Krieg und Frieden: In einer kleinen Stadt

Friedensdemonstration in Freiburg am 4.2.2023. Bild: Gerhard Hanloser

Eine Reportage über einen lokalen Aufzug neuer Friedensbewegter in Freiburg im Breisgau, die Agonie der alten Friedensbewegung und das "woke" Einigeln der linken Szene.

Freiburg im Breisgau, am Samstag, dem 4. Februar. Kleine Aufkleber mit Friedenstauben hatten im Innenstadtbereich auf die Demonstration aufmerksam gemacht. "Es reicht! Friedensverhandlungen jetzt!" steht auf ihnen. Am Platz der Alten Synagoge will man sich versammeln.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die alte traditionsreiche Friedensbewegung mobil macht. Sie hat in Freiburg und Umgebung eine lange Tradition. Hier gibt es das 1995 gegründete Freiburger Friedensforum, das vor allem nach dem 11. September 2001 und den daraus folgenden US-"Kriegen gegen den Terror" mobilisierte und gut besuchte Veranstaltungen ausrichtete.

Das Rüstungsinformationsbüro müsste genannt werden, aktivistische GEW-Gruppen und auch einige wichtige prominente Einzelstimmen wie der im Dezember letzten Jahres verstorbene Manfred Messerschmidt vom Militärhistorischen Institut als Begründer der kritischen Militärgeschichte. Wie er gilt auch der Historiker und Friedensforscher Wolfram Wette als eine wichtige militärkritische Stimme der Region.

Doch bei einem genaueren Blick fällt schon die militante Diktion des Aufklebers auf, die Friedenstauben sind eine etwas dynamischere Variation der alten klassischen Friedenstaube der 1980er-Jahre – und vor allem: als Aufrufer fungiert eine Organisation namens FreiSein Freiburg. Vor zwei Jahren schaffte es diese Gruppe bis zu 7.500 Teilnehmer auf Demos gegen die Corona-Maßnahmen zusammenzutrommeln. In der Badischen Zeitung wurde dieser Gruppe "wilde Demokonzepte", "Eskalationen" und "Konfrontationen mit den Behörden" beschieden.

Das kennt man eher aus der Zeit der Häuserkämpfe oder der Bewegungen für ein Autonomes Jugendzentrum in den 1980er- und 90er-Jahren. Und wie die damalige linke Szene skandierte und es mit Sprühdosen kundtat, ist man sich heute in der politisch diffusen maßnahmenkritischen Bewegung sicher: "BZ lügt!"

Friedensdemonstration in Freiburg am 4.2.2023 (5 Bilder)

Bild: Gerhard Hanloser

In diesem Geiste und mit dieser Massage fand vor zwei Jahren auch eine kleine Kundgebung vor dem traditionsreichen Lokalblatt statt, um die "einseitige" und "diffamierende" Coronaberichterstattung zu kritisieren. Diese damaligen Demonstrationen zu Corona seien allerdings schnell auf einen harten Kern von 600 Leuten zusammengeschrumpft, erklärte mir ein Vertreter der örtlichen antifaschistischen Szene. Allerdings wären unterschiedliche Aktionsformen gewählt worden, wie Autokorsos oder beständige Wochenendspaziergänge durch die Innenstadt.

Linke Einzelpersonen aus politischen Wohnprojekten, Antifas, der antifaschistische Motorradclub "Kuhle Wampe" und andere hatten gegen diese Demonstrationen mobilisiert.

Nun also Frieden, nicht mehr Corona. Auf dem Platz der alten Synagoge sind Schilder ausgebreitet. Auf ihnen steht "Blind gehorchen? Nie wieder!", "Wer schweigt, macht mit!", "Aufklärung statt Kriegspropaganda", "Protestieren statt frieren", "Wir zusammen ohne Lügen, ohne Lobby, ohne Korruption!" und auch der schlichte Hinweis "reitschuster.de" auf ein unter Gegnern der Corona-Maßnahmen beliebtes online-Medium.

In einem großen Zelt liegen hohe Stapel des "Demokratischen Widerstand", der in Berlin beheimateten Zeitung der gegen die Corona-Maßnahmen gerichteten Bewegung rund um Anselm Lenz, die sich zur "Freiheitsbewegung" stilisiert, einen inflationären Faschismusbegriff nutzt und sich gleichzeitig nicht scheut, Rechtsradikalen ein Forum zu bieten.

