferungen, das Rote Kreuz und russische Friedensgruppen konnten HilfsgĂŒter transportieren. Aber Aserbaidschan hat die Schlinge immer enger gezogen, so dass am Ende gar keine Transporte mehr durchkamen.
Das hatte zur Folge, dass die Menschen am Ende wirklich nichts mehr zu essen hatten. Ich habe jemanden getroffen, der seit Dezember auf der armenischen Seite festsitzt und nicht mehr zurĂŒckgekommen ist. Er hat mir von seiner Familie erzĂ€hlt, von seinen Söhnen, von denen keiner mehr arbeitet. Es gab kein wirtschaftliches Leben mehr. Die Menschen waren am Verhungern.
Als dann der Angriff der aserbaidschanischen Armee begann - und ich glaube auch, dass das Teil der Strategie war - haben es selbst die Kinder nicht mehr rechtzeitig in die SchutzrÀume geschafft, weil sie in den letzten Tagen nur trockenes Brot gegessen haben und deshalb zu schwach waren, um zu laufen.
Die EuropĂ€ische Union, wir haben gerade darĂŒber gesprochen, hĂ€lt sich zurĂŒck. In einer Nachricht ĂŒber den Kurznachrichtendienst X schrieb Toivo Klaar, der EU-Sonderbeauftragte fĂŒr den SĂŒdkaukasus und Georgien, Mitte vergangenen Jahres:

Ich freue mich, PrĂ€sident Ilham Aliyevs ErklĂ€rung bei Global Baku Forum zu lesen: ‚Jetzt ist es an der Zeit, Frieden zu schaffen, Zusammenarbeit aufzubauen‘ und nach der positiven Dynamik mit Armenien ‚zur praktischen Umsetzung ĂŒberzugehen‘. Die EU unterstĂŒtzt dies nachdrĂŒcklich.

Was das, was wir die vergangenen Tage in Bergkarabach gesehen haben, die praktische Umsetzung?
Dustin Hoffmann: Das Interessante an diesem Zitat von Aliyev ist ja, dass er auf der Konferenz Armenien auch mit Krieg gedroht hat, der EU-Sonderbeauftragte Klaar aber nur den Friedensteil herausgegriffen und gelobt hat. Das ist symptomatisch.
Die Menschen hier wissen, was das konkret bedeutet und dass solche Aussagen viel mit PR zu tun haben. Aserbaidschan setzt seit Jahren darauf, seine geopolitischen Interessen mit Gewalt durchzusetzen. In Armenien zweifelt niemand daran, dass dies auch in Zukunft so sein wird.
Die Rolle Russlands, dessen Armee mit Friedenstruppen vor Ort ist, wird in der deutschen Presse sehr kritisch bewertet. Das ZDF zum Beispiel spricht heute von einem Versagen Moskaus. Hat nur Moskau Armenien im Stich gelassen oder gibt es noch andere Akteure, die eine Mitverantwortung tragen?
Dustin Hoffmann: Zweifellos hat Russland die Situation auch ausgenutzt, um eigene Interessen zu verfolgen. Ich glaube nicht, dass Aserbaidschan diesen Angriff durchgefĂŒhrt hĂ€tte, wenn es nicht vorher grĂŒnes Licht aus Russland gegeben hĂ€tte.
Es gibt auch Berichte ĂŒber getötete russische Soldaten der Friedenstruppen. Sie waren an der Evakuierung von Zivilisten aus Ortschaften entlang der Kampflinie beteiligt.
Dass Russland darauf nicht reagiert hat, ist bemerkenswert. In Georgien 2008 hatte Russland solche Verluste zum Anlass genommen, mit harter Hand zurĂŒckzuschlagen. Und jetzt gibt es keine Reaktion? Insofern gehe ich davon aus, dass Russland informiert war.
Es ist also richtig, dass Russland hier nicht allein beteiligt ist. Es ist aber auch so, dass die EuropĂ€ische Union mehrfach FriedensgesprĂ€che organisiert hat und es wĂ€hrend und nach diesen GesprĂ€chen immer wieder zur Gewalt von aserbaidschanischer Seite gekommen ist, ohne dass das Konsequenzen gehabt hĂ€tte. BrĂŒssel reagierte dann mit dem erhobenen Zeigefinger: So, ab jetzt aber wirklich friedlich!
Das hat Aserbaidschan geradezu motiviert, Gewalt anzuwenden. Denn wenn es keine Konsequenzen gibt, wenn die wirtschaftliche Zusammenarbeit trotz Gewaltanwendung immer weiter vertieft wird, warum sollte man damit aufhören?
Nun hat Alijew den Anschluss des mehrheitlich von Armeniern bewohnten Bergkarabach angekĂŒndigt. Ist heute der letzte Tag dieses kleinen Staates?
Dustin Hoffmann: Eine Delegation von Vertretern Bergkarabachs ist offenbar auf dem Weg zu Verhandlungen. Was dabei herauskommt, kann man nicht abschĂ€tzen. Die große Sorge ist, dass Aserbaidschan dieses Gebiet von der armenischen Bevölkerung sĂ€ubern will. Es gibt keinen glaubwĂŒrdigen Mechanismus, der Aserbaidschan zur Sicherheit und Freiheit der Menschen dort verpflichtet, zumal Aserbaidschan nicht einmal der eigenen Bevölkerung volle Menschenrechte zugesteht.
Aktuell kursieren GerĂŒchte, dass Aserbaidschan den Behörden in Bergkarabach eine Liste mit Namen von Personen ĂŒbergeben hat, die sie ausliefern wollen. Es handelt sich um politische Persönlichkeiten, die am ersten Krieg beteiligt waren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Aserbaidschan jetzt von seiner Strategie, die Menschen dort zu demĂŒtigen, abrĂŒckt. Ich glaube, dass die meisten Bewohner Bergkarabach verlassen werden. Und das ist meines Erachtens das erklĂ€rte Ziel Aserbaidschans.
Was sollten Berlin und BrĂŒssel also tun?
Dustin Hoffmann: Bisher wirken die Einlassungen des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und des Sonderbeauftragten Toivo Klaar eher wie Realsatire. Dabei stehen den Menschen in Bergkarabach die schlimmsten Stunden bevor, ethnische Vertreibungen sind möglich, ein Genozid nicht ausgeschlossen.
Die Bundesregierung sollte sich jetzt entschieden fĂŒr Sanktionen einsetzen, die EuropĂ€ische Union ebenso. Wir mĂŒssen unbedingt den Gasvertrag mit Aserbaidschan aufkĂŒndigen. Aserbaidschan muss wirtschaftliche Konsequenzen spĂŒren.
Wir können nicht rĂŒckgĂ€ngig machen, was vorgefallen ist. Aber wir mĂŒssen jetzt dafĂŒr sorgen, dass es dort nicht zu Massakern an der Zivilbevölkerung kommt. Dass die Menschen, die das wollen, dort sicher herauskommen.
Und ĂŒbrigens auch, dass das armenische Kulturerbe in der Region, wo sich einige der Ă€ltesten christlichen KulturdenkmĂ€ler der Menschheit befinden, geschĂŒtzt wird. NatĂŒrlich sehen wir gerade das Elend der Menschen, deshalb geraten solche Fragen schnell in Vergessenheit. Aber Tatsache ist, dass ĂŒberall dort, wo Aserbaidschan die Kontrolle hat, armenische KulturgĂŒter verschwunden sind.

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