Ich spreche ein paar Sätze in mein Smartphone, um mich besser erinnern zu können, und filme einige Szenen der Demonstration auf dem Platz der Alten Synagoge ab. Prompt werde ich als Vertreter des örtlichen alternativen Senders Radio Dreyeckland ausgemacht, der erst vor kurzem Besuch vom Staatsschutz bekam.

Ein großer, recht forsch auftretender Demoverantwortlicher spricht mich an, sucht die konfrontative Diskussion. Woher ich käme, politisch. Aha, ein Linker. In schnellen Wendungen landet er bei einer Diskussion über den Faschismus- und Nazi-Begriff.

Faschismus sei eine Methode der Propaganda, die Maßnahmen, er meint jene gegen Corona, seien faschistisch gewesen. Wer jedoch bei Demonstrationen beispielsweise im August 2020 Nazis auf der Straße gesehen hätte, irre sich. Reichsfahnen dürfe man nicht überbewerten, sie stünden nur für ein paar Leute, die ihren Wilhelm wieder haben wollten. Eine Diskussion mit dem Mann ist schwer, er unterbricht ständig, hat eine durchgehend arrogant-belehrende Haltung, ist im Grunde desinteressiert am Gegenüber und unterstellt Dinge, die gar nicht im Gespräch gesagt wurden.

Er kommt mir vor wie der Prototyp des von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey diagnostizierten autoritären Libertären, hart am Rande des Typus des "Spinners", wie die beiden unter Rückgriff auf Adornos Persönlichkeitsanalysen des autoritären Charakters eine Unterform der aktuellen autoritären Rebellen, die voller projektiver und ressentimentgeladener Wut sind, nennen. Beim wenig freundlichen Verabschieden erklärt er noch, er wäre ein Vertreter der Partei DieBasis.

Eine Frau meines Alters hat unseren Schlagabtausch interessiert verfolgt, wendet sich an mich: "Ja, der wollte dich nur platt machen und an die Wand reden." Sie komme aus Hamburg, sei dort jahrelang in der Linken gewesen, die Rechten hier wären ihr auch ein Graus, sie fände aber keinen Anschluss, ob ich ihr nicht helfen könne, mit Gruppen, Namen oder Adressen. Leider nein, schließlich wohne und leben ich seit zehn Jahren in Berlin.

Ich laufe weiter über den Platz, der sich so langsam füllt. Zwei junge Männer haben sich Fahnen über den Rücken gezogen: "Freiburg – Studenten stehen auf" steht auf der einen, auf der anderen ist nur ein lila Fischsymbol, wie man es aus der protestantischen Szene kennt. Eine sympathische mittelalte Frau zeigt mir lachend das Schild "Diplomaten statt Granaten!".

Eine etwa 60-jährige Frau am Rande des Platzes trägt ein riesiges selbstgebasteltes Körperschild. Neben Kriegsbildern und einem Bild von Michail Gorbatschow steht "Wir 24 Mio russl. Deutsche: nein". Wenn man genau hinschaut, steht neben Gorbatschow die Jahreszahl "1990" und die Anklage "Zerstörer". Ein Bild des Rotarmisten, der die rote Fahne auf dem Reichstag hisst, ist mit der Aufforderung "Nie vergessen" versehen.

Die Jahreszahlen 2014 bis 2023 stehen neben dem Kurzkommentar SOS. Bilder von Leichen. Man braucht keine große Phantasie zu haben, nur etwas Vorwissen, um anzunehmen, dass dies Bilder aus der Ostukraine sind, wo seit 2014 ein im Westen gerne übersehener lokaler Krieg tobte. Die Frau klagt, man zerstöre ihre Heimat, die Nato betreibe dies.

Es ist ein Leichtes, sich über diese Person und ihre demonstrative Agitation lustig zu machen. Besonders geübt sind darin Spiegel-Reporter, für die diese Frau ein gefundenes Fressen wäre. In einer Gesellschaft, die viel auf "Empathie" hält, wäre es interessanter und müsste doch ebenfalls leicht sein, sich über diese fremd und unanständig anmutende Perzeption des Ukraine-Krieges Gedanken zu machen.

Dafür müsste man es allerdings wagen, von der eigenen, sehr westlichen Narration der Genese des Krieges wenigstens mal kurz abzurücken; eine Narration, die überall, beispielsweise auch im Freiburger Thalia-Büchertempelpräsent ist, wo eine ganze Wand dem autoritär-totalitären Putin-Russland in Form von Publikationen gewidmet ist.

Das zentrale Fronttransparent fordert Friedensverhandlungen und schlägt hippieske Töne an: "Wir sind eine Menschheitsfamilie". Eine Rollstuhlfahrerin mit großem Trommelgefährt rückt an, eine gigantische Friedenstaubenfahne schwenkend. Sie ist offensichtlich hier gut bekannt, wird freudig begrüßt. Wer Toleranz und Achtsamkeit schätzt: im Umgang mit dieser Frau ist sie von Seiten der Demonstranten mehr als vorhanden.

Die akademische Linke beklagt gerne im Geiste der moralischen Identitätspolitik einen gesellschaftlichen "Ableismus", diese Frau scheint hier als Mitstreiterin für die gerechte Sache gewürdigt und geschätzt und keinesfalls nur auf ihre Behinderung reduziert zu werden.

Diese Demonstration, so schießt es mir durch den Kopf, scheint offener und integrativer zu sein als so manche linke Szenekundgebung. Recht weiblich ist die Demo auch zusammengesetzt, allerdings liegt das Durchschnittsalter deutlich über jenem der anderen Demonstrationen in Freiburg, seien es jene für die Verkehrswende oder die jüngste gegen die staatliche Repression gegen Radio Dreyeckland.

Zwei Frauen in quietschbunten Mänteln haben eigene Plakate mitgebracht "Hinterfrage alles" steht auf dem einen "Raus aus der Nato. Frieden mit Russland" auf dem anderen. Ein Mitte 50-Jähriger ist mit einer Russlandfahne angerückt, ich spreche ihn an, warum er diese trage. Er wolle nur im Geiste der Ostpolitik Verhandlungen und Wandel durch Annäherung, sagt er. Seine Antwort ist sehr glatt. In seiner freien Hand hat er mehrere Prospekte und Flyer des rechtsradikalen Magazins Compact von Jürgen Elsässer.

Ich konfrontiere ihn damit, dass er ja offensichtlich rechte Propaganda verteilt, die mit der Ostpolitik der SPD wenig gemein haben dürfte. Er wiegelt ab, Elsässer werde in die rechte Ecke gedrängt, es gehe doch nur um Verhandlungen. Eine Deutschlandfahne taucht auf, eine andere ist in Himmelblau gehalten und trägt die Parole "Unser Land zuerst". Parteifahnen sind nicht zu sehen.

Ich entdecke am Rand alte Bekannte und Freunde meiner Eltern, es sind Vertreter der 80er Jahre Friedensbewegung, die urgrün, linkssozialdemokratisch oder parteikommunistisch geprägt war. Wir freuen uns, uns zu begegnen. Schnell bin ich mir mit den alten Friedensfreunden einig: Diese Veranstaltung ist mindestens obskurantistisch, die eigenen friedenspolitischen und pazifistischen Parolen wie "Frieden schaffen ohne Waffen" seien offensichtlich einem anderen Milieu zugefallen.

Ein Hauch von Niedergeschlagenheit hängt über unserem kurzen Gespräch. Wie ich seien sie auch bloß teilnehmende Beobachter. Wenn das Friedensforum Freiburg oder eine andere klar links positionierte Gruppierung zu einer Friedensdemonstration aufrufen würde, kämen nur eine Handvoll Leute, wird mir erklärt. Es sei verheerend, dass bundesweit jede Friedenskundgebung schnell in den Ruf gerate, "rechtsoffen" zu sein.

Auch wenn böse Zungen der Friedensbewegung 1980er-Jahre bereits damals "Antiamerikanismus" unterstellten und die haltlose Diagnose des Polemikers Wolfgang Pohrt, die Friedensbewegung sei eine "deutsch-nationale Erweckungsbewegung" besonders bei Nato-Apologeten und Atlantikern gut ankam und bis heute kolportiert wird, müsste man doch daran erinnern, dass die alte Friedensbewegung hegemonial links war.

Sie folgte einem konkreten Humanismus, kombinierte Friedenssehnsucht mit der Forderung nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, reaktivierte die im NS-Faschismus als undeutsch markierten Tugenden des Pazifismus und Antimilitarismus.

Und auch wenn sich einige rechte oder deutschtümelnde Kräfte unter die Hunderttausende umfassende Bewegung gemischt hatten, sie wurden von Linkssozialdemokraten, Kommunisten, engagierten, weltoffenen Christen – sprich einem breiten humanistischen Spektrum von linken Citoyens –schlicht an den Rand gedrückt. Das ist jetzt anders. War die alte Friedensbewegung klassenmäßig von Bildungsbürgertum dominiert, so ist die "neue Friedensbewegung" kleinbürgerlich mit deutlichen Ausfransungen in ein prekäres, dank Hartz-IV armes und sozial randständiges Milieu.

Ein Bekannter, dem ich den Charakter der Demo und diese Begegnung mit den gemeinsamen linken, etwas verzweifelten Friedensfreunden per Telegram-Nachricht schildere, schreibt mir prompt zurück: "Die Anti-Kriegsparolen bleiben unsere Parolen. Anders als nach 1918 fordern Rechte heute nicht zum Krieg auf. Das haben Liberale und ehemalige Linke und halbe Sozialdemokraten von SPD-FDP-Grünen einvernehmlich übernommen. Und nur deshalb wird es schwer. Nur deshalb!"

Die (historische) Linke, zu der man Grüne und SPD wohl noch zählen muss, ebenso wie den DGB, hat sich mehrheitlich und zuweilen mit wehenden Fahnen ins bellizistische und ungebrochen pro-westliche Lager verabschiedet. So muss man sich kaum wundern, dass die "Spinner" zurückbleiben und wie hässlicher Strandmüll nach der Bewegungsflut in der Ebbe sichtbar werden. Auch die linksradikale Szene, die beispielsweise noch in den 80er Jahren zu Reagan-Besuch und Rekrutenvereinigung antiimperialistisch und antimilitaristisch agierte – und immer am Rande der Friedensbewegung, nie ohne Spannungen, anzutreffen war, hat sich transformiert.

Vornehmlich sucht man in diesem Milieu nach dem Bösen und dem Nazi, wie bereits zu Zeiten der Coronademonstrationen. Ich blicke mich um, Gegendemonstranten wie noch zu Coronazeiten sind nicht zu erblicken. Medienvertreter sind nur wenige anwesend.

Der SWR wird einen kleinen Bericht bringen, der überschrieben ist mit "Solidarität mit Russland bei 'Friedensdemonstration' in Freiburg", am Montag sucht man vergeblich in der Badischen Zeitung einen Bericht über die Demonstration, die immerhin 500 Leute auf die Straße brachte. Von Radio Dreyeckland ist auch kein rasender Reporter, besser: keine rasende Reporter:in anwesend. Stattdessen werde ich von einigen Demonstranten für einen solchen gehalten.

Ich laufe auf eine Kleingruppe von mittelalten Männern mit Bärten und Tarnjacken zu – und wiederhole die Frage, die ich etlichen hier stelle: "Die klassische Friedensbewegung – gerade hier in Freiburg – war mehrheitlich links. Wo würden Sie sich auf dem politischen Spektrum verorten?" Als Antwort kriege ich nur zu hören: "Die Freiheit! Wir sind für die Freiheit!" Rechts? AfD? Nein, damit habe man nichts zu tun.

Merkwürdig nur, dass just während des Gesprächs ein anderer aus der Gruppe hektisch versucht, einen eindeutig rechts-souveränistischen Spruch, wonach wir nur Vasallen der USA seien, mit einem Pappschild abzudecken.

Ein kleiner Mann mit Zylinder und Daunenjacke, der das Schild "Heute Waffen – morgen Panzer – übermorgen Deine Söhne" trägt, eilt dazu, deutet mit dem Daumen auf mich und erklärt im breitesten Badisch: "Radio Dre'ckland. De' isch vo' Radio Dre'ckland". Höflich und wahrheitsgemäß erkläre ich, dass ich vor zehn Jahren aufgehört habe, für Dreyeckland zu senden. Die Männer nehmen es auch achselzuckend hin, bedrängt werde ich nicht, die Stimmung aggressiv zu nennen, wäre lächerlich.

Als ich vor knapp dreißig Jahren als Redakteur im sogenannten Tagesinfo von Radio Dreyeckland anfing, dezidiert von links unten Nachrichten zu produzieren und wir dem Konzept der "Gegenöffentlichkeit" verpflichtet waren, wurde mir von dem schon länger verstorbenen älteren Radio-Redakteur Martin Höxtermann aufgetragen: "Wir haben Aufnahmegeräte – geh auf die Straße und fang Stimmen ein!"

Das war damals eine leichte Übung, die Straße und der Protest waren links, antifaschistisch, subkulturell. Die Stimmung wie die bei Demonstrationen einzusammelnden Stimmen passten zu der Weltanschauung, die das Radio pflegte. Radio Dreyeckland hatte sich aus dem illegalen Anti-Atom-Radio "Verte Fessenheim" entwickelt, das sich 1977 gegründet hatte.

Bis 1988 war Radio Dreyeckland (RDL) ein linker bis linksradikaler Piratensender, stark verbunden mit den damaligen sozialen Bewegungen wie dem Häuserkampf. Dann konnte es sich als nichtkommerzielles Radio legalisieren. Noch in meiner aktiven Radiozeit Anfang der 1990er-Jahre war man von einem prinzipiellen Gegenöffentlichkeits-Optimismus geprägt, dass "die Straße" die Wahrheit sage. Ein alter Radiojingle aus den 1980er-Jahren verkündete in breitem Badisch: "Määnschen spräächen machen..."

Darin folgte RDL auch anderen Freien-Radios und alternativen Radiokonzepten, wie sie beispielsweise in Italien in operaistischen und mit der Autonomia-Bewegung verbundenen Sendern praktiziert wurden. Linke und marxistische Fabrikaktivisten versuchten mit Fragebögen im Gespräch mit ihren Arbeitskollegen hinter den Fabrikalltag zu blicken, um die Struktur der Ausbeutung zu verstehen und im kommunikativen Prozess von Angesicht zu Angesicht zu kämpferischen "Arbeitergenossen" zu werden.

Denn das Gespräch über den Arbeitsalltag sollte bewusstseinsfördernd und ideologiehemmend oder -abstreifend wirken. Analog zu dieser Vorstellung sollte auch das gemeinsame Erstellen von Sendungen, die freie Rede ins Mikrophon, das offene Gespräch ohne Hierarchie kritische Erkenntnisprozesse fördern.

Mit dem ersten Antisemitismusstreit 1991 anlässlich des Golfkriegs, als intern und von außen antiimperialistische Redakteure unter starken Beschuss kamen, setzte sich im Radio immer mehr eine Skepsis gegenüber diesen populären linken Strategien durch. An der ein oder anderen Stelle tauchten elitär-ideologiekritische Sendungen und Formate auf. In den letzten Jahren unterscheidet sich das freie Radio weder handwerklich, also in der Form, noch inhaltlich von anderen Sendern. Es geht nur etwas dilettantischer zu.

Radio Dreyeckland ist unter den Coronademonstranten und der maßnahmenkritischen Szene ein rotes Tuch. Mit gutem Grund. Als "Schwurbler", Verschwörungstheoretiker und Nazis tauchen sie schließlich in Sendungen des ältesten freien Radios Deutschlands auf. Und in diesen Markierungen unterscheidet sich RDL auch nicht von den lange Jahre viel gescholtenen "Mainstreammedien".

Im Radioarchiv gibt es auch kein Feature, keine Reportage, die Stimmen von den Demonstrationen hätten präsentieren können. Kritik an den in Baden-Württemberg besonders harschen Lockdownmaßnahmen, die bis zu einer Ausgangssperre führten, konnte man beim linken Sender vergeblich suchen. Man habe erst vor kurzem, so erklärt mir ein Freund, der eine Musiksendung bei RDL macht, den Kanon der "Antis", also das Sendungsstatut, das eine Art der inhaltlich-politischen Selbstverpflichtung darstellt, um das "Antiverschwörungsideologisch" erweitert.

Ein anderes Anti dahingegen drohe immer weiter aufgeweicht zu werden: der Antimilitarismus. So sorgte ein recht aufschlussreiches Interview mit dem pazifistischen Sprecher des Rüstungsinformationsbüros und Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner:innen (DFG-VK) Jürgen Grässlin für Kontroversen und einige Aufregung. Der das Gespräch moderierende Redakteur, der seit einigen Jahren eine bezahlte Stelle beim meist auf Ehrenamt beruhenden Radio inne hat, hat eine klare Agenda. Nichts neues für einen linken Sender.

Zu Coronazeiten hatte er sich für harte Seuchenbekämpfung und eine ZeroCovid-Strategie ausgesprochen, gleichzeitig war er recht schnell dabei, Maßnahmengegner unisono zu "Rechten" zu erklären. Er führte mit Grässlin eine Art Gespräch, wozu auch wir uns damals als aktive RedakteurInnen immer gegenseitig anhielten: bitte kein Gefälligkeitsinterview! Kritik auch an Gesinnungsgenoss:innen! Allerdings unterstellte der Interviewende dem konzise und geduldig antwortenden Grässlin, seine antimilitaristische Position toleriere eine russische Politik, die Menschen töte und in Lager sperre.

Der Redakteur ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Waffen zu liefern nicht nur politisch geboten, sondern die einzig richtige moralische Haltung sei.

Mit einiger Verwunderung nehmen so auch ältere politische Akteure aus Freiburg die jüngsten Staatsschutzdurchsuchungen vom 17. Januar diesen Jahres bei dem alternativen Sender wahr, wie ich die nächsten Tage erfahren sollte. Einige Tage später erzählt mir ein im Musikbereich aktiver Radioaktiver, dass einflussreiche Redakteure im Sender für Waffenlieferungen optieren, der Grässlin interviewende Redakteur also kein Ausnahme darstelle.

Die Staatsfeinde von einst seien doch bereits während der Coronapandemie mehr als angepasst gewesen. Tatsächlich stoße ich bei einem Spontanbesuch des Radios auf durchgehend masketragende Redakteurinnen. Dass es um mehr als um Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz geht, ist schnell zu merken. Der Ton zur Begrüßung ist spitz, obwohl ich mir schnell und artig eine Maske überziehe: Die Maske ist hier ein Zeichen, auf der guten und solidarischen Seite zu stehen.

Dies bezieht sich offensichtlich nicht nur auf Pandemie-Maßnahmen und Waffenlieferungen. Ein anderer alter Freund, der unlängst einen Moderations-Workshop bei RDL besuchte, sollte sich in der Vorstellungsrunde mit Pronomen vorstellen, erzählte er mir beim Bier. Als Naturwissenschaftler wusste er gar nicht, was das soll. Das Radio, so könnte man meinen, ist "woke" geworden, wie viele der übriggebliebenen linken Strukturen in der Stadt.

Kritische politische Analyse, Konfrontationsbereitschaft mit den Herrschenden und Lust an Debatte und politischem Streit wurde ersetzt durch die vermeintlich richtige Moral. Was ist an Radio Dreyeckland denn noch so gefährlich, fragen sich hinter vorgehaltener Hand einige ältere Semester aus der früher recht agilen linken Szene. Dennoch müsse man gegen diesen repressiven Akt der Staatsanwaltschaft aus Karlsruhe solidarisch sein.

Das Ermittlungsverfahren, das zur Hausdurchsuchung geführt habe, sei von einer wahnhaften anti-linken Haltung geprägt, das Kopieren von Adressen von RDL-Mitgliedern und -Hörerinnen ein eklatanter Verstoß gegen den Datenschutz. Trotzdem: RDL müsse an seine linke und subversive Geschichte erinnert werden.

Als ich die Kundgebung verlasse, höre ich im Hintergrund eine live dargebotene Version eines bekannten Bob Dylan-Stücks. Man könnte es sich einfach machen und die Demonstration als Querfrontveranstaltung der rechtsoffenen "Schwurbler" etikettieren. RDL würde das senden, die Badische Zeitung ebenso wie SWR.

Tatsächlich ist ja auch hier und an diesem Tag die Friedensforderung von Rechten, Verwirrten und Obskurantisten gehijackt worden. Verzweifelte und Suchende gesellten sich dazu. Doch dies ist nur ein Teil des viel größeren Dramas, das zu analysieren und abzuwenden der Mehrheit einer selbstzufriedenen und angepassten Milieu-Linken offensichtlich nicht gelingt